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Die alte Seilern machte in einer Laube ihres schönen Obstgartens den Kaffeetisch zurecht. Sie stellte die Tassen und eine große Kaffeekruke auf den Tisch und einen Teller voll Streußelkuchen daneben. Dann setzte sie sich in die Laube, sah in ihren Obstgarten hinaus und dachte, bis die beiden anderen alten Weiber kamen, über ihr Leben nach. Sie bohrte mit etwas zitternder Hand die Streußelkügelchen von den Kuchenstücken und steckte sie einzeln in den Mund. Nach einem Weilchen bemerkte sie, daß dadurch auf einem Kuchen leere Stellen entstanden. Deshalb nahm sie von den anderen Stücken einzelne Kügelchen weg, legte sie säuberlich auf die kahle Stelle, damit die Gäste nichts merkten, und guckte sich verstohlen um, ob man sie nicht aus den Nachbargärten etwa beobachte.
Sie schaute in ihren Obstgarten hinaus, wo die Kirschen schon in roten Glöckchen sommerlich reifend im Schatten der Blätter hingen und einzelne Vögel noch zwitscherten. Sie empfand wieder einmal mit angenehmem Gruseln, daß sie nun schon die zweite Hälfte der achtziger Lebensjahre hinter 604 sich hatte. Das war ihr Stolz. Und sie hoffte, neunzig und hundert erreichen zu können. Denn wenn sie auch ein wenig mit der Hand zitterte beim Kuchennaschen, so war sie doch noch fest im Geist, wie sie meinte, konnte der Portierfrau mit lauter Stimme, die man durch den ganzen Garten hörte, befehlen und die Mieter ihres Hauses in Ordnung halten, sodaß die Frauen und Dienstmädchen in trockener Sommerszeit nicht zu viel Wasser aus der Wasserleitung verschwendeten, was ihr ein Greuel war.
Wie war doch das Leben so sonderbar lang und kurz zugleich gewesen! Fast seit dreißig Jahren hauste sie hier im Vorort als Villenbesitzerin, die selbst mit ein paar Zimmern im Gartenhäuschen fürlieb nahm und vom Mietertrag der Villa lebte. Offiziere, Künstler, Geschäftsleute hatten da gewohnt und die schönen Lauben des großen Gartens benutzt, an Sonntagen mit geputzten Damen und Kindern ihre Frühlingsfeste da gefeiert und Maibowlen getrunken. Sie waren gekommen und wieder ausgezogen, je nachdem Beruf und Schicksal es mit sich gebracht. Sie war selbst schon eine ältere Frau gewesen, als ihr Mann nach dem großen Kriege billig das Land kaufte und die Villa baute; eine starke Fünfzigerin, für die damals schon die schönen Zeiten der Liebe und des Scherzes mit den Männern in weiter Ferne der Vergangenheit lagen. Und sie hatte doch die Männer immer gern gehabt und mit siebzig Jahren sogar noch einmal flüchtig 605 ans Heiraten gedacht. Denn einst, als die Leute noch in Altberlin in engen Hosen und Vatermördern gingen, war sie eine lustige Kellnerin gewesen, die nichts dagegen hatte, wenn ein schmucker Soldat sie einmal beim Kinn nahm und in der Stehseidelstube zwischen Bier und Rauch sich einen Kuß stahl. Das hatte sie immer gern gehabt. Und als sie in der Zeit, da »Unter den Linden« das Denkmal des Alten Fritz ausgerichtet wurde, eine ehrbare Bierwirtsgattin und Stehseidelstubenbesitzerin geworden war, später aber auch ein größeres Gasthaus mit ihrem Manne gehabt hatte, waren auch viele muntere Gesellen mit netten, lustigen Mädchen in ihrem Schutze eingekehrt und sie hatte sich immer daran gefreut, daß die Männer so hübsch mit den Mädchen umzugehen wußten. Das waren die Zeiten gewesen, wo in Berlin geschossen wurde und die Leute vors Schloß zogen; um 1848. Und dann dachte sie an Zeiten, wo sie selbst eine große Krinoline getragen hatte und auf der Friedrichstraße allmählig größere Häuser entstanden und die alten, großen Gärten dort immer mehr zugebaut und mit Hinterhäusern vollgestopft wurden. Damals hatte sie sich schon an den König, den Mann der Königin Luise, mit Wehmut erinnert, weil er ein so schmucker Mann gewesen war und ihr vom Pferde einen Blick zugeworfen hatte, als er einmal an der Stehseidelstube vorbeiritt. Und dann war sein älterer Sohn König gewesen; wonach dann die Zeiten Bismarcks kamen. Sie hatte zwar immer gesagt, daß sie den 606 Kaiser Wilhelm überleben werde. Das war ja auch eingetroffen; daß aber Moltke und Bismarck auch wegschwinden sollten, war ihr doch nun wie ein Traum geworden. Ihr Mann war gestorben, nachdem sie einige Jahre die Villa selbst bewohnt und vermietet hatten. Denn die Gastwirtschaft in Berlin war ja gut gegangen und so konnten sie sich die Villa gönnen. Ihre Kinder waren auch tot; nur Enkel und Urenkelkinder lebten noch in Sachsen. Die konnte sie aber nicht recht leiden, denn sie schrieben immer nur, wenn sie Geld brauchten, und konnten, wie sie meinte, ihren Tod nicht erwarten. Deshalb hatte sie sich vorgenommen, womöglich so alt zu werden, daß die Enkel auch keinen rechten Genuß von der Erbschaft hatten. Sie ließ die Villa, die ohnehin nur sehr billig auf Spekulation gebaut war, absichtlich verfallen, um die Erbschaft zu entwerten.
Einstweilen aber freute sie sich an ihrem Garten und daran, daß sie sich noch ans Jahr 1814 erinnern konnte, wo sie als kleines Mädchen die Freiheitkämpfer in Berlin einziehen sah und schon damals für diese schmucken Männer eine heimliche Sympathie fühlte. Indem sie ein paar Streußelkügelchen in den Mund schob, empfand sie es zu diesen Jugenderinnerungen als einen wunderlichen Gegensatz, daß jetzt nur noch ganz alte Weiber zu ihr auf Besuch kamen. Die alten Männer konnte sie nicht leiden. Die schienen ihr alle zu kindisch. Also blieben eben doch nur die alten Weiber . . . Da 607 waren sie auch schon. Zwei sehr alte Damen, unter großen, altmodischen Sonnenschirmen und Hüten, deren Hutbänder sie unter dem Kinn aufgebunden trugen, da es ihnen von der Sommerhitze zu warm geworden war. Die eine war die alte Witwe Beelitz, eine behäbige, breitgebaute Frau von sehr herausforderndem Gesichtsausdruck, als wenn sie bereit wäre, jeden, der ihr jemals zu widersprechen wagte, sofort mit niederschmetternden Verweisen seiner Sünden oder Fehler zu Boden zu strecken. Sie trug ein Kleid von schwarzer Halbseide und einen schwarzen Spitzenüberwurf. Über ihre Jugend wußte niemand etwas Genaues; sicher war nur, daß sie in den Kriegen von 1866 und 70 als Marketenderin mit im Felde gewesen war und ihr damaliger Mann durch Lieferungen viel Geld verdient hatte. Seitdem waren sie emporgekommen. Ihre Tochter war an einen höheren Staatsbeamten verheiratet, der Sohn ein angesehener Buchhändler geworden. Der Mann war gestorben; und weil Mutter Beelitz aus ihrer Jugend noch manche anstößige Manieren hatte und so derbe Reden führte, die ihrer zarter besaiteten Tochter und Schwiegertochter nicht recht gefielen, suchte sie lieber die alte Seiler auf, die ihre Stallausdrücke ohne besondere Mienenspiele geduldig anhörte.
Der andere Gast war das Fräulein Klaus. Das war ein außerordentlich langes, hageres Mädchen von siebzig Jahren, dem auf der Oberlippe ein paar graue Barthaare hingen und das sein 608 schneeweißes, noch immer volles Haar in einem großen Netz trug, wie es vor vierzig Jahren Mode gewesen war. Fräulein Klaus war Elementarlehrerin in Berlin gewesen, aber schon seit zwanzig Jahren in einem nahen Stift für alte Lehrerinnen, wo sie sich eingekauft hatte. Auch in einer Sterbekasse war sie, da sie geglaubt hatte, sie werde früh sterben. Das geschah nicht; aber sie zahlte ihre kleinen Scherflein weiter, die allmählich ein recht stattliches Guthaben ausmachten, sodaß sie einmal auf ein besonders schönes Begräbnis erster Klasse rechnete.
Als der Kaffee der Frau Seiler die Gemüter ihrer alten Gartengäste aufgefrischt hatte, geschah es, daß aus allerlei Lebenserinnerungen das Gespräch sich auf das Alter der einzelnen lenkte. Fräulein Klaus wurde gefragt, wie alt sie nun wohl eigentlich sei. Das alte Fräulein nahm verschämt einen Schluck Kaffee auf den Zucker, den sie schon im zahnlosen Munde stecken hatte und brachte schüchtern die Antwort hervor: »Fünfundsiebzig, Frau Seilern; Sie können es glauben: erst fünfundsiebzig.«
Die Seiler sah die Mutter Beelitz etwas entrüstet an.
Frau Beelitz zuckte die Achseln und legte die Arme über dem Schoß ineinander.
»So eine Aufschneiderei!« sagte Frau Seiler.
Man muß nämlich wissen, daß Fräulein Klaus die eigentümliche Angewohnheit hatte, auf ihre 609 alten Tage stark zu lügen. Sie erzählte manchmal ganz verblüffende Geschichten, die ihr passiert seien; daß sie, zum Beispiel, im Stiftsgarten einen ganz roten Vogel gesehen, der wie eine Nachtigall gesungen habe, daß junge Männer vor ihrem Fenster auf- und abpromenierten und ihr briefliche Anträge machten, und dergleichen Verfänglichkeiten. Was aber ihr Alter anlangt, so log sie stets. Sie hatte schon in früheren Jahren den Grundsatz gehabt, sich für älter auszugeben, als sie wirklich war. Ganz im Gegensatz zu anderen weiblichen Wesen. Als sie ein junges Mädchen war, hatte sie nämlich einmal einen Bewerber gehabt, der sie heiraten wollte. In einem Schäferstündchen hatte er sie gefragt, wie alt sie sei. Um ihn zu necken, hatte sie sich für Dreißig ansgegeben, während sie doch erst fünfundzwanzig zählte. Er hatte sich dadurch nicht abschrecken lassen und sie hatte sich vorgenommen, um ihn zu belohnen, ihm in der Hochzeitsnacht zu sagen, daß sie fünf Jahre jünger sei, womit sie ihm eine große, angenehme, beglückende Überraschung zu bereiten hoffte. Aber es war niemals zu dieser glücklichen Offenbarung gekommen. Er war nicht lange vor der Hochzeit an der Schwindsucht gestorben und hatte nicht erfahren, daß seine Braut so viel jünger war. Seitdem gab sich Fräulein Klaus stets für älter aus und machte ein verschämtes Gesicht dabei.
»Nein, so 'ne Aufschneiderei!« wiederholte Frau Seiler. Und nun rechnete sie dem Fräulein vor, daß 610 sie selbst schon ein fünfzehnjähriges Mädchen gewesen sei, als die Klausen drinnen in Berlin auf die Welt gebracht worden sei von einem Dienstmädchen, das nicht viel älter als sie, die Seilern, war. Und sie habe sie ja, da sie ein vaterloses Wurm gewesen sei, selbst trocken gelegt; und nun wolle sie hier in Gegenwart der Frau Beelitz solche Lügen anfahren! »Wenn Sie mir damit näher kommen wollen, daß Sie sich gleich fünf Jahre zulegen, dann verkennen Sie Ihre Stellung!« sagte Frau Seiler etwas bissig, während sie mit zitternder Hand dem Fräulein frischen Kaffee einschänkte. Sie ließ nicht undeutlich merken, daß sowohl die Beelitz wie die Klaus gegen sie mit ihren fünfundachtzig Jahren die reinen unmündigen Kinder seien. Das mache ihr doch keiner nach, so alt zu werden und noch so energisch und fröhlich zu sein.
»Na,« sagte Frau Beelitz, »ob wir nun fünf oder sechs Jahre älter werden, darauf kommt es bei uns alten Nachtlichtern auch nicht mehr an. Auslöschen tun wir doch, und wenn wir weg sind, sagen die Leute auch nur: Herrje! Ist die alte Beelitzen und die alte Seilern nun auch nicht mehr?!«
»Wahrhaftig,« rief auf einmal die Seiler, indem sie mit der Hand lustig vor sich auf den Tisch schlug, »wenn ich einmal abgegangen bin, dann denken meine Enkel und Urenkel auch nur: Na, Gott sei Dank, daß der alte Haderlump weg ist! Und nicht einmal einen Kranz sollen sie mir auf 611 den Sarg legen, denn sie werden ihn doch nur von meinem Geld kaufen. Ich möchte überhaupt wissen, ob wir einen Kranz kriegen. Fräulein Klaus hat keinen Menschen.«
»Ach, keinen einzigen,« sagte das Fräulein verschämt und machte dabei ein Gesicht, als schäme sie sich dieser Lüge, während es doch reine Wahrheit war.
Die alten Damen waren im Gedanken an den Tod immer lustiger und übermütiger geworden. Von der Unsterblichkeit hielten alle drei nichts, wie sich herausstellte. »Was meinen Sie, Beelitzen?« fragte die Seiler; »glauben Sie, daß Sie in den Himmel kommen werden?!«
»I wo! Wat sollte ich denn im Himmel anfangen? Ick würde mir genieren, bei meiner Korpulenz, hinten mit langen Flügeln zu gehen! Und meinen seligen Mann, den möchte ich nun gar nicht wieder sehen mit so lange Flügel bei seiner untersetzten Statur; er ist mir in der bloßen Erinnerung viel lieber!«
»Na, das ist doch mal ein Wort!« sagte die Seiler. »Das können Sie mir glauben: wenn wir erst mal unter der Erde sind, mich und die Klausen nehmen die Würmer nicht mal mehr an, denn was sollen sie mit so einer alten Knochensammlung machen? Aber ein Kranz hat das Gute, daß man denkt, was darunter liegt, wäre auch noch so hübsch wie die roten Rosen im Garten.«
»Wissen Sie was?« sagte die Beelitz, indem sie 612 vom Stuhle aufsprang; »wenn es denn eben so eine Sache mit dem Sterben ist und niemand recht weiß, wozu man eigentlich sterben muß und die Verwandten, wenn man welche hat, auch nicht recht wissen, wozu man tot ist, so schlage ich vor, daß wir uns gegenseitig verpflichten, jede einen Kranz zu stiften für diejenigen, die zuerst von uns sterben, und daß wir auch bei einander mit zu Grabe gehen. Das ist doch wenigstens etwas Gewisses, daß man weiß: man bekommt von der und der den und den Kranz. Stirbt die Seilern zuerst, so bekommt sie von uns beiden anderen zwei Kränze; und so weiter herum, eine nach der anderen. Das ist auf Gegenseitigkeit und das hält immer besser.«
In selbstgekeltertem Johannisbeerwein stießen die drei auf dieses Abkommen an, das sie treulich zu halten versprachen. Sie tranken sogar noch ein zweites Gläschen, wovon ihre Gedanken nicht ganz klar blieben. Als die beiden Gäste sich verabschiedeten, fühlte die Seiler noch ein Bedürfnis, die anderen zu begleiten. Sie waren sehr aufgeräumt, und als sie in die nächste Seitenstraße bogen und am Sargmagazin des Tischlermeisters Ulrich vorbeikamen, blieben sie vor dem Fenster mit den schwarzen und vergoldeten Särgen stehen und lachten darüber, daß man zuguterletzt in eine solche Truhe gesteckt werde wie ein alter Muff in eine Muffschachtel. Die Klaus brauche wegen ihrer Länge überhaupt noch ein halbes Meter mehr als andere Frauen, was bei den teuren Holzpreisen doch auch eine Rolle 613 spiele. Da Frau Seiler mit dem Tischler gut bekannt war, traten die drei zuletzt in den Laden und verschworen sich, daß ihre Särge alle bei ihm bestellt werden sollten; auch erzählten sie ihm ihr Abkommen, damit er, sobald für eine eine Sargbestellung käme, die anderen gleich auffordern könne, Kränze zu besorgen und beim Begräbnis mitzugehen. Der Tischler war auch schon ein Mann von sechzig Jahren und notierte die Wünsche der Damen mit Humor, da er sie selbst über eine so bedenkliche Sache, wie nun einmal der Tod ist, in so guter Laune fand. Frau Beelitz wollte den Sargdeckel steil aufsteigend haben, um hochliegen zu können, da sie sonst immer zu schnarchen pflege; die Seiler wollte den Sarg ausgepolstert haben, da sie, bei ihrem starken Knochenbau, sich nicht gern wund liegen wolle. So war des Spaßes kein Ende.
. . . . Erst ein halbes Jahr mochte vergangen sein, als eines Tages die Pförtnersfrau, die in der Dachwohnung bei Frau Seiler hauste, zu ihrer Wirtin gestürzt kam und die Nachricht brachte, die alte Frau Beelitz sei plötzlich gestorben. Es sei ein Herzschlag gekommen und da sei sie auch ganz sanft umgesunken. Beim Tischler Ulrich sei auch schon der Sarg bestellt.
Frau Seiler war nicht sehr betroffen; sie meinte nur: »Du lieber Gott! Sie war ja erst sechsundsiebzig! Ich kann mir jeden Tag den Tod wünschen und er tut doch, als ob ich gar nicht da wäre! 614 Nun laufen Sie aber schnell zum Gärtner und bestellen einen großen Kranz für die Beelitzen und dann gehen Sie ins Stift zum Fräulein Klaus und bringen Sie ihr die Nachricht; denn sie muß auch einen Kranz stiften und mitgehen.«
»Was soll der Kranz denn kosten, Frau Seiler?!«
Die Alte schwieg einen Augenblick. Sie gab gar nicht gern viel Geld aus und dachte, drei Mark würden wohl genügen. Sie wagte es aber nicht auszusprechen, weil die Portierfrau dann ein Gesicht machen könnte. Eine Weile dauerte der innerliche Kampf, dann aber sagte sie äußerlich ganz mit der Würde einer feinen, alten Dame: »Na, bestellen Sie etwa in der Höhe von zehn Mark; und er soll recht schön werden. Wenn Sie aber zu Fräulein Klaus kommen, so sagen Sie ihr nur, ich hätte zehn bis zwölf Mark daran gewendet; da muß die ja auch, und kann nicht zurückstehen, wenn ich einmal sterbe.«
Im stillen aber dachte die Seilern, daß dem Fräulein Klaus die zehn Mark sehr sauer würden und ihr Taschengeld gleich auf vierzehn Tage mindestens draufgehen müsse. Das bereitete ihr eine Art von angenehmer Genugtuung. Denn sie konnte die zehn Mark nicht leicht verschmerzen.
Am Begräbnistage war Fräulein Klaus ganz geknickt. Als der Sarg mit der seligen Frau Beelitz in das Grab gelassen wurde, weinte das alte Fräulein sogar sehr stark, denn sie hatte wirklich auch für zehn Mark bestellt, die sie sich abdarben mußte. 615 Und es fiel ihr ein, daß, wenn die Frau Seiler vor ihr sterben sollte, es sie Anstands halber doch auch wieder zehn Mark kosten würde; und die Seiler ging auf sechsundachtzig. Diese Empfindungen im Verein mit der rührenden Grabrede des Pfarrers wirkten so auflösend auf das Gemüt des alten Fräuleins, daß sie sich nur in einem Strom von Tränen erleichtern konnte. Die Seiler merkte dagegen, daß sie gar nicht weinen konnte; sie versuchte wiederholt, mit den Augen zu zwinkern, aber es kam nichts und so konnte sie nur ein recht gottergebenes und frommes Gesicht machen, wobei sie mit ihrem zahnlosen Unterkiefer hin- und hermumpelte. Als die Feierlichkeit beendet war und die beiden alten Damen, nachdem sie ihre Kränze unter den anderen am Grabe geprüft und herausgefunden, heimgingen, fing Frau Seiler an, auszusprechen, was ihr während der Herablassung des Sarges eingefallen war: »Gott, sie war eine so gute Frau, die Beelitzen, eine recht gute Frau. Und man konnte ihr auch gar nichts nachsagen! Rein gar nichts! Aber wissen Sie, Fräulein: hineingelegt hat sie uns beide doch. Richtig hereingelegt. Denn sie hat nun ihre zwei Kränze weg! Aber wer gibt denn uns zwei Kränze? Wenn ich nun zunächst dran komme, dann können Sie ja allein mit zu Grabe gehen. Aber die Beelitzen? Die liegt nun fest. Und, sehen Sie, gerade sie war's, die den Vorschlag mit den Kränzen machte!«
In diesem Augenblick ging es auch Fräulein 616 Klaus erst richtig auf, daß sie in der Tat das schlechtere Geschäft bei der Sache machten. Damals, in der Freude über den sinnreichen Einfall mit den Kränzen, hatten die alten Damen in einer gewissen Vergeßlichkeit des Alters gar nicht daran gedacht, daß eine solche Ehrung auf Gegenseitigkeit nicht durchzuführen war und daß die zuletzt übrig Bleibende keinen Kranz von den anderen erhalten konnte.
Nach einer langen Weile erst, nachdem beide diese zwingende, innere Notwendigkeit sich klar gemacht hatten, fand Fräulein Klaus das Wort: »Na, zwischen uns, Frau Seiler, bleibt es trotzdem beim Alten. Nicht wahr? Deshalb krieg ich doch von Ihnen meinen Kranz und Sie von mir, je nachdem?«
»Na, denken Sie denn, ich werde mir Ihnen gegenüber lumpen lassen?« sagte Frau Seiler. »Wegen meiner können Sie ruhig sterben. Aber seien Sie ohne Sorge: diesmal muß ich nun zuerst dran glauben!«
In den nächsten Tagen trafen die beiden alten Damen mehrmals am Grabe der Frau Beelitz zusammen. Beide kamen, um nachzusehen, ob ihre Kränze noch da seien und sich gut gehalten hätten; teuer genug waren sie ja gewesen. Aber keine sprach darüber. Sie redeten nur von den guten Eigenschaften der seligen Frau Beelitz.
. . . . . Abermals mochte ein Jahr vergangen sein, als die alte Frau Seiler, die noch immer recht 617 munter war, am Schaufenster des Tischlermeisters Ulrich vorbeiging. Der Meister stand in der Tür seines Ladens und rief sie gleich an: »Na, Mutter Seilern, Sie kommen ja gerade recht! Sie haben aber wirklich Glück! Darauf sollten wir eigentlich eins zusammentrinken!«
»Ja, wieso denn, Herr Ulrich!«
»Na, wissen Sie es denn nicht? Die alte Klaus ist nun auch gestorben. Eben habe ich die Bestellung auf den Sarg bekommen. Die haben Sie nun auch überlebt. So ein Glückskind wie Sie, findet man ja in ganz Berlin und Vororten nicht mehr, Mutter Seilern!«
Die Alte mußte sich erst ein bißchen von dem Schrecken erholen. Dann aber sagte sie: »Na, habe ich's nicht immer gesagt? Sie war zeitlebens schwächlich. Es fehlte an Lebenskraft. Da konnte sie's freilich nicht lange machen. Woran ist sie denn so schnell gestorben? Ich habe doch gar keine Ahnung gehabt!«
»Gott, es ist eine Rouleaustange beim Vorhangaufmachen heruntergefallen und ihr gerade auf den Kopf; da hat's wohl eine Gehirnerschütterung gegeben; sie war schon nach einer Stunde tot!«
»Und unsereins kann nicht sterben! Rein gar nicht! Das ist eben die Lebenskraft! Bei ihr fehlte die Lebenskraft. Was wird's denn für ein Sarg?«
Der Tischler berichtete, daß ein sehr schöner Sarg und auch das Begräbnis erster Klasse bestellt sei; 618 die Frau Seiler würde in einer Equipage nach dem Kirchhof fahren, denn das Fräulein habe fast so gut wie nichts hinterlassen, aber tüchtig in eine Begräbniskasse gezahlt und da könne er denn auch eine hübsche Rechnung machen. »Wissen Sie was: kommen Sie mit, Frau Seilern! Darauf machen wir uns einen vergnügten Tag. Trinken Sie mit! Sie können ja noch immer einen guten Stiebel vertragen!«
Die Alte lachte erst; dann aber sagte sie: »Na, weil ich hier das Nachsehen habe und mir keine nun einen Kranz stiften wird, darum will ich es wenigstens ein bißchen feiern, daß ich noch auf der Welt bin mit meinen siebenundachtzig Jahren. Zuerst muß ich ihr aber noch einen Kranz bestellen.«
Der Meister zog einen Rock an, um auszugehen. Er war auch schon lange Witwer. Die alte Seiler hatte ihm in früheren Jahren manches zugewendet und das alte Weib machte ihm Spaß, weil sie gar nicht sterben wollte. Sie gingen. Doch vorher traten sie in den nächsten Blumenladen, wo Frau Seiler, nach einigem Feilschen, wirklich einen Kranz für zehn Mark für das tote Fräulein Klaus bestellte, der einstweilen immer in die Leichenhalle geschafft werden sollte. Der Meister wunderte sich über den hohen Preis, fand es aber nett, daß die Alte ihre Freundin so ehrte. Dann gingen sie zusammen weiter, setzten sich in einen schönen Wirtsgarten und der Meister bestellte Bier; und da gerade Mittagszeit war, riet er der Alten, sie sollte sich 619 doch erst ein Süppchen und dann einen Braten und vielleicht noch einen guten Nachtisch bestellen. Frau Seiler tat sehr bedenklich, fand die Preise hoch und wollte nicht recht daran, da ihre Sparsamkeit sich in die Gefühle der Lebenslust mischte. Da aber stieß der Meister mit seinem Glase Pilsener bei ihr an und sagte: »Ach, machen Sie keine Geschichten, Frau Seiler! Prosit! Auf ihr neunzigstes Jahr! Wer weiß: Sie erleben noch hundert, wenn Sie nur sich ordentrich ernähren. Und wegen der Preise machen Sie sich keine Sorgen. Das kommt mit auf die Sargrechnung. Es ist schon so ein schöner Sarg bestellt, daß es auf ein paar Mark mehr oder weniger nicht ankommt; und beurteilen kann kein Sachverständiger, ob ich das Holz so oder so nehme. Kommt also auf die Geschäftsspesen.«
Nun wurde Mutter Seiler lustig. Auf Geschäftsspesen mitzuessen: Das war eine andere Sache. Sie bestellte sich eine gute Suppe, als Voressen ein halbes Dutzend Austern und einen Braten. Sie ließ es sich munden und freute sich, daß es ihr bei ihrem Alter so gut schmecke. Mit dem Meister erzählte sie sich Geschichten aus Altberlin; seine Erinnerungen reichten freilich nicht so weit zurück; sie hatte immer noch fünfundzwanzig Jahre voraus. Sie erzählte vom alten Hinckeldey und von Glasbrenners Possen und vom Stralauer Fischzug, den der längst vergessene Julius von Voß beschrieben hatte. In ihrer Gastwirtschaft war auch der alte Ludwig Devrient gewesen und von Döring und 620 Seydelmann wußte sie. Mit solchen Erinnerungen ging das Essen gut hin.
Dann fragte sie auf einmal: »Na, sagen Sie mal, Meister, für wie viel habe ich denn nun verzehrt?«
Der Tischler wollte erst als feinfühliger Mann nicht mit der Sprache heraus. Endlich gestand er, daß sie etwa für fünf Mark verzehrt habe. Da lächelte sie schlau, daß ihre alte Nase ganz spitz davon wurde, und sagte: »Erst fünf? Na, Meister, da müssen wir auch noch, weil's doch auf Sargkosten geht, ein Fläschchen Champagner zusammen trinken; für zehn Mark. Wenn ich die Hälfte mittrinke, so kommen auf mich fünf Mark heraus. Das macht im ganzen zehn. Na, und für zehn Mark darf ich ja, denn da . . .« Sie wollte weiter reden, unterdrückte aber die Schlußworte »schinde ich wenigstens den Kranz wieder heraus«. Es schien ihr feiner, es lieber nicht zu sagen und als geheimnisvolle Genugtuung für sich zu behalten. Und so geschah es. Der Meister bestellte wirklich Champagner, der Mutter Seiler sehr gut bekam.
Zwei Tage danach wurde das alte Fräulein begraben. Frau Seiler zog ihr bestes Kleid an, das schwarzseidene, und fuhr in der Equipage nach dem Friedhof. Beim Begräbnis stand sie neben dem Tischler, der einen sehr schönen Sarg geliefert hatte. Auch bewunderte man den großen, reichen Kranz von Frau Seiler. Sie nahm die Komplimente mit wahrhaft antiker Würde entgegen. Erst am Grabe 621 hatte sie eine kleine, unangenehme Empfindung: da wurde nämlich für das tote Fräulein ein allerdings bescheidener Kranz niedergelegt: »Auf Anordnung und im Namen der seligen Frau Beelitz.« Da deren Hinterbliebene verzogen waren, hatte der Friedhofswächter den Auftrag ausgeführt, der von der Verstorbenen in richtiger Auffassung des Abkommens noch bei Lebzeiten erteilt worden war. Hierin lag aber für Frau Seiler eine kleine Beschämung. Sie sagte zu dem Tischler am Kirchhofsausgang: »Die Beelitz wollte auch immer etwas Besonderes haben! Da renommiert sie nun noch nach dem Tode, als wenn's ihr auf so ein paar Kränze nicht weiter ankäme!«
Der Meister sagte: »Geben Sie acht, Frau Seiler! Für Sie hat sie auch einen noch bei Lebzeiten bestellt. Sie sind ein Glückskind! Denn da kommen Sie mit Ihrem Kranz auch noch heraus!«
»Na, dann wäre es ja was anderes!« meinte die Alte, sichtlich besser gestimmt.
. . . . Erst fünf Jahre später ist auch noch die alte Seiler gestorben. Kurz nach dem Tode des Fräuleins war sie auf ihrer Gartentreppe gefallen und hatte sich beide Schenkelknochen gebrochen. Und das Wunder war geschehen, daß sie nach zwei Jahren an Krücken wieder in ihren Garten herauskonnte und sich an den Blumen und den reifenden Kirschen und den Finken erfreute. Sogar den Kuckuck hörte sie zur Maienzeit von Lichterfelde herüber schlagen. Ihr Haus aber ließ 622 sie immer mehr verfallen. Sie gönnte es den Enkeln nun einmal nicht. Sie sollten gar nichts von der Erbschaft, höchstens noch Kosten von dem Haus haben. Eines Tages aber lag sie doch tot im Bett. Das Herz hatte in Altersschwäche still gestanden und sie hatte keine Ahnung gehabt, daß sie sterben würde.
Auf ihrem Grabe lagen zwei Kränze. Der eine war abermals im Namen der Frau Beelitz gekommen. Der andere wurde im Namen des verblichenen Fräulein Klaus vom Tischlermeister Ulrich niedergelegt. Diesen Kranz hat der Tischlermeister auf die Kosten des Sarges für die Seiler verrechnet; er dachte, damit ganz im Sinne des seligen Fräulein Klaus zu handeln.
Ende.