Egon Erwin Kisch
Abenteuer in fünf Kontinenten
Egon Erwin Kisch

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Dear Charlie Chaplin
(1938)

Schrecklich viel Zeit ist vergangen seit unseren Hollywooder Tagen. Damals ließen Sie mir Ihre alten Filme vorführen, so weit ich sie nicht kannte, und forschten in meinen Augen nach dem Urteil – durch den Beifall von Millionen hatten Sie den Zweifel nicht verloren, den der echte Künstler in sein eigenes Können setzt. Wann immer eine besondere Szene begann, legten Sie Ihre Hand auf mein Knie, um mich vorzubereiten, mir zu sagen, wie wichtig Ihnen das nun sich Abspielende sei. Dann zeigten Sie mir, was von »City Lights« schon fertig war, und Ihr Auge verließ das meine nicht, Ihre Hand nicht mein Knie.

Seither ist schrecklich viel Zeit vergangen, schrecklich viel schreckliche Zeit. Ihr kleiner Schnurrbart, Ausdrucksmittel für Kläglichkeit und Lächerlichkeit, ist führerreif geworden, und während Sie beim stummen Film blieben, hat Ihr übler Kopist mit seinem schreienden, mißtönenden, endlosen Tonfilm Karriere gemacht . . .

Ja, Charlie, es ist zum Kotzen. Bei euch zulande ist es ja bei weitem nicht so schlimm wie in Deutschland, aber auch das Paradies Amerika, über das wir damals diskutierten, hat sich seither gründlich verändert. Und Sie, der Sie damals die Prosperity-Times nicht dorthin rollen sehen wollten, wohin sie unaufhaltsam rollten, Sie, Charlie, sind ein gutes Stück vorwärtsgegangen.

Gestern habe ich Ihre »Modern Times« gesehen und, ohne daß Sie mein Knie drückten und ohne daß Ihre Augen nach Kritik forschten, will ich Ihnen mein Urteil sagen, meinen Einwand gegen Ihren Film: zu 284 kurz ist er. Sechsmal, achtmal so lang möchte man atemlos dasitzen, die Atemlosigkeit nur durch das Lächeln und Weinen des Entzückens unterbrechend.

Ich sehe Sie zufrieden skeptisch nicken und höre Sie die Frage stellen, welcher »gag« mir am besten gefiel.

Nun, es ist nicht leicht, die Wahl zu treffen. Da ist zum Beispiel die Fütterungsmaschine, die den Arbeiter, damit er mit dem Essen nicht viel Zeit verbringe, die Bissen in den Schlund schiebt und ihm sogar nach jedem Gang den Mund abwischt. Ein paarmal klappt es nicht, der Suppenteller klatscht Ihnen ins Gesicht, oder statt eines Stücks Fleisch schiebt sich Ihnen ein Maschinenbestandteil in den Mund, aber mit maschineller Sicherheit kommt der Mundabwischhebel und tut sein Werk. Das ist ein guter gag.

Es ist auch ein guter gag, wie Sie im stolzen Badeanzug mit kühnem Kopfsprung in den See springen und an der Oberfläche des Wassers liegenbleiben, denn das erweist sich als nur fünf Zentimeter tief. Dennoch hängen Sie nachher den Badeanzug liebevoll zum Trocknen auf, als hätten Sie mit ihm einen weiten See durchschwommen.

Als Kellner vergessen Sie niemals, in den zu servierenden Käse die drei Löcher zu bohren, durch die er zum Emmentaler wird. Die ins Gasthaus kommenden Fußballer nehmen Ihnen eine Ente vom Serviertablett, aber Sie, Charlie, erobern die Ente in einem Wettspiel nach allen Regeln von Rugby wieder. Im fünften Stock eines nächtlichen Warenhauses fahren Sie Rollschuh und ahnen nicht, daß Sie hart am ungeschützten Rand des Lichthofes balancieren, – erst da Sie's erfahren, vom Abgrund weggerissen sind, taumeln Sie aus verspätetem Entsetzen wieder an den Rand und stürzten beinahe hinab. Das sind alles Einfälle, die man nicht vergessen wird.

Dann sind Sie als Sänger engagiert und haben den Text des Liedes auf Ihre Manschette geschrieben. O weh, die Manschette fliegt davon! Nur keine Bange, 285 Charlie, in den Modern Times hat der den größten Erfolg, der mit viel Lärm und viel Bewegung sinnloses Zeug redet, und so helfen Sie sich denn mit unverständlichen Worten. Sie begleiten sie mit geheimnisvollen und scheinbar bedeutsamen Gesten und das Publikum klatscht Beifall, um nicht zu verraten, daß es keinen Deut begriff.

Und weitere gags?

Nein, bei diesem Film kommt es wirklich nicht auf die gags an. Bei diesem Film kommt es nicht einmal auf den Helden des Films, auf Charlie Chaplin an, sondern auf den Titelhelden: die moderne Zeit. Wie haben Sie die gestaltet und entlarvt mit deren eigenen gags: Rationalisierung und Arbeitslosigkeit.

Ihr Chef ist der Allmächtige, Allgegenwärtige und Allwissende im Direktionszimmer, der durch Television jedes Winkelchen des Betriebs sehen und durch den Druck auf einen Knopf überall in Bild und Wort auftauchen kann. Als Sie, armer Chaplin, sich auf dem Klosett eine Zigarette anzünden wollen, erscheint groß und fürchterlich der Direktor an der Wand, um Sie anzuschreien.

Was man sonst von der Arbeit des Direktors sieht, ist, daß er sich von einer bildhübschen Sekretärin ein Glas Wasser reichen, daß er sich die Erfindung des Abspeiseapparats vorführen läßt und von Zeit zu Zeit der Kraftzentrale den Befehl gibt, das Tempo des laufenden Bands zu beschleunigen.

Diesem Herrn der Modern Times stehen Untertanen gegenüber, die, wie ein Trupp zur Schlachtbank strömender Schafe, dem Tor der wahnsinnig rationalisierten Fabrik zueilen. Bald muß der eine ins Irrenhaus gebracht werden, andere werden arbeitslos und hungern, werden aus Hunger zu Einbrechern, werden bei Demonstrationen auseinandergeprügelt, verhaftet oder erschossen.

Über diesen Jammer der modernen Zeit lassen Sie das Fähnchen Ihres Humors flattern, als hätten sie es zufällig auf der Straße aufgelesen. Gewiß, man 286 lacht, aber man versteht schon . . . Es ist ein prachtvoller Film, Charlie, und ein soziales Kunstwerk.

Am Ende aller Ihrer früheren Filme sah man Sie resigniert die Achsel zucken und, Ihr Stöckchen wirbelnd, mutterseelenallein ins Ausweglose von dannen watscheln. Auch diesmal ziehen Sie davon, aber anders als sonst: Ihre Freundin ist es, die verzweifeln wollte, aber Sie haben ihr das ausgeredet, Sie haben ihr Mut zugeredet, Sie haben ihr von der Pflicht zur Zukunft geredet, und mit ihr, also nicht allein, gehen Sie den Weg weiter. Das ist der Unterschied. Das nächstemal werden Sie nicht zu zweit sein, wenn wir Sie recht verstanden haben, sondern mit vielen.

Als Ihr Film zu Ende war, fiel beim ersten Schritt aus dem Théatre Marigny mein Blick auf das Haus, in dem der Mann starb, dessen Gedichte Sie mir in Hollywood rezitierten. Hier oben starb er, einer, der auch ein Ritter des Humors und der Gerechtigkeit war. Hier oben starb Heinrich Heine, er starb im Exil und man hat ihn seither in seiner Heimat oft getötet. Aber er lebt noch immer und wird sein Happy-End erleben, wie Sie, Charlie Chaplin, in einem Film künftiger »Modern Times«.

Ich grüße Sie in alter Liebe,

Ihr              
Egon Erwin Kisch 287
 


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