Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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Der Kirchenchor.

I.

Sie waren schon zum größten Teile auf den Reihenbänken unterhalb der Orgel versammelt. Hübsche, junge Mädchen mit schnippischen Näschen, schlanke Jungfrauen von mancherlei Stand, als Telegraphistinnen, Lehrerinnen, Buchhalterinnen und Töchter bürgerlicher Häuser, ältere Malerinnen, ein paar Witwen, wohlbeleibte Fabrikantenfrauen und sonstige ältere Damen. Sie saßen und standen in Gruppen zwischen den Bänken unten, während in den oberen Reihen die ziemlich spärlich erschienenen Männer warteten, auf der einen Seite meist jüngere Leute, Buchhandlungsgehilfen und Kaufleute, jüngere Postbeamte und Techniker, die Tenöre, während die Bässe sich schon äußerlich durch das Vorwiegen großer, dunkler Bärte oder starke, biergerundete Wohlbeleibtheit kenntlich machten. Der ganze sonstige, mächtige Kirchenraum mit seinen byzantinischen Säulengängen lag in geheimnisvollem, nächtigem Dunkel; nur oben auf der schwebenden Galerie des Chores war es hell 466 vom klaren, elektrischen Licht, das von verschiedenen Seiten auf die Sängerinnen und Sänger fiel. Es sollte die Probe zu den Kirchengesängen stattfinden, die am folgenden Tage im Sonntags-Vormittags-Gottesdienst gesungen werden mußten. Deshalb versammelte man sich des Abends nach acht Uhr, wo jedermann von Amt und Geschäften frei war, um als freiwilliges Mitglied mitzuwirken.

Ein langhaariger, schmächtig gebauter Mann ging mit einem Stoße von Noten umher, die er aus dem Schrank bei der Orgel entnommen hatte, und verteilte die Stimmen an die Damen, wobei er jedesmal schräg nach vorn zusammenknickte und mit seinen großen, leerblickenden Augen verbindlich zwinkerte. Man wußte nicht recht, sollte man ihn mit seinen langen, schwarzblonden Haaren, die sich im Nacken in zwei große Schmachtlocken von verschiedener Größe umlegten, für einen Stubenmaler oder einen Musikus halten. Er war ebenso engbrüstig, wie lang, das Gesicht tief gefurcht und von graublasser Hautfarbe; ein schwärzlicher, etwas mauseriger Backen- und Kinnbart machte den ganzen Mann noch absonderlicher. An der Art aber, wie er im Gehen den Kopf zurücklegte, konnte man wohl empfinden, daß er sich für etwas Auserlesenes halten mochte.

Ziemlich feierlich kam jetzt eine schlanke, aber schon ältere Person mit einem Klemmer auf der Nase von der Orgel her die Emporenstufen herabgeschritten, um ihren Reihenplatz zu suchen. Der 467 engbrüstige Notenverteiler reichte ihr die Stimmabschrift eines »Tedeums«: sie nickte gelassen, indem sie das Haupt neigte, und wollte in ihre Bankreihe eintreten.

»Wenn ich bitten darf,« mußte sie etwas anzüglich sagen, denn ein Häuflein von älteren Damen stand hier beisammen, ohne ihr Kommen bemerkt zu haben. Man machte ihr mit etwas gespannten Mienen Platz, aber das Durchlassen war nicht so leicht, da der Durchgang eng war. Auf einmal blieb die Angekommene zwischen den anderen, die eng an ihre Sitzbank angeklemmt waren, stehen und sagte sehr übel gestimmt:

»Aber da ist ja mein Platz schon besetzt! – Man besetzt meinen Platz!« In der Tat saß eine sehr wohlbeleibte, große Dame auf dem Platze, den die Neuangekommene im Auge gehabt hatte. Aber die letztere tat, als habe sie gar nichts von der Bemerkung gehört, obwohl sie mit großen Augen die Angekommene von oben bis unten ansah. Unterdessen drückte diejenige Dame, welche durch die andere eingeklemmt war, etwas stärker gegen die Schlanke und meinte:

»Ich muß doch sehr bitten, Frau Rittmeister – es ist hier wirklich sehr eng.«

»Aber man hat ja meinen Platz besetzt!« fuhr jetzt die Frau Rittmeister auf. »Ich bitte sehr um Entschuldigung, wenn ich Sie belästigen sollte! Was soll ich machen, wenn ich nicht zu meinem Platz gelangen kann?!« 468

Sie suchte sich damit an der anderen vorbei zu schieben, die dabei die Achseln zuckte und mit ihrer Nachbarin große Blicke wechselte. Die Frau Rittmeister stand nun dicht vor derjenigen, die ihren Platz inne hatte, und sagte, indem sie sich vorstellte: »Frau Rittmeister von Schimmel. Ich bitte sehr um Entschuldigung – aber das ist mein Platz.« Sie betonte das Wörtchen »von« ziemlich stark.

»Frau Graf,« entgegnete die andere, indem sie das Wörtchen »Graf« mit einer kräftigen Altstimme besonders hervorhob. »Aber nicht »von« Graf,« setzte sie spitz hinzu. »Ich bedaure, das ist mein Platz.«

»Aber ich versichere Sie,« hub die andere wieder an, »es muß eine Verwechslung sein, ich habe diesen Platz immer gehabt, und Sie sitzen in der hinteren Reihe.«

»Erlauben Sie, aber ich sitze jetzt eben hier, und folglich ist das doch mein Platz,« bemerkte Frau Graf gelassen.

»Na, da muß ich gestehen –«

»Wir sind hier doch nicht in einer Schulklasse, daß man uns bestimmte Plätze anweisen dürfte – vielleicht nehmen Sie hier neben mir Platz – der ist ja noch leer.«

Die Frau Rittmeister sah sich befremdet im Kreise der Damen um. Dann aber verlor sie die Geduld und sagte mit plötzlich laut aufkreischender Stimme:

»Das übersteigt alle Begriffe! Das ist ja, als wäre man unter Waschfrauen. Ich verlange 469 meinen Platz – Herr Hähnel, ich bitte um Ihre Entscheidung, Herr Ingenieur Hähnel – Sie wissen, daß das mein Platz ist, und Sie können bestätigen, daß das von Anfang an so war. Ich kann ja absolut nicht singen, wenn ich nicht meinen Platz habe!«

»Sie befehlen, gnädige Frau?« sprach geflissentlich Herr Ingenieur Hähnel, indem er herangestürzt kam.

»Sehen Sie nur –« sagte die Frau Rittmeister, indem sie wie sprachlos auf die Frau Graf zeigte.

»Ach – allerdings – Frau Graf –« bemerkte der Notenverteiler, »dieser Platz ist allerdings –«

»Bemerken Sie gar nichts, Herr Hähnel,« sagte die dicke Frau Graf mit Gelassenheit, »sondern kümmern Sie sich um Ihre werte Frau Gemahlin, die da drüben wie Lots Weib steht, weil sie noch keine Stimme hat. J'y suis, j'y reste!«

»Nun, dann muß ich meinen Austritt aus dem Chor anmelden!« sagte feierlich die Frau Rittmeister. »Wenn es hier nicht einmal Männer gibt, die einen schützen können –«

Herr Hähnel hatte einen raschen Blick zu seiner Frau hinüber geworfen; von dort aber war ein schadenfroh-ermunternder Blick zurückgekommen, etwa wie in einer Mädchenschule, wenn es gilt, brave Knaben gegen andere Mädchen aufzuhetzen. Eine Achselbewegung, ein Augenzwinkern, ein Kopfnicken schnell hintereinander: Frau Hähnel hatte augenscheinlich ein schadenfrohes Interesse am 470 Streite der Damen und freute sich, wenn Unfrieden im Chore war. Gestärkt durch die Gebärden seiner bleichen, schwarzhaarigen Gattin, sprach daher Herr Hähnel, indem er den Kopf zurückwarf:

»Allerdings, Frau Rittmeister, Sie sind in Ihrem guten Recht! Und wenn Sie austreten würden, so könnte das die verhängnisvolle Folge haben, daß ein großer Teil unserer besten Mitglieder mitaustreten würde, wie ich die Stimmung kenne.«

»Nun denn also!« fuhr mit stolzer Nackenbewegung die Frau Rittmeister auf, indem sie sich im Kreise der Damen umsah und dann auf die Frau Graf herabblickte, als werde dieser Effekt endlich ihren Platz freimachen.

Die Frau Graf war aber auch hier nicht verlegen, sie sagte: »Und wenn der ganze Chor austritt, so bleibe ich doch hier sitzen, und damit basta!«

»Tut er ja gar nicht!« rief eine andre bejahrtere Dame. »Herr Hähnel hat wieder einmal seine Privatmeinung unaufgefordert für andere abgegeben. Es tritt niemand aus wegen einer ganz künstlich provozierten Platzfrage! Das sage ich!«

Die Dame bekräftigte ihre Meinung damit, daß sie ihre Noten heftig zusammenwickelte und dann schnell wieder sich aufrollen ließ, und das war das Zeichen, daß mit einmal von allen umstehenden Damen ein lautes, erregtes Stimmengewirr erklang, aus dem nur so viel zu entnehmen war, daß man allgemein gegen die Frau Rittmeister Partei nahm. Herr Hähnel schlich sich scheu, während 471 seine Locke etwas vornüber rollte, aus dem erregten Kreise fort und verteilte den Rest seiner Stimmen. Seine Frau trat neugierig den Streitenden näher und erging sich in kurzen Ausrufen: »Na, das ist doch!« »So was!« »Nicht wahr!« mit wechselnder Betonung, wobei sie, je nach dem Redegeräusch der Damen, bald für, bald gegen die Frau Rittmeister Partei zu nehmen schien. Das Stimmendurcheinander nahm eine bedenkliche Höhe der Tongebung an.

Da auf einmal zuckten die Streitenden zusammen, denn es wurde heftig auf das Dirigentenpult geklopft, und gleich darauf ertönten ein paar stark angeschlagene einzelne Töne auf dem Pianino beim Pult. Ein alter Herr mit weißhaariger Mähne und einem Spitzbart, eine Mittelerscheinung zwischen einem Beethovenkopf und einem spitzbärtigen Bülowgesicht, hatte sich erhoben und mit dem Dirigentenstab heftig aufs Pult geklopft. Er hatte mit einem Ausdruck, als merke er gar nichts, die Platzstreitigkeiten der Damen angehört, jetzt aber rief er scharf und bestimmt: »Ruhe! Die Probe beginnt! An die Plätze, meine Herrschaften!«

Die Gruppen stoben hastig auseinander; jedermann eilte an seinen Platz. Nur die Frau Rittmeister stand vereinsamt da und sagte, als die allgemeine Stille eingetreten war: »Ich bin ohne Platz, Herr Direktor. Man hat meinen Sitz usurpiert!«

»Bedaure! Ich bin hier nicht 472 Platzkommandant! Das müssen die Damen unter sich selber ausmachen!« rief der Musikdirektor.

Ein Rauschen angenehmer Zustimmung ging durch den Chor; die Frau Rittmeister sah ein, daß ihre Situation verloren war; sie schob mit einer indignierten Bewegung an der dicken Frau Graf vorbei, wobei ihr eckiger Ellbogen der letzteren scharf in die Hüfte fuhr; sie ging noch einige Plätze weiter, um sich möglichst abgesondert hinzusetzen. Im selben Augenblicke aber ersuchte der Direktor die Damen aufzustehen zum Singen, sodaß die Frau Rittmeister auch in die Höhe fahren mußte. Sie sah sich herausfordernd um; ihre Blicke trafen in den oberen Reihen mit denen des Ingenieurs zusammen, der wiederum mit ihren Empfindungen ganz einig schien; er zuckte mit den Achseln, gegen den Dirigenten hinunterblickend, und schien bestärkend die tiefe Verletztheit der Dame zur seinigen zu machen.

»A, A, A!« rief der Chordirektor, indem er den Ton auf dem Klavier heftig anschlug, nachdem man die ersten Takte im Chore gesungen hatte. »Sie singen ja As! Noch einmal!« – Die Probe kam nun richtig in Gang, denn alle paar Takte befahl der gewissenhafte Dirigent Schweigen und Wiederholung, wenn ein Ton oder ein Gesangsakkord nicht ganz rein geklungen hatte. Unter den Damenstimmen hörte man dabei eine besonders schöne vorklingen, die etwas von den klagenden Lauten der Nachtigall hatte und regelmäßig, wenn 473 der Chor von der Tonreinheit abglitt, die richtige Höhe hielt. Die Trägerin dieser noch immer schönen Stimme war eine wohlbeleibte, ältere Dame, die mit großer Aufmerksamkeit dem Taktierstock des Herrn Direktors folgte, denn sie war die Gemahlin des würdigen Herrn. Oben unter den Bässen aber klang die Stimme des Ingenieurs alles beherrschend hervor, die mehr etwas Leichenbitterhaftes hatte und in einer etwas melancholischen Biederkeit den Kirchenraum durchzitterte.

»Ich bitte, diese Stelle noch einmal! Das muß viel inniger werden!« rief der Dirigent. »Leise anschwellend, dann immer crescendo und dann wieder abschwächender, besonders auf dem Worte »ewiger Frieden«!«

Der Chor setzte wieder ein. Die Frau Rittmeister hatte sich noch einen Platz weiter von der dicken Frau Graf entfernt, weil sie dieselbe haßte und überlegte, wie sie sich Genugtuung gegenüber dieser Person verschaffen sollte. Ihr Haß hatte sich gleichzeitig auch auf den Dirigenten geworfen, der so wenig ritterlich ihre Empfindungen ignoriert hatte. Aber als jetzt das Wort »ewiger Frieden« langsam im Chore anschwoll, da legte auch die Frau Rittmeister all ihre zartesten Empfindungen hinein; ihre Stimme säuselte erst leise, bis sie wuchs und schwoll und allmählich wieder erstarb in dem einen Worte »Frieden«. Und ebenso fromm und sanft gedehnt hörte man die dicke Frau Graf singen; es war, als verweile sie mit innigem Genuß auf 474 dem Worte, denn tiefer Seelenfriede herrschte in ihrer Seele, da sie ja ihren Platz behauptet hatte. Die Stimme des Ingenieurs drängte sich mit plastischer Deutlichkeit vor, indem er durch alle Tonwanderungen der Soprane und Tenöre nur eine lange, tiefe Note hielt, in welcher der Frieden von den zartesten Andeutungen seiner Wünschenswürdigkeit zu dem festesten Bekenntnis seiner heiligenden Daseinskraft anwuchs, bis er zuletzt wieder verhauchte in das Piano seiner nervenberuhigenden Heilkraft. Und alle Damen und Herren, die erst mittätig und schadenfroh dem erregten Platzstreite zugesehen hatten, schlugen die Augen gen Himmel, und mit zart erzitternder Seele folgten sie den Empfindungsbewegungen des Taktierstabes in der Hand ihres Meisters.

Plötzlich aber klopfte der Herr Musikdirektor unvermutet und heftig mit dem Stabe aufs Pult. Denn obwohl auch er seine Arme weit ausgebreitet hatte und langsam mit dem Taktstabe die Fülle der Friedensempfindung, die ihn beseligte, ausdrückte, hatte er sich doch heimlich immer mehr geärgert, weil jene ihm wohlbekannte Nachtigallenstimme das Wort »ewig«, das sie in mehreren Wiederholungen als Sopranführerin zu singen hatte, im kunstreichen Gegensatz zu dem Frieden der Bässe und des Alts etwas zu stark hervorstach. Der Ärger wuchs, der Chordirektor sah die Schuld seiner Ehehälfte ein. Aber er wagte nicht, sie zu unterbrechen oder ihr Vorwürfe zu machen. Sie war 475 einst eine bedeutende Theatersängerin gewesen, eine Frau von hohem Kunstverständnis, die auch seinen eignen musikalischen Kompositionen mit liebevoller Teilnahme folgte. Aber weil sie sich ihres feinen, musikalischen Verständnisses bewußt war, vertrug sie nicht leicht einen Tadel oder das Bewußtsein, daß sie einen Fehler gemacht. Es war vorgekommen, daß sie in solchem Falle ihre Mittätigkeit im Chore in Frage gestellt hatte. Und da ihre noch immer schöne Stimme unentbehrlich war, so hatte Meister Frühauf, der Chordirektor, eine begründete Scheu, sich mit seiner Gattin in öffentlichen Widerspruch zu setzen. Da er aber das »ewig« ihrer Stimme immer mehr vortönen hörte, sehr zum Schaden des richtigen Anschwellens des Friedens, so hieb er jetzt scheinbar wütend auf das Pult und rief:

»Halt! Was ist denn das! Die Tenöre sind ja nicht stark genug! Die schlingen ja den Ton in den Hals! Man hört ja nur Sopran! Tenöre 'raus! Und da oben der Baß! Sie müssen Ihren Frieden mit mehr Kraft herausholen, daß Sie mir den Sopran etwas mehr decken! Also los!«

Wieder schwoll der ewige Frieden an, aber nun so laut von allen Seiten, daß es mehr der Aufruf zu einem Schlachtgetöse war, das unmöglich der friedlichen Sehnsucht des Komponisten oder des Dirigenten entsprechen konnte. Sehr bald stoppte der Chorleiter daher wieder die Stelle und legte seinen Taktierstock hin. 476

Frau Professor Frühauf war eine feine Frau. Sie hatte gemerkt, daß der Sopran einen Fehler gemacht hatte und zu laut gewesen war. Sie hatte gefühlt, daß das Heraustreiben der Tenöre ein falsches Mittel war; sie sagte sich, ihr verehrter Gemahl und Meister hätte den Sopran zurückdämpfen müssen. Sie merkte, daß sie selbst die Schuld trug, biß sich leise an den Lippen herum und dachte: »Jetzt nehme ich die Sache in die Hand, wenn mein Alter solche Fehler macht.«

Und nun, nachdem der Dirigent gedacht hatte: »Wenn sie's jetzt nicht versteht!« und den Taktierstab wieder erhoben hatte, sang auf einmal der Chor mit herrlich ausgeglichener Kraft den »ewigen Frieden« so richtig und maßvoll, daß jeder fühlte, diesmal habe er ganz von selbst die Sache richtig erfaßt. Denn die Frau Professor, eifrig, ihren Mann zu korrigieren, ohne daß er's merkte, dämpfte ihren Sopran so schön und hielt damit auch die anderen Damen im Zaum, daß der Professor seinerseits im stillen triumphierte, seine Frau durch das indirekte Schelten an die Tenöre zur richtigen Auffassung gezwungen zu haben, ohne daß wiederum diese etwas von seinen heimlichen Berichtigungskünsten ahnte. Und so war denn für diesmal der ewige Frieden probeweise allerseits gesichert, und alle Gemüter, selbst das schadenfrohe Gemüt der Frau Hähnel, erglommen in den gemeinsamen Empfindungen sanfter Friedlichkeit.

Unterdessen hatte sich aber zwischen der 477 Baßpartie, der Tenorpartie und den Altstimmen ein anderes Hinundher abzuspielen begonnen. Denn unter den Altstimmen stand auch die bildschöne, einzige Tochter des würdigen Meisters, die gelehrige Schülerin ihrer Mutter, Chormitglied schon seit dessen Begründung: Fräulein Ella Frühauf. Sie sang so wohlgeschult, daß sie die besondere Aufmerksamkeit zweier Herren zu erregen schien, die weiter oben standen. Der eine, ein etwas langer, phlegmatischer Herr mit rötlichem Haar, von lässig gebeugter Haltung, brummte seine Baßnoten mit weit offenen Augen in den dunklen Kirchenraum hinaus; schon an der Aussprache konnte man merken, daß es ein Deutsch-Amerikaner war. Unter den Tenören stand dagegen ein junger Mann mit schwarzen, schöngebügelten Haaren und einem mächtig auswärts gedrehten Schnurrbart. Seine jugendliche Stimme klang zwar etwas ölig, aber der tief schönheitsdurstige Ausdruck, den er in seine Laute legte, schien zu sagen, daß kein weibliches Herz das hören könne, ohne in süßer Sehnsucht vergehen zu müssen. Fräulein Ella stand seitwärts zu ihrem Vater, sodaß sie auch in die oberen Reihen hinausschielen konnte. Und es war merkwürdig, daß sie zu dem schönheitsseligen Tenor ein Auge hinaufwarf, worauf sie dann die Wimpern niedersenkte und so wundersam vor sich hinlächelte, daß dieses Lächeln den Tenor regelmäßig zu einer Art von Tremolieren seiner Stimme veranlaßte. Dann aber, wenn dieses Tremolo in den Chor 478 hineinzitterte, warf Fräulein Ella einen anderen Blick auf den brummenden Amerikaner, worauf über dessen teilnahmloses Antlitz ein kurzer, schlauer Ausdruck ging und seine Augen unter der Brille so scharf herausleuchteten, als wollten sie das Fräulein vor Liebe erstechen. Dann machte er wieder flugs ein ganz kaltes, teilnahmloses Gesicht.

Es waren die Noten zu einer Motette aufgelegt worden über ein Thema aus dem Johannis-Evangelium: »Liebet euch untereinander«, eine schöne Komposition des viel zu wenig gewürdigten Meisters Frühauf selbst. Der Chor war mit Begeisterung an die erste Probe zu diesem Werke gegangen. Es dauerte aber nicht lange, so schlug der Meister heftig aufs Pult und rief: »Was ist denn das?! Der Tenor tremoliert ja! »Liebet euch untereinander!« habe ich das mit einem Tremolo geschrieben? Nein, da hätte ich ja womöglich einen Triller vorgezeichnet! Aber wer tremoliert denn auch das »Liebet einander?!« Das ist doch christliche Liebe, aber da oben, das ist ja das reine Gewieher unter Rossen! Noch einmal die Stelle!«

Das Gesicht des Amerikaners war bei diesen Worten kreideweiß geworden, aber vor unterdrückter Lust und Schadenfreude. Fräulein Ella warf dem Tenor einen raschen, schmachtenden, bemitleidenden Blick hin, senkte dann die Augen nieder und schien plötzlich einen Hustenanfall zu bekommen, 479 daß sie ihr Gesicht im Taschentuch verbergen mußte, wobei sie von einer inneren Macht wahre Stöße in den Nacken zu erhalten schien. Dieser Anfall wurde aber schnell unterdrückt, als nun wieder zu dem Amerikaner ein pfeilschneller Blick hinauf ging.

Der Tenor war durch die rauhe Bemerkung des Professors in seinen tiefsten Empfindungen getroffen. Er war sich wohl bewußt, daß er bei dem »Liebet« all seine verführerischste Liebeskraft in seine Stimme zu legen gesucht hatte, um Fräulein Ella sozusagen durch die Sangesblume seine Empfindungen zu verraten, was er in seiner Eigenschaft als wohlgestellter, aber abhängiger Bankbeamter in werbender Prosaform noch nicht gewagt hatte. Unwillkürlich war so das Tremolo entstanden. Und nun sollte das »Gewieher« sein. Einen Augenblick war es ihm, als hätte sich sein Kehlkopf im Halse herumgedreht, sodaß er nie wieder die Kraft haben würde, einen Ton aus dieser Kehle herauszubringen. Dann aber wirkte der schmachtende Blick Fräulein Ellas nach, der doch wenigstens zu sagen schien, daß sie das Tremolo verstanden hatte. Der Tenor ruckte sich zusammen und schluckte das Gewieher hinunter. Die Stelle wurde wiederholt und nun zu des Meisters Zufriedenheit gesungen; der Chor war sehr bald in Lerneifer über die schöne Komposition geraten, man vergaß allmählich vollständig die kleinen Bitternisse der Eifersucht und persönlicher Abneigungen. Der Amerikaner schmeichelte sich, bei 480 dem schönen Fräulein Ella einen guten Stein im Brett zu haben, denn daß sie ihn als Zeugen ihrer Belustigungen über den Bankmann ermunterte, hielt er für ein Entgegenkommen von überzeugender Art. Er brummte daher mit Gleichmut seine Baßnoten vor sich hin. Der Tenor aber, zuversichtlicher durch die Sangesblicke Fräulein Ellas, erging sich in sanfterblühenden Hoffnungen auf eine Zukunft, wo er im häuslichen Duett ihre schmachtenden Blicke täglich in seinen Augen ruhen sah. Was Fräulein Ella empfand? Nun, nur eine gewisse Genugtuung, zwei feurige Sangesherzen an sich gefesselt zu haben, aber noch ohne sichere Entscheidung, welchem von beiden der Preis gebühre. Sie fand nur, daß die Motette ihres Vaters bedeutend an Interesse gewann durch das begeisterte Eintreten der beiden Herren für eine leidenschaftlichere, tiefinnigere Betonung all der edlen Worte, die dem Text zugrunde lagen. In dieser pietätvollen Empfindung schwang auch ihre Stimme sich zu geistigeren Tönen empor, besonders als die Frau Rittmeister ihre etwas schrille Stimme, fortgerissen durch die allgemeine Begeisterung, mit religiösem Schwung in das Ganze verwebte. Der Meister war äußerst zufrieden. Und nachdem man noch einige Responsorien wiederholt hatte, schloß er früher als gewöhnlich die Probe.

»Na, Sie wieherndes Rößlein!« sagte mit jovialem Schütteln seines Hauptes der Ingenieur Hähnel, als er mit dem Bankmanne die Treppe 481 vom Chore hinunterstieg. »Unser guter Professor Frühauf ist zwar ein lieber Mann, aber ein bißchen boshaft ist er doch! Wiehern! Viele Freunde wird er sich damit im Chore nicht machen. Und seine Anstellung ist ja noch nicht einmal definitiv. Da sollte man doch vorsichtiger sein!«

»Ach, lassen wir das!« entgegnete der Tenor, bei dem der Stachel zwar tief saß, der aber im Hinblick auf die schöne Ella von einem künftigen etwaigen Schwiegervater das Unvermeidliche demütig hinzunehmen in sittlicher Bereitschaft war. »Auf einer Probe geht vieles drein. Und ich war ja auch ganz gegen meine Technik ins Tremolieren gekommen!«

»Na und ob! Das Fräulein Frühauf hat sich fast zu Tode gelacht dabei.«

»Was?!«

»Na, haben Sie es denn nicht bemerkt? Die steckt ja förmlich mit dem Alten unter einer Decke! Die hat Sie ja nur so hineingebracht, damit der Alte dann seinen Witz machen konnte.«

Der Tenor sah den Ingenieur ganz betroffen an. »Ja, dann – dann müßte man ja austreten!«

»Na, Sie werden doch nicht –«

»Nein, aber gut! Achtgeben werde ich! Austreten? O nein, Herr Hähnel, das nicht! Aber die Augen offen halten! Jetzt komme ich gerade erst recht zu jeder Probe. Und tremolieren werde ich! Da wollen wir doch mal sehen, ob man mich zum besten haben darf! Wenn so etwas wäre! 482 Ich habe ein anständiges Auskommen und auch sonst gute Manieren –, man soll sich nicht über mich lustig machen. O, da werden wir das Fräulein mit dem Herrn Papa etwas schärfer beobachten! Denn zu solchen Witzen bin ich zu gut, das bin ich meiner Stimme schuldig!«

Der Tenor hielt nochmals, als könne er's nicht fassen, im Reden inne, schüttelte dann Herrn Hähnel heftig die Hand, als sie unten in der Kirchenhalle standen, und fuhr zu einem Seitenpförtchen hinaus. Hähnel schaute ihm mit einem Mitleidsausdruck nach, der aussah, als glaube er selber daran.

Unterdessen hatte die Frau Rittmeister in der dämmerigen Kirchenvorhalle zusammen mit Frau Hähnel gestanden und nochmals ihre tiefe Entrüstung über Frau Graf und die Platzszene zum Ausdruck gebracht. Frau Hähnel hatte alles auf den Professor Frühauf geschoben, der zu wenig Rücksicht auf die Damen nähme und sich damit noch um seine Stellung bringen würde. Denn wenn Damen, wie die Frau Rittmeister, die doch höheren Orts von Einfluß wären, solche Sachen erlebten, so müsse eben früher oder später ein anderer Dirigent her, und sie begreife nicht, wie der Professor den ganzen Streit um den Platz habe dulden können. An all dem aber sei die Frau Professor schuld, die so eifersüchtig sei, daß ihr Mann gar nicht wagen dürfe, für eine andere Dame Partei zu ergreifen. Und außerdem gönne sie anderen Damen solche Demütigungen, weil sie selbst 483 dadurch sich über andere erhaben dünken könne. Auf diese Eröffnungen hin, im Schatten der byzantinisch bemalten Wölbung, hatte die Frau Rittmeister wieder erklärt, sie wolle austreten, Frau Hähnel aber hatte sie beschworen zu bleiben oder doch zu warten, denn sie wolle gar nichts gesagt haben. Ob es denn der Frau Rittmeister nicht bekannt sei, daß ihr Mann, Ingenieur Hähnel, auch ein ausgezeichneter Chordirigent sei? Ach, was sei das überhaupt für ein Mann! Wenn der höheren Orts die entsprechenden Empfehlungen hätte!

»Treten Sie nicht aus, Frau Rittmeister! Dieser Verlust wäre zu groß für den ganzen Chor. Aber wissen Sie, was ich machen würde? Ich würde das nächstemal früher als alle anderen kommen und mich dann auf den Platz der Frau Graf setzen. Wenn Sie einmal sitzen, werden Sie erst die Gesichter der anderen Damen beobachten! Da wollen wir einmal diese Frau Graf in ihrem Nichts sehen! Und ich werde mich auch auf einen anderen Platz als gewöhnlich begeben und noch mehrere Damen veranlassen, daß sie andere Platze wählen. Wenn dann die übrigen kommen, müssen sie auch wo anders sitzen, und da werden Sie volle Genugtuung haben, Frau Rittmeister, denn dann haben Sie, weil Sie zuerst da waren, ja die ganze neue Ordnung der Dinge geschaffen. Und da darf der Professor auch nichts sagen, selbst wenn meinetwegen die Soprane unter den Altistinnen sitzen – und man wird ja überhaupt sehen! Denn das 484 ist dann eine sogenannte Obstruktion! Das ist klar!«

Durch diese Worte war die Frau Rittmeister in ihrem Entschlusse auszutreten wieder wankend geworden. Der Gedanke einer solchen Sitzobstruktion schien größere Genugtuung zu enthalten. Die Damen verabschiedeten sich eben aufs heftigste voneinander, als Meister Frühauf mit den Seinigen die Kirche verließ, ahnungslos, welchen inneren Wirren sein freiwilliger Gesangschor entgegengehen sollte.

 


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