Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

»Ick muß 'n Übermensch werden, ick muß 'n Übermensch werden!« sagte der Schallerfritz ganz laut vor sich hin, indem er auf dem Rande seiner Bettstelle saß und seine beiden Hundchen mit einer Wurstschale fütterte. Sie hatten sich im Laufe der Wochen zu zwei sehr klugen Dachshundchen entwickelt, die zwar einen ziemlich verschlossenen, schweigsamen Gesichtsausdruck hatten, aber schon sehr geschickt nebeneinander aufrechtsitzen und gleichzeitig »schön machen« konnten. Fiel die Wurstschale oder sonst ein Brocken, so schielte immer der eine hinauf, ob er für ihn oder den anderen bestimmt wäre. Merkte er, daß er dem anderen galt, so saß er mit einem ganz steifen Kopf da, und die schwarzen und braunen Falten seines Antlitzes hingen wie ein schwarzer Damenschleier über seine Augen und sein Maul herein, höchstens daß er einmal leise mit dem Unterkiefer klappte. Aber 141 mit keiner Bewegung suchte er etwa seinem Genossen den Bissen wegzuschnappen. Er vermied zuzusehen, wie der andere kaute, er sah kerzengrade vor sich hin, denn er wußte, daß er abwechselnd dran kam. Fritz Schaller, der sich die Bissen am Munde abdarbte, mit denen er seine unverkauften Geschenkhundchen fütterte, hatte jeden Konkurrenzneid, jeden Kampf um die Wurst und ums Daseins seinen Pfleglingen abgewöhnt. Denn er selbst wollte sich mit Macht in diesen Konkurrenzkampf werfen, einerlei, ob andere dadurch Schaden erlitten, wenn er nur wüßte, wie er anfangen sollte, um an die Quellen zu kommen, wo das Geld und die Millionen zusammenflossen. Darum aber erzog er seine Hunde zur besseren Sittlichkeit. –

Bisher waren alle Versuche vergeblich gewesen, seinen Vorschuß abzuverdienen. Er hatte sich versprochen, das Geld nicht auf sich sitzen zu lassen, sondern eines Tages mit einer Drehorgel zu erscheinen und vor den hundert Wäscherinnen seine Arme melodisch zu rühren. Aber ganz vergeblich war der Versuch gewesen, eine Drehorgel zu erhalten, selbst die Invaliden, die er bat, ihm auch nur für eine Stunde einen Kasten zu leihen, wollten nichts davon wissen. Sie fürchteten seine Konkurrenz wegen seines Glückes bei allen Stubenmädchen und in allen Fabrikhöfen, wo das Weibliche waltete. Sein Schicksal hatte sich unter den Leierleuten herumgesprochen. Die Frau des blinden Mannes hatte dafür gesorgt, die Verleiher blieben 142 ihm ungünstig, es war nicht möglich, auf diese Weise zu einem Instrument zu kommen.

Nun hatte er den Gedanken gehabt, er müsse sich so viel zusammensparen, um sich eines Tages bei Herrn Pullrich eine eigne, neue Drehorgel zu kaufen und dann auf eigenen Füßen sein Geschäft zu beginnen, wie es anderen geglückt war. Er fühlte, daß das ein sehr ehrenwerter Gedanke war, und er kam sich im Lichte dieses Gedankens selbst so anständig vor, daß er auch seinen Hundchen eine besondere Liebe im Gefühl dieser Anständigkeit schenkte, was ihn innerlich rührte über sich selbst. Unverrückt hielt er auch die Idee fest, mit dem einzelnen Gelde, welches er verdiente, den Gelderwechsler für Kellner zu machen, um so seinem Ziele näher zu kommen, das in dem Millionärstraum gipfelte.

Aber wie so viel verdienen, daß er das Geld zu einem Kasten erübrigte? Er machte alles durch, womit er so viel einzunehmen hoffte, daß er emporkäme. Streichhölzchen, warme Würstchen versuchte er abends abzusetzen, nachmittags lief er in Zeitungsexpeditionen, um eine Anzahl Exemplare zu erhalten, die er kolportierte, aber er setzte nie so viel ab, daß er für seine Person mehr hatte, als was er brauchte, um sich Brot und Wurst zu kaufen, seine Schlafstelle zu bezahlen und Stiefel und Kleider in stand zu halten. Und er hatte selbst noch nicht einmal herausbekommen, daß er ein viel zu hübsches, vornehmes Gesicht hatte und daß 143 infolgedessen die Leute in den Restaurants ihm nichts abnahmen. Saßen Damen dabei, so schauten ihn diese zwar mit stets erwachender Teilnahme an, aber die Herren kauften eben deshalb bei ihm nicht. Die wenigsten überlegten sich die Gründe, es war nur ein Instinkt, daß man lieber von anderen kaufte, die dümmere oder gleichgültigere oder verkommene Gesichter hatten. Die Damen aber, welchen der hübsche, junge Mann gefiel, wagten eben deshalb zumeist nicht, ihre Männer, Freunde und Begleiter aufzufordern, ihm eine Scherzkarte oder Ansichtspostkarte abzukaufen, sondern irgend ein dunkles Gewissensgefühl über ihr Wohlgefallen ließ sie verstummen, und erst, wenn der Schallerfritz fort war, konnte er wohl manchmal das Wort hören: »Das war ja ein merkwürdig hübscher Kerl!« oder: »Na, was will denn so einer!«

Halb und halb ahnte der Hinkefritze zwar so etwas; daß man ihn für einen netten Kerl hielt, was er ja auch bei allen Stubenmädchen erfahren hatte, bereitete ihm Genugtuung und machte ihn einigermaßen eitel. Aber daß gerade sein Aussehen in den Geschäften, die er versuchte, ihm so hinderlich war, konnte er sich nicht denken. Nur manchmal kam etwas wie ein flüchtiger Schluß in ihm auf, daß vielleicht sein Äußeres mit seinem geringen Verdienst zusammenhängen könne, aber er wußte dann doch nicht, woran es lag.

Er gab sich nun alle Mühe, anderen 144 Herumträgern ihre Kunstgriffe und Schlauheiten abzusehen, aber wie es ihm mit dem griechisch deklamierenden Kolporteur gegangen war, so war es auch bei anderen: Niemand wollte sich einen Konkurrenten großziehen. In einem Restaurant sah er einen Silhouettenschneider, der in schwarzem Papier die Schattenrisse der Gäste ausschnitt und hübsch Geld einnahm, er hatte gedacht, das könnte er auch machen, setzte sich zu dem Mann, als dieser nach getaner Arbeit sein Bier trank, und wollte von ihm Gesichter schneiden lernen.

»So,« sagte der Mann, »Gesichter schneiden willst du von mir lernen? Na jib mal acht!«

Damit schnitt der Mann mit seinem eigenen Gesicht eine Lachfratze und steckte dann die Zunge zwischen den Zähnen durch. »So,« sagte er, »nun mache det mal nach! Wenn de das kannst, denn kannste auch Gesichter schneiden!«

Der Schallerfritz war nicht verlegen, zog einen Sechser aus der Westentasche und sagte: »Wat kost't die Vorstellung? Ick geb 'n Sechser.«

Dafür rächte sich der Sihouettenschneider mit dem Wort:

»Geh du doch und handle mit türkischem Honig und stell' dich an eine Straßenecke, wenn de nicht Kellner in eine Damenkonditorei werden willst! Da kannste 'n jroßes Geschäft machen mit deiner Physiognomie; ick verstehe mich darauf, denn ich sehe jedem Jesichte an, wozu 's da ist, det bringt mein künstlerischer Beobachtungsblick so mit!« 145

Der Mann hatte seinen Rat in allem Ernst gegeben. Wenn der Hinkefritz mit türkischem Honig gehandelt hätte, würde er gewiß großen Mädchenzulauf gehabt haben; er aber nahm einen solchen Rat sehr übel, da es ihm eine Herabsetzung zu sein schien, und rief überlaut durch das Lokal:

»Und du schneidest alle Jesichter zu lange Nasen von die anwesenden Herrschaften, und den Damen schneidest du det Unterkinn zu, als hätten sie Stiefelsohlen unterm Munde; du willst 'nen Menschenkenner sind?«

»Geschäftsschädigung!« schrie der Silhouettenschneider, als einige der Umsitzenden lachten, denn er hatte wirklich die meisten Gesichter arg verschnitten, sodaß die ausgeschnittenen Damen und Herren sich nur schwer wieder erkannt hatten. Der Silhouettenmann fuchtelte drohend mit seiner Schere in der Luft herum, der Kellner kam herbeigestürzt, packte den Schallerfritz am Kragen und rief: »Verlassen Sie das Lokal! Sie vereinigen groben Unfug mit Hausfriedensbruch!«

»Na, na, ick jehe ja schon,« sagte der Hinkefritz gelassen. »Ick habe immer Respekt vor die hohe Obrigkeit. Ick bitte um Entschuldigung, aber er hat mir beleidigt mit türkischem Honig!«

Und damit hatte er wieder auf der Straße gestanden, um von neuem über die Heftigkeit des menschlichen Konkurrenzkampfes nachzudenken und über die Unmöglichkeit, daß er so viel Geld 146 verdienen konnte, um etwas für die Anschaffung seines Leierkastens sparen zu können.

»Ick muß 'n Übermensch werden,« wiederholte er am anderen Morgen, nachdem er in halb schlafloser Nacht darüber nachgedacht hatte, was er eigentlich tun könnte, um seinem Ziele näher zu kommen In jener Zeit war in allen Zeitungen fast täglich das Wort Übermensch zu lesen, und der Hinkefritz hatte die dunkle Vorstellung, daß irgend ein berühmter Philosoph das Wort erfunden hatte, um damit höchst gewissenlose Menschen zu bezeichnen, die sich im Zoologischen Garten an den Tigern und Panthern ein Beispiel nahmen und rücksichtslos ihre Mitmenschen beraubten, umbrachten, wenn sie dadurch zu Millionären und höheren Aristokraten sich emporschwingen konnten. Die Erfahrung mit dem Silhouettenschneider hatte eine alte Vorstellung in ihm zur Reife gebracht, nämlich, daß er statt zu warten, bis er genügend Geld verdient hatte, sich lieber mit Gewalt in den Besitz einer Orgel setzen mußte. Einbrechen, eine Drehorgel rauben, mit ihr das nötige Geld verdienen, das war das, was ihn zum Übermenschen machen sollte, und mit der Schlauheit und Gewaltsamkeit eines Tigers mußte es geschehen. Und heute sollte die entscheidende Tat vollbracht werden. Heute wollte er nachts beim Tischlermeister Ulbrich einbrechen, um mit Gewalt sich die beste Drehorgel anzueignen. Da er beschlossen hatte, sie nach Gebrauch regelmäßig wieder an ihren Platz 147 zu bringen, so hatte er sich klar gemacht, daß niemand ihn wegen Diebstahls bestrafen könne, sodaß er der Polizei jederzeit mit der gewohnten Gelassenheit gegenüber treten könne, um seinen Sinn für die öffentliche Ordnung zu bewähren. Er hatte die Nacht über nachgedacht, bei wem er einbrechen solle, bei Pullrich, Heinicke oder Ulbrich oder sonst einem Verleiher. Alle seine Gefühle hatten sich zuletzt in den Gedanken geeinigt, daß bei Tischlermeister Ulbrich die Umstände am günstigsten lagen, da dessen Orgelschubben hinter seiner Werkstatt in einem engen Hofe lag, aus dem man in einen Kellerraum gelangte, der wiederum einen anderen Aufgang hatte, mit dem man in der Nähe der Haustüre hinaus konnte. Für den Notfall hatte er sich in einer Kaschemme Nachschlüssel, Dietrich und andere Diebsschlüssel zu verschaffen gewußt, mit denen er, nachdem er sich ihre Hantierung hatte zeigen lassen, widerspenstige Schlösser zu entriegeln dachte. Sein Entschluß stand fest, die kommende Nacht sollte der Einbruch erfolgen. Und als er nun mit diesem Entschluß die beiden Dachshundchen mit verhängter Miene zu sich aufschauen sah, beschloß er, sie mit auf den Diebsweg zu nehmen, da er ihre unergründliche Schweigsamkeit schon kannte, wenn sie auf einer Fährte waren oder merkten, daß ihr Herr etwas Schweigsames vorhatte. Da bellten sie nicht einen Laut, sondern zeigten stundenlang eine Miene, als wäre Diskretion für sie eine schwere, aber unverbrüchliche Pflicht 148 und Ehrensache. Er überlegte, daß er unter Umständen doch entdeckt, festgenommen werden und bis zur näheren Aufklärung in Untersuchungshaft gehalten werden könnte. Hätte er seine Hundchen nicht bei sich, so würden dann diese ohne Herren und Ernährer sein, während sie mitlaufen würden, wenn sie mit ihm waren. Und angesichts des verwegenen Entschlusses seiner Seele, der über seine ganze Existenz entscheiden sollte, fühlte er, daß es ihm ganz unmöglich war, sich von den armen, verständigen Hundchen zu trennen, die ihn zudem an die Wilhelmine erinnerten, an die er wie an einen schönen Traum aus einer besseren Welt dachte. Wenn er sich nun im Keller des Ulbrichschen Hauses einschließen und verborgen halten wollte, so wußte er, daß seine beiden Dachse still wie das Grab sein würden. Und daraufhin wollte er es wagen.

Diesen Tag, der ihn zu einer anderen Menschenklasse hinaufbringen sollte, wollte er nichts arbeiten und verkaufen, sondern in seiner Weise blauen Montag machen mit seinen Dachsen. Er zog sich gemächlich an in einer Art von Sonntagsstimmung, steckte das Schlüsselzeug zu sich, pfiff seinen Hundchen, indem er ihnen noch einige Verhaltungsmaßregeln gab, daß sie ja recht gehorsam und schweigsam sein sollten, und verließ seine Schlafstelle. Dann stieg er die Haupttreppe hinunter und erschien unten auf der Straße. –

Es war ein schöner Tag, die Asphaltpflaster 149 der Straße lagen glatt und sauber wie ein frischgefegter Tanzboden da vom kühlen Winde, der alles trocken geleckt hatte. Die Sonne schien über die Hausfirste in die großen, weiten Gassen hinunter, auf das morgenliche Menschengewühl, das sich am Alexanderplatz und um die Zentralmarkthalle mit allerhand einkaufenden Händlern drängte, die von allen Vororten her mit Wagen und Pferden, mit Dreiradkarren, Handwagen und allen möglichen Körben angekommen waren, um Hasen, Gänse, Gemüse, Kartoffeln, Apfelsinen in Massen aufzukaufen, die oben auf der Stadtbahn in den Eisenbahnzügen in großen Waggons ununterbrochen eingelaufen waren, durch die Unternehmer in die Markthallen herunter befördert und im Großverkauf und Kleinverkauf an die Einkaufenden abgegeben wurden.

Mit einem wundersam gehobenen Gefühle schlenderte der Schallerfritz unter den hohen Glasdächern dieses Markthallengetriebes mit seinen Bergen von Hasen und Rehen und Hirschen, mit den Mehlsäcken und den Tausenden von Gänsebäuchen und allen Fruchthaufen der Jahreszeit. Von hier aus wurde der größere Teil der Millionenstadt gespeist; Schallerfritz beobachtete den Handel und Wandel, das Wägen, Verladen und Arbeiten mit dem Gefühl, daß ihm das alles wie ganz neu vorkam, da er fühlte, er sah das jetzt alles als ein angehender Übermensch an. Er war sich nicht ganz klar, ob er sich nur als einen neuen 150 Gewaltmenschen fühlte, der diese Nacht etwas Heldentathaftes tun wollte mit Edelmut und Grausamkeit zugleich, oder ob er sich zugleich als ein höheres Wesen zu fühlen habe; jedenfalls kam er sich vor wie innerlich erneut, ja, eigentümlich verklärt, indem er sich sagte: »Ja, det allens sieht nun der anjeborene Übermensch mit seine höheren Augen an!« –

»Jroßartig is et!« meinte er im Überblick über diese Markthallenwelt, und nachdem er ihren Anblick genügend ausgekostet hatte, beschloß er weiterzugehen, um zu sehen, wie Berlin im übrigen, mit Übermenschenaugen angesehen, sich ausnähme.

Er schlenderte weiter die Königsstraße hinab, bis er auf der Brücke über die Museumsinsel hinauskam und nun von dem weiten Asphaltparkettboden mit einem Überblick das großmächtige Hohenzollernschloß mit dem Nationaldenkmal Wilhelms I., mit den brüllenden Löwenungetümen, auf der anderen Seite den hochgewölbten, neuen Dom, die hohen, griechischen Säulentempel der Museen, jenseits der Spree das Zeughaus mit seinen Steinpanzern und Helmen, die anderen Paläste und das Opernhaus übersah. Mit einem innerlich feierlichen Gefühl, das ihn im Anblick der mächtigen Gebäude, des weiten Platzes, der gedrängt in den Himmel sich wölbenden Domkuppel überkam, wanderte er um das Denkmal König Friedrich Wilhelms herum und um das große Brunnenbecken vor dem Museum, das, wie er in der 151 Zeitung gelesen hatte, aus einem einzigen Steinblock bestand, den man mitten im märkischen Lande gefunden hatte und der einst zu Urzeiten von den Gletschern Schwedens während der Eiszeit allmählich bis ins Markland abgerutscht war.

Er fand, daß dieses Becken noch einmal so gewaltig und mächtig auf ihn wirkte, indem er es im Lichte der nächtlichen Tat ansah, die er vorhatte, denn die Gewaltsamkeit seines Vorhabens schien ihm der Gewaltsamkeit der Naturereignisse zu entsprechen, die einst einen solchen Block von den Gebirgsrücken Schwedens losgerissen und allmählich auf dem Rücken des Urzeiteises bis ins Landwellenland der Mark verschleppt hatte. Er fühlte sich diesem Blocke innerlich verwandt.

Dieses Verwandtschaftsgefühl steigerte sich, als er dann hinüber vors Schloß mit dem hohen Eosanderschen Bogentore und vor das Kaisernationaldenkmal trat. Zum erstenmal in seinem Leben, so oft er auch vorüber gegangen war, sah er sich die riesigen, kauernden, aufgerichteten, brüllenden Löwen an mit innerem Bewußtsein, wie sie die mächtigen Pranken über allerhand Kriegsraub und Kriegsgerät halten, das sie mit Beschlag belegten und zu schützen suchten. Er hatte ein kühnes, stolzes Gefühl, daß er nun auch so einer sei, so ein Held und ein Übermensch zugleich, der ebenbürtig solchen Gewaltwesen gegenüberstehe und, wenn es darauf ankäme, einen solchen Löwen womöglich niederringen und ihm alles wegnehmen 152 könne, worüber er seine Pranken legte. Früher hatte er nur mit abfälligen Worten, wie so viele andere Berliner, von diesem Denkmal gesprochen und schnoddrige Bemerkungen gemacht, die sich auf zoologische Gärten, Menagerien und dergleichen bezogen. Jetzt aber erfaßte ihn ein Rausch von heldenhaften Selbstgefühlen, er sah hinauf nach dem Reiterbild, dessen mächtiges Roß in raschem Gange alles zu überreiten schien, während der Kaiser im Mantel ruhig und sieghaft zugleich sich von diesem Streitrosse dahintragen ließ. Schallerfritz mußte den Kopf weit zurücklegen, indem er in die Höhe nach dem Rosse und dem Kaiser schaute; unwillkürlich sagte er halblaut vor sich hin: »Jroßartig is et!«

Und nun in einer Art von Heldenrausch ging er auf die andere Seite des Schlosses, wo der mächtige Neptunsbrunnen in dunkelgrünen Bronzegestalten ragt, in der Mitte der Wassergott Neptunus mit seinem Dreizack langbärtig über den Platz schaut, umgeben von den kleinen Knäbchen, die sich fürchten, ins Wasser zu rutschen vor Kraken und Seegetieren, Hummern und allerhand Fischen und Nixenzeug, während auf dem Brunnenrande riesenmäßig nackte Frauengestalten sitzen, als hätten sie sich eben dahin niedergelassen, ohne sich um die Hunderttausende von kleinen Berlinern zu kümmern, die täglich an ihnen vorübergingen.

Indem Schallerfritz auch diese mächtigen Gestalten im Gefühle seines Übermenschentumes 153 ansah, hatte er für einige Zeit die Empfindung, daß es für ihn eigentlich richtiger sei, eine von diesen großen Weibergestalten zu entführen und mit ihr nach Amerika in die Felsengebirge durchzugehen. Die Wilhelmine Löffler kam ihm auf einmal merkwürdig unbedeutend und in seiner Erinnerung in sich zusammengeschrumpft vor. Er frug sich, warum er überhaupt an eine so kleine Person sein Herz gehängt habe, von der er nicht einmal wußte, ob sie nicht auch etwa mit anderen Liebesverhältnisse hatte. Er frug sich, warum er sich wegen des Vorschusses, den sie ihm gemacht, fortwährend in so große Gewissenskosten stürzte, während es doch viel einfacher war, wenn er sich über solche Lumpereien wie die Aborgelei seines Vorschusses überhaupt keine Gedanken mehr machte und solche kleine Personen, wie die Wilhelmine Löffler, lieber ihrem ameisenhaften Schicksal überließ, wo es ihm auch ganz gleichgültig sein konnte, ob sie heute mit diesem, morgen mit jenem sich küßte, was ja dann in einer ganz anderen, kleinlichen Welt sich abspielte, zu der er gar nicht mehr gehörte. Solche Empfindungen aber gingen nur ganz flüchtig durch seine Seele wie ein Traum, ein Rausch, in dem ihn auch diese großen Brunnengestalten erhielten, er bummelte endlich wieder zurück, und das Ergebnis all seines Schauens und Träumens war auch hier, daß ihm seine Vaterstadt Berlin, seit er sie mit Übermenschaugen ansah, ganz neu und unendlich großartig erschien. In 154 dieser Stimmung schritt er dann die breite Freitreppe zum alten Museum herauf, in dem er noch nie gewesen war. Die Amazone, die hier am Aufgang auf gebäumtem Rosse dem angesprungenen Panther den Speer in den Rachen jagt, gefiel ihm besonders, auch dazu fühlte er etwas Verwandtes in sich. Er kam ins Museum und wanderte dort zwischen den Reihen der griechischen Statuen und den Bildern von Meistern aus allen Jahrhunderten. Während er früher nie Sinn für solche Sachen gehabt hatte, versetzte ihn jetzt alles in ein fortgesetztes Staunen, wie schön das alles sei, was dazu gehört habe, das alles zu malen und zu machen, denn daß er das alles ansah, er, der so kühne und große Dinge in nächster Nacht vorhatte, das machte alles an sich schon so interessant und schön, daß er nach einer nicht zu schnellen Durchwanderung dieses Hauses der Bilder in den hohen Tempel der Nationalgalerie ging, um dort die Bilder des Meisters Menzel vom Alten Fritz, die Kleopatra von Makart und alles andere im Durchgehen zu betrachten! Welche Welten erschlossen sich ihm aus diesen Bildern! Seen, Gebirge, Meeresstürme, Menschen und Könige, Königinnen in Trachten aller Zeiten, deren Bedeutung er zwar im einzelnen nicht verstand, welche aber ein Gefühl für die Weite und unendliche Vielseitigkeit des Lebens in ihm erweckten, das ihn mit immer gesteigertem Erstaunen erfüllte. Griechische Götterbilder, auf Panthern rückwärts gelagerte Bacchantinnen, 155 von Venusarmen umklammerte Tannhäuser, im Treppenhaus des alten Museums wiederum die großen Geschichtsschilderungen einer Hunnenschlacht in den Lüften, einer Zerstörung Jerusalems; alles zeigte Gewaltereignisse und gewaltig handelnde Menschen, und er, Fritz Schaller aus Berlin, war es, der das alles wie in einem Taumeltanz unendlicher Gestalten durch seine Phantasie und an seiner Einbildungskraft vorüberstürzen sah. Als er wieder aus den Museen herauskam, hatte er einen leisen Schwindel von all dem Gesehenen. Und so mußte er auch noch nach dem Zeughaus hinübergehen.

Er schlenderte in gehobener Stimmung, da überall freier Eintritt war, auch dort hinein, und gleich das erste, was er sah, waren die gedrungenen Hallenwölbungen des Erdgeschosses voll von Kanonen aus allen Jahrhunderten, die an so vielen Schlachten teilgenommen, über deutsches, böhmisches, französisches Land hin stundenweit ihre Kugeln hingeschossen und ganze Garben von Menschen hingemäht hatten! Ja, wer so eine Kanone wäre, die alles wegmäht, was ihr im Wege ist, um ans Ziel zu gelangen, Köpfe, Menschenbeine, Mauern und Kirchtürme! Und oben dann die Ruhmeshalle mit den Apotheosen, den gemalten Deckenwölbungen und in den weiten Hallen die Erinnerungen berühmter Männer, der Dreimaster Napoleons I., Uniform und Degen des alten Kaisers Wilhelm, die Orden desselben und die seines Sohnes, Kaiser Friedrichs, mit all dem 156 Gold, Silber, den Edelsteinen und der Farbenpracht, die an den Pfeilern von den aufgehangenen Schlachtenfahnen ausging!

»Jroßartig is et!« sagte Schallerfritz vor sich hin, als er aus dem Museum wieder auf die Straße »Unter den Linden« heraustrat, wo eben die Wachtparade nach dem Schlosse marschierte und über dem Schloßdache die Fahne wehte zum Zeichen, daß der Kaiser darin sei. Ganz Berlin erschien dem Schallerfritz selbst in einem übermenschlichen Lichte, wie sich ein Eindruck über den anderen in seiner Seele türmte von dem Koksesser in der unterirdischen Kaschemme bis zu den marmornen Götterbildern aus dem alten Griechenland und dem lebendigen Kaiser, der drinnen im Schlosse war und dann mit einem blinkenden Ritterhelm und einem weißen, flatternden Federbusch auf dem Haupte die Straße hinunterreiten würde. Als jetzt die Klänge der Parade in breiten Tonwellen über den Platz herüber an sein Ohr schallten, während er wieder oben auf der Freitreppe des Museums stand und unter ihm Paläste und Kuppeln und Brunnen und Denkmäler beim melodischen Klange in hellster Mittagssonne leuchteten, da hatte Fritz Schaller ein Gefühl, als sei er schon ein Millionär, aber ein richtiger amerikanischer mit Milliarden, und als habe er eben einige hunderttausend Taler ausgegeben, um ganz allein den Genuß zu haben, daß er alle diese Herrlichkeiten sehen konnte samt der ganzen Stadt mit ihren dunkelsten Winkeln, die 157 ihm so gut bekannt waren. Und er, Fritz Schaller aus Berlin, er hatte das alles gesehen, im Gefühle, als ein Gewaltmensch mit Übermenschenaugen das alles sozusagen gewaltmäßig im Geiste geraubt zu haben!

Er hatte darüber schier vergessen, daß es Zeit war, ein Mittagbrot zu essen, und da mit morgen bessere Tage für ihn anheben würden, wollte er sich nun einmal etwas Gütliches tun und nicht so geizig wie sonst sein, wo er sich meist nur ein Stück Wurst gönnte, sondern in ein Gasthaus gehen und warm essen, Suppe, Braten und ein Glas Bier dazu! Dabei wollte er all die geschauten, großartigen Herrlichkeiten langsam mit verdauen, als wäre er auf einer großen Auslandsreise gewesen und denke nun über seine Reiseeindrücke in der Stille behaglich nach. Er stieg die Museumstreppe wieder hinunter, um seine Absicht auszuführen. Als er unten an den Brunnen kam, schlenderte von dort ein Bummler auf ihn los, den er von Angesicht kannte und, wie er glaubte, auch in der Kaschemme beobachtet hatte, in welcher der Koksesser sich hatte sehen lassen. Der Kerl sah ziemlich heruntergekommen aus, hatte abgeschabte Kleider an und keinen Kragen am Leibe, sondern nur ein rotes Tuch um den Hals geschlungen. Er schob sich an den Schallerfritz von der Seite heran und sagte:

»Na, Hinkefritz, wat macht die Orgelum-Orgelei? Man sieht dir ja gar nicht mehr mit deiner Vogelknarre. Nach Böhmen mußt du jehn, 158 nach Böhmen, sag' ick dir! Da können die Leiermänner gleich in die Eisenbahnwaggons steigen, dritter, vierter Klasse und uff der Fahrt den Leuten wat vororgeln und Geld einnehmen und bei de nächste Station denn wieder heraus und mit nächsten Zug wieder zurück, wo wieder georgelt, Jeld jemacht wird und denn immer hin und her! Da is doch 'n Jeschäft! Ick komme eben aus Böhmen, 'ne kleene Jeschäftsreise, schönes Land, aber det Bier, det nennen sie dort pivo und ick weeß nicht, wenn ick mir vorstelle, daß es pivo heißt, so schmeckt es mich nicht. Is doch keen Bier, wenn et pivo is! Für mich is in Böhmen nischt!«

Schallerfritz fühlte sich aus seiner gehobenen Stimmung herausgerissen in eine niedere Wirklichkeit, die ihm im Augenblick eine unangenehme Empfindung weckte. Er zog daher die Achseln hoch, als wäre das eine ganz fremde Welt, von der jener da redete, ließ die Schulterblätter dann wieder heruntersinken und sagte von oben herab:

»Na, du scheinst aber ooch nicht zu wissen, wat 'n Übermensch is!« Er wollte damit ausdrücken, daß jemand, der soeben alle diese Herrlichkeiten der Reichshauptstadt mit allen ihren Beziehungen gesehen hatte, um sie in seinem Geist zu verarbeiten, und der so große Dinge vorhatte wie er, nicht gerade in der Laune sein konnte, sich mit so geringfügigen Sachen wie Orgeldrehen auf Eisenbahnwagen abzugeben. Er hatte das mit einem 159 solchen Tone gesagt, daß die beiden Dachse, die immer treppauf, treppab neben ihm hergetrottet waren und still sitzend an den Museumstüren auf ihn gewartet hatten, plötzlich einen ganz kurzen Bellanschlag gaben, erst der eine, dann der andere, worauf sie wieder ganz griesgrämliche Gesichter machten und in ihr altes Schweigen zurückfielen.

Der Bummler aber zog mit schlauer Miene einen Hammer aus der Tasche, hielt ihn dem Schallerfritz vor und wendete ihn hin und her, indem er mit heiserer Stimme sagte:

»Wat en Übermensch is, det wüßte ick nicht? Traust du mir keene Bildung zu, Schallerfritze? Aber Bildung habe ick ooch. Wenn ick mal 'nen Übermenschen mache, denn weeß ick, wat ick tue! Hier der Hammer, verstehst du! Und damit in Tierjarten und PuppenalleeIn Berlin und in der Mark nennt das Volk jede Statue und Figur eine »Puppe«, nicht zum Scherz, sondern Puppe ist das deutsche Wort für Statue. mit die janze deutsche Jeschichte von Albrecht dem Bären bis zu Bismarck! Und dann alle jroßen Helden von die deutsche Jeschichte die Nasen oder sonst wat abjehauen, wat losjeht! Ist ja schon dajewesen! Sie haben die Attentäter aber nicht erwischt!«

Schallerfritz sah den Kerl von oben bis unten an und hatte ein Gefühl, als wäre der wohl imstande, so eine Untat auszuführen. Er hatte ein Gefühl, als müsse er dem Manne den gefährlichen 160 Hammer abnehmen, damit so eine Sache nicht geschehen könne, und sagte:

»Zeige mal her! Is 'n guter Hammer, wat?«

»Wenn du ihn haben willst, ick brauch ihn nicht! Ick hab' ihn schon zu wat anderen jebraucht, denn wenn mal so 'ne Latte losjejangen ist, wo man überjestiegen is, is ja wohl besser, wenn man ihr wieder vernagelt.«

Er ließ dem Hinkefritz bereitwillig den Hammer und der steckte ihn in einem ganz eigentümlichen Gefühl seiner Seele ein, indem er sich auf einmal wie ein Fremder vorkam, der eigentlich, seit er Übermensch war, gar nicht mehr der richtige Fritz Schaller war. Er sagte: »Na, wat soll denn det für 'ne Kunst sind, tote Puppen die Nasen oder die Finger abzuschlagen, die Ihnen nicht mal wehren können?! Det kann 'n jeder.«

»Ja,« sagte der andere, »det wäre auch nicht das Richtige! Sondern, wenn ick Übermensch mache, denn haue ick und haue noch mal und denn noch mal, bis mir der Nachtwächter sieht. Und denn tu ick, als wollte ick ausreißen, lasse mir aber erwischen! Und nu jroßartig, weeßt du! Jetzt laß ich Verdacht auf mir sitzen, det ick ooch damals den Askaniern die Nase abgeschlagen. Na, und nu in alle Zeitungen! Sechs Wochen lang schreiben sie nur von mir. Und denn Jerichtsverhandlung. Ick ertrage alles, ick leiste 'n jroßartiges Jeständnis und bekenne, daß ick die Puppenkrankheit hätte! Jawohl, Puppenkrankheit! Denn wenn ick eine 161 Figur ansehe, wie sie so dasteht, als wäre sie einer und doch immer so steht, und keen Wort sagt, denn ärgere ick mir über diese Unnatürlichkeit und haue los! Und nun alle Psychiatriker und die ganze Sozialpsychologie und Irrenärzte und dann wieder die Nationalökonomen auf mir losjelassen und Sachverständigengutachten! Und denn wieder die Juristen, wie der Fall juristisch liegt, Gutachten und die Interviewer von Zeitungen aus die janze Welt bei mir! Na, und denn entweder 'n Jahr ins Kittchen – schlimmer kann't ja nicht werden, oder unter ärztliche Beobachtung gestellt, und det muß man ooch ertragen! Denn nun gib mal acht, Schallerfritz, nu kommt et. Wenn ick wieder heraus bin, Engagement in höheres Pariété! Ick jehe aufs Überbrettl und lasse mir für Jeld sehn! Der Mann mit die Puppenkrankheit! Nu schreiben wieder alle Blätter von mir! Die jrößte Hälfte hat mir überhaupt schon als psychologischen Fall behandelt und aus der neuesten Seelenlehre verteidigt. Ick bin nu 'n Fall und wenn ick een Fall bin, denn bin ick ooch 'n Übermensch, und Jeld verdienen is dann alles! Also so mache ick Übermensch, wenn ick so mache!«

Der Bummler schwieg. Schallerfritz schwieg auch. Er mußte die Vorstellungen, Schlüsse und Beobachtungen des Redners erst durch seinen Kopf gehen lassen, denn daß es in dieser Welt so zuging und unfehlbar so kommen würde, wie der andere geschildert, das war nach allem, was er 162 in Zeitungen gelesen hatte, nicht zu bezweifeln. Aber wer würde eben so etwas tun! Und wozu auch erzählte der Kerl das alles und malte solche Sachen aus!

»Na, adjüs, Schallerfritze!« sagte der andere. »Ick habe nu noch wat anderes vor! Habe mir sehr geschmeichelt gefühlt, mit dir ooch mal wieder jeredet zu haben.«

Und damit bog der Mann am Spreeufer ein, um die alten Gassen am Wasser hinunter zu gehen, während Schaller wie vor den Kopf geschlagen zwischen den beiden Dachsen stehen blieb und wie in innerlicher Enttäuschung und tiefster Unklarheit vor sich hinsah. Endlich setzte er sich wie mechanisch in Bewegung, um dem anderen auf dieselben alten Gassen nachzugehen und endlich in einem Kellerlokal zu verschwinden. Er hatte ganz vergessen, daß er hatte warm essen wollen, er bestellte sich nur ein Stück Wurst und fütterte seine Hunde. Aber er trank ein paar Glas Bier mehr als sonst. Und als davon ein leiser Dusel seinen Kopf einnahm, wurde ihm wieder besser. –

Es war schon dunkel geworden. Auf den Gassen leuchteten schon die gelben, trüben Gasflammen und die weißblauen Blasen der elektrischen Leuchtkugeln. Über die Gertraudtenbrücke flutete der dunkle Strom der Menschen und Wagen hin, lautlos glitt das Gewässer unter der Brücke durch und gurgelte nur leise an den Brückenkanten.

Fritz Schaller hatte sich innerlich aufgerafft, 163 um die entscheidende Tat zu tun. Die Hände in den Rocktaschen, wovon er mit der Rechten den Hammer fest umgriffen hielt, um ein Gefühl der Gewaltsamkeit seines Vorhabens vor sich selbst zu bekunden, schritt er mit dem Menschenstrom über die Gertraudtenbrücke in die dunklen Viertel kleinerer, enger Häuser hinter dem Rathaus, wo der Tischlermeister Ulbrich wohnte und seine Werkstatt hatte. Die Dachse liefen verständig hinter drein. In der Nähe des Ulbrichschen Hauses machte er Halt und beobachtete aus einiger Entfernung die Haustüre. Er erwartete einen geeigneten Augenblick, wo er ungesehen hineinschlüpfen konnte, um sogleich nach dem Keller herab zu gelangen und sich dort verborgen zu halten. Die Tür blieb gleichmäßig zugeklinkt, es schienen nur wenig Leute ein und aus zu gehen. Die Fenstervorhänge an der Front waren heruntergelassen, oben im ersten und zweiten Stock aber sah man die Fenster erleuchtet und einzelne Stücke von den Stubendecken; ab und zu ging auch wohl einmal ein Schatten an den Fenstern vorbei.

Schallerfritz stand eine lange Weile. Er überlegte, wenn ihn beim Hineingehen ins Haus Jemand sah, daß dann sofort aller Verdacht auf ihn fallen würde, wenn man in den nächsten Tagen eine Drehorgel im Verleihgeschäft vermißte oder sie dann später wieder an ihrer Stelle vorfand, nachdem er sie zurückgeschmuggelt hatte. Endlich, da niemand herauskam, ging er allmählich näher, 164 klinkte die Türe auf und ließ durch die Spalte die beiden Dachse herein, weil er dachte, wenn jemand im Korridor wäre, würde er sogleich mit den Dachsen reden oder diese würden kurz anschlagen. Da konnte er sich noch rechtzeitig zurückziehen. – Er sah, wie die schwarzen Hundchen hineinschlüpften und ihre Schwänze dabei kurz hin und her wackelten. Als es drinnen still blieb und nach einem kurzen Weilchen das eine Dachshundchen seine Nase wieder durch die Türspalte durchsteckte, fühlte er, daß das ein Signal sei, welches ihm der ahnende Verstand des Hundewesens geben wollte. Leise schob er die Türe weiter auf und ebenso leise ging er auf den Zehen an der Korridorwand hin, bis er zur Kellertreppe kam. Die Hundchen merkten, daß er auf den Zehen ging, steckten die Köpfe stumm zusammen, ließen dann ihre Gesichtsfalten wieder wie dunkle Vorhänge über Maul und Nase fallen, lüfteten leise ihre Hängeohren und schlüpften mit kurzem Zucken ihrer Schwanzspitzen die schwarze Kellertreppe hinunter. Es war unten sehr dunkel und Schallerfritz mußte sich langsam hinunterbewegen. Er hatte große Sorge, daß er auf eine Kohle treten könnte, die ihn durch ihr Knirschen und Zerknacken verraten würde. So tastete er sich allmählich tiefer in die Kellergänge hinein.

Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er unterschied nun die kohlenstaubigen Latten der Kellerverschläge, sah hinter den Verschlägen auch Holz- und Kohlenhaufen und suchte 165 eine Stelle ausfindig zu machen, wo er in einer Ecke hinter den Verschlägen sich verbergen könnte, wenn jemand käme. Auf einmal merkte er, wie es ihm über die Kopfhaut fuhr, als wenn jemand mit einer Stiefelbürste darüber striche, denn er glaubte, oben auf der Flur Schritte zu vernehmen und zu hören, daß diese Schritte sich der Kellertreppe näherten. Da entdeckte er in der hintersten Ecke zwei große Waschfässer, die aufrecht an die Wand gelehnt waren; mit einem Gefühl unnennbaren Grausens kauerte er sich rasch hinter die Waschfässer, sodaß er wie in einem Schilderhaus durch die Faßböden, die nach dem Keller zu standen, dem Auge entzogen war. Wie zwei dunkle Ratten waren auch die beiden Dachse zu ihm geschlüpft, er konnte sie noch an sich drücken, sodaß sie lautlos zusammengekauert neben ihm hockten.

Die Schritte kamen näher, dann kam es mit Licht den Gang entlang und dann – es konnte nur wenige Schritte entfernt von ihm sein – rasselte es mit Schlüsseln, knackte ein Schloß auf und schien in den Verschlag zu gehen, an dem seine Fässer mitlehnten. Von alledem sah er nichts, denn es fiel nur zwischen zwei locker gewordenen Faßdauben ein Lichtstrahl durch, ohne daß er doch sehen konnte, was vorging. Dann aber begann es im Verschlage mit Holz zu platzen, er hörte, daß auf einem Hackeblock Holz gehauen werden mußte, denn immer hörte er Scheite fallen und dann wieder das Beil anschlagen. 166

Anfangs war er ganz wie im Traume vor Furcht, daß man ihn doch merken oder durch Zufall einer seiner Dachse doch anschlagen könnte. Diese aber saßen mit hochgelüfteten Ohrlappen steif da wie auf dem Anstand, wagten kaum mit den Augen zu rollen und gaben keinen Laut von sich. Da ward er allmählich ruhiger, zumal das regelmäßige Fallen der Holzscheite verriet, daß die Person augenscheinlich keinen Verdacht hegte und keine überflüssige Neugier zu spüren schien, ob etwa hinter den Fässern irgend etwas stecke.

Indem er aber ruhiger wurde und nur den Hammer etwas fester faßte, um sich den nötigen Gewaltmut zu machen, fiel ihm ein, was das eigentlich für ein grausam Los sei, daß er als ein Übermensch, der den ganzen Vormittag im Anblick von hundert übermenschlichen Herrlichkeiten zugebracht hatte, hier unten im Finstern kauern mußte, irgendwo in Berlin mitten unter der Erde, versteckt hinter einem alten Fasse, wo er sich nicht rühren und regen konnte, und wie es schien, wer weiß wie lange hocken mußte! Denn das Holzhacken nahm gar kein Ende. Er hörte deutlich, daß größere Klafterstücke heruntergeworfen wurden, sodaß er schloß, ein Tischlergeselle mache für längere Zeit das Kleinholz für die Werkstatt und Leimsiederei zurecht. Ging das so fort, so konnte er ein paar Stunden hier kauern, ohne ein Glied rühren oder niesen zu können. Denn er merkte, daß ein starker Schnupfen bei ihm im Anzuge war. 167 Der hatte ihn schon wiederholt in der Nase gekitzelt. Und jetzt sollte Wirklichkeit daraus werden. Jetzt merkte er, wie es ihm immer schärfer und spitzer in die Nase stieg und daß er es nicht mehr halten konnte. Er mußte all seine Geistesgegenwart zusammen nehmen, um sich zu sagen, daß er mit dem Losniesen jedenfalls bis zu einem Augenblicke warten mußte, wo ein Scheit Holz krachen würde – denn dabei würde es der Holzhacker nicht hören können. Wenn er aber auch nur einen Augenblick zu früh oder zu spät sich erleichterte, so fühlte er, war er entdeckt und ein verlorener Mann. Er lauschte in leiser Qual, wobei ihm schon das Wasser über die Augen lief, wie der Hacker das Beil aufsetzte; jetzt mußte er loshacken und er hörte den ersten Anhieb, jetzt mußte es krachen – es krachte richtig, gleichzeitig hatte auch er sich erleichtert.

Ein Weilchen saß er wie verstört, er fürchtete, man habe ihn doch gehört. Aber das Hacken ging ruhig weiter, er hatte es wirklich noch gut abgepaßt. Aber nun kam auf einmal ein Gefühl unsäglicher Wehleidigkeit und stillen Jammers über ihn, daß er als einer, der alle großartigen Gefühle des Übermenschentums am Vormittag durchgemacht hatte, hier nun eingeengt sitzen mußte und nicht einmal freimütig den Empfindungen seiner Nase folgen konnte. Wenn er sich vorstellte, daß er sich schon gewissermaßen im Besitze einer Milliarde gefühlt hatte und hier nun in der unbequemsten 168 Stellung hocken mußte, um sich eine alte Drehorgel gewaltsam zu leihen, durch die er einen Vorschuß von nicht viel mehr als zwei Mark zurückzuerstatten hoffte, so schien ihm dieses Los ebenso kläglich wie aussichtslos, und er fragte, warum er überhaupt sich in eine so verzweifelte Lage gebracht hatte. Wohl sagte er sich, daß es seine Solidität, seine Gewissenhaftigkeit, seine Ehrlichkeit sei, die ihn hier in den Keller geführt habe, um seine Gewalttat zu tun, aber hatte er es deshalb verdient, daß er wie ein lebendig Begrabener in der dunkelsten Kellerecke vor Angst und zielloser Aufregung vergehen mußte, in der Gefahr, wenn man ihn entdeckte, für einen Verbrecher, Mörder, Einbrecher gehalten zu werden? Hatte er nicht stets mit der hohen Polizei sich im besten Einvernehmen zu halten gesucht? Und war er nicht auf seine Ehrlichkeit und Solidität geradezu stolz? Rührte ihn diese seine bisher gewahrte Anständigkeit nicht außerordentlich, ebenso wie seine Sorge für die beiden verständigen, verschwiegenen Dachse, die leise unter seiner Hand zu zittern anfingen an ihren Schenkeln und Bäuchen, als fürchteten auch sie sich vor etwas Unbekanntem? Nein, dieser Zustand war unerträglich; so konnte er als Übermensch nicht länger im Dunkeln hocken.

Etwas anderes, Gewaltigeres mußte er tun, etwas, was ihn vor sich selbst groß und heldenhaft machte. In seiner Angst gingen ihm fortwährend die Bilder vom Übermenschentum durch 169 den Kopf, die der Bummler entworfen hatte, so etwas oder doch etwas Ähnliches mußte er tun, um vor der Welt und sich selbst groß dazustehen, aber wegen eines Leierkastens und zwei Mark hier aus Solidität in alten Fässern zu stecken, all den damit verbundenen Gefahren ausgesetzt, das war unwürdig und jedenfalls in keiner Weise in Einklang zu bringen mit all der inneren Großartigkeit Berlins, seiner Vaterstadt, die er am Vormittage bewundert hatte.

In solchen wirren und angstvollen Empfindungen lauschte er dem Platzen des Holzes, als auf einmal das beilschwingende Wesen, das er nicht sehen konnte, zu singen begann. Eine Stimme fing an, das Liedchen: »Hast du nicht den kleinen Kohn gesehn« zu trällern. Dieses Liedchen sang zu jener Zeit ganz Berlin nach einer neuen Operette, wie man einst das »Hupp dich, Jule« und »Mutter, der Mann mit dem Koks ist da« auf allen Gassen vernommen hatte. Mit einem unendlich erleichterten Gefühle vernahm der Hinkefritze, daß es eine weibliche Stimme war, eine weibliche Himmelstimme, die wie eine Retterstimme klang. Denn bei seiner Hinneigung zu dem Geschlechte der Dienstmädchen und Köchinnen, bei dem Eindruck, den er sich bewußt war, auf dieses angenehme Geschlecht zu machen, wuchs ein mächtiger Mut in ihm empor, und er beschloß nun wirklich einen Gewaltschritt zu tun, um aus seiner beengten Lage mit einem kühnen Entschlusse herauszukommen. 170 Die Stimme sang ahnungslos weiter; leise begannen aber jetzt die beiden Dachse, die bisher so vertrauenswürdig geschwiegen und diskret jede Gefahr mit ihrem Herrn geteilt hatten, zu heulen, indem sie die Köpfchen emporhoben. Der Gesang des hübschen Mädchenstimmchens schien sie mit tiefster Wehmut zu erfüllen; schon begann der eine eben die Schnauze zu verziehen und machte Anstalt, loszukläffen: Schallerfritz sah ein, daß er nun nichts mehr verheimlichen konnte, mit einem jähen Entschluß rückte er sich hinter den Fässern vor, sodaß das eine umschlug. Er trat auf den Kellergang hinaus und rasch entschlossen nach der Türe des Kellerverschlags, wo die Stimme herkam.

Dabei gab es aber einiges Gepolter und die Dachshunde kläfften nun kurz und knurrten etwas Unheimliches über den Kellerboden hin; die Stimme hörte jäh auf zu singen, das Holz krachte nicht mehr. Mit dem Beile in der Hand aber trat ein hübsches Fräulein in die Verschlagstüre und rief: »Na nu, was is denn da für eener mit zwei krummbeinigen Hundeckens? Will er Ratten jagen?«

Schallerfritz erkannte das hübsche Gesicht des Dienstmädchens beim Meister Ulbrich und sagte, indem er all seinen Mut zurückerlangt hatte, mit etwas untertänigem Tone:

»Na, Sie werden mir doch wieder erkennen, mein Fräulein! Ick wollte mir nur erlauben, Ihnen 171 auch mal 'ne kleene Visite zu machen, weil ick Ihnen doch in Keller hatte jehn sehn! Weil Sie aber so schön gesungen haben,« fuhr er zu dem erstaunten Mädchen fort, »so haben Sie wahrscheinlich nicht gehört, wie ick nach Ihnen die Treppe herunterjekommen bin mit meine beiden Dachse. Ick habe nur aus Versehen in der Dunkelheit hier an die alten Fässer anjerannt und da hat's gepoltert, erlauben Sie, det ick sie erst wieder aufstelle?«

»Der Schallerfritz! Wahrhaftig!« sagte das Mädchen, indem sie ihn mit einiger Genugtuung ansah. »Hat man och 'n mal det Verjnügen? Na, Sie kommen mir jrade recht. Herrgott, so'n Schreck! Ick dachte, es wäre 'n Einbrecher oder so'n Kerl, aber ick wollte mir doch nicht merken lassen, und nun sind Sie et? Na, denn man ran, wenn Sie mir 'ne Visite machen. Denn können Sie mir gleich mal 'n bißken die Masse Holz aufschichten, ick muß ja so ville klein hacken, det ick morgen noch 'n janzen Tag mein Kreuz spüren werde, und dann ooch noch det Zusammenschichten! Na, fassen Sie einmal los und alles hier aufeinander! Na, und dabei können Sie mir ja auch erzählen, wat 's Neuste is in Berlin.«

Mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung sah der Schallerfritz, daß das schmucke Mädchen nichts von seiner Selbstversteckung ahnte und ihm aufs Wort glaubte. Mit einem gesteigerten Erleichterungsgefühl sagte er sich aber auch, daß es nun ganz unmöglich war, seine Heldentat 172 überhaupt auszuführen, und daß er einen Vorwand vor sich selbst hatte, den Keller unverrichteter Dinge wieder zu verlassen.

»Na, mit's jrößte Verjnügen,« sagte er zu dem Mädchen. »Wenn ick Ihnen unterstützen kann in Ihre schwere Berufsart, denn werde ick mir zur Ehre rechnen.«

Und damit begann er den Haufen Spaltholz an der Kellerwand aufzuschichten und mit viel Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit zusammenzustapeln, daß ja kein Scheit etwa vor dem anderen herausspießte. Das ging eine ganz lange Zeit, während er das Mädchen mit allerhand Erzählungen aus seiner Leiermannszeit unterhielt. Sie wußte nämlich auch von seinem Schicksal und hatte ihn darnach gefragt, was er jetzt eigentlich mache, da er doch nicht mehr mit einer Drehorgel gehe. Er erklärte, daß er auf diese Tätigkeit verzichtet habe, da sie ihm zu niedrig sei, und er wohl besseres tun könne, da man nächstens auch viel von ihm hören werde. Denn er habe große Dinge vor, wahrscheinlich würde er bald in die Zeitungen kommen und davon sehr berühmt werden und öffentlich auftreten.

»Ick bin nämlich 'n Fall, 'nen janz merkwürdiger Fall!« sagte er. »Mit mich is et wat Besonderes, ick kann es nur noch nicht so recht machen! Aber det is mein Jlück det ich so'n öffentlicher Fall bin. Sie werden Ihnen wundern! Es wird mir sehr viel Jeld einbringen. Wat brauche ick da 173 noch mit alte Leierkasten zu jehn und mir in die musikalische Wissenschaft zu vertiefen?! Ick will mir aus die Kunst herausziehn. Det praktische Leben bringt mehr ein; die Kunst is mich zu brotlos! – Aber schön war et doch!«

Und nun begann er wieder zurückzudenken und zu erzählen, wie schön das gewesen wäre, wenn er zur Sommerszeit im Norden in Gärten und Höfen erschienen wäre und eine Schar von Kindern sich um ihn versammelt hätten, und die Dienstmädchen und die armen Leute aus der Nachbarschaft zusammengelaufen wären. Und wie man, wo gerade Hochzeit war oder sonst die Leute festlich zusammen gelaufen wären, ihn in die Häuser hereingebeten habe, daß er zum Tanz aufspielen mußte, und die Paare sich um ihn herumgeschwenkt hätten, wobei denn auch für ihn manch Stück Braten und Kuchen und Bier und auch Wein abgefallen wäre. Na, und denn so auch aufs Land hinaus in die freie Natur, wo die Vögel singen und die Felder in Ährenreife standen und die blauen Kornblumen darin und die Schmetterlinge über den Moorwiesen der Mark und der blaue Himmel dazu und darein nun der Klang seiner Drehorgel! Oder am Müggelsee und den anderen Seen im Angesicht der dunkelgrünen Hügelberge, und auf dem Wasser die Kähne mit Herren und Damen, und er mit seinem Kasten am Ufer seine Melodien abgedreht, daß sie auf den Kähnen die Ruder im Takte geregt hätten und sogar die Fische sich 174 versammelt hatten im See oder im Havelwasser, um wohl auch zu lauschen – ja, es wäre das reine Paradies gewesen! Denn natürlich, wenn im Grunewald oder im Machnower Forst ein Liebespärchen gekommen wäre, und er hätte seine Orgel gedreht, da hätten sie sich gleich näher aneinander geschmiegt, na, und hinter seinem Rücken zur Musikbegleitung sich geküßt, und die Pferde der einsamen Waldreiter, der Herren und Offiziere hätten die Ohren gespitzt und im Takte getänzelt! Das sei aber nun alles für ihn vorbei, nachdem er sich aus der Kunst herausgezogen habe, um höher zu kommen.

Dabei war der Schallerfritze wieder ganz wehmütig und kleinlaut geworden, zumal er daran dachte, daß er hier unten in einem schwarzen Kellerloch von den Seen und dem blauen Himmel erzählte, während er Holz schichten mußte, was er gar nicht gewöhnt war.

Das Mädchen hörte alles eifrig mit an, sie merkte, daß der Mann sich ganz traurig fühlte, weil er nicht das Geschäft ausüben konnte, über das er sich so erhaben machen wollte, und daß es ihm auch sonst schlecht gehen mußte in seinem Gemüt. Sie wollte ihn trösten und sagte:

»Na, denn hacken Sie man lieber gleich Holz und wechseln Sie mit mir ab. Denn ich merke mein Kreuz und möchte mir 'n bißken ausrecken. Da will ick mal Holz schichten und Sie können klein machen!« 175

Sie reichte ihm mit einem Blick mitleidiger Güte das Beil. Hinkefritz wußte, daß das Holzhacken gar nicht seine Sache war, denn das hatte er nie geübt, da er seine Arme nur an Leierkastenkurbeln herumgedreht hatte. Aber er schämte sich vor einem Mädchen, die mit solcher Kraft große Klafterstücke klein bekommen hatte, und ging, stets in Besorgnis, sich einen Finger abzuhacken und im Holze mit dem Beil stecken zu bleiben, an diese neue Arbeit. Im Anfang stellte er sich sehr ungeschickt an, aber das Mädchen merkte nicht viel davon, da sie noch genug zu schichten hatte. – Während er aber mühselig hackte, wurde er vollends ganz trübselig, daß er ein junger Mann war, der aus seiner eigentlichen Laufbahn herausgerissen war, nachdem er durch den rücksichtslosen Wettbewerb anderer Leute hinausgedrängt war aus seinem wahren Fache. Er empfand, wie schwer es in Berlin war, wenn man einmal auf solche Weise kaltgestellt war, irgenwie neu unterzukommen und Fuß zu fassen, und wie er nun auch hier noch Holz hacken mußte, um dem Dienstmädchen seines heftigen Gegners, des Tischlermeisters, der ihn am unbarmherzigsten abgewiesen hatte, das Geschäft zu erleichtern und Herrn Tischlermeister Ulbrich somit umsonst auch noch den größten Dienst zu erweisen.

Es mußte bis tief in die Nacht gedauert haben, als endlich in gemeinsamer Arbeit das Holz aufgearbeitet war. Dann durfte der Schallerfritz dem 176 Mädchen helfen, einen Korb voll Holz noch bis auf den Korridor hinaufzutragen, während seine Dachshündchen mit tief gehängten Köpfchen und schlaff herabfallenden Ohren hinter ihm die Treppenstufen mit hinauftrotteten, da sie augenscheinlich eine große Enttäuschung erfahren hatten und nicht wußten, was ihr Herr und Erzieher eigentlich da unter überhaupt gewollt hatte. Weder eine fröhliche Mäusejagd noch eine Dachsjagd hatte es gegeben; auch sie fühlten, wie Hundchen fühlen können, daß sie Leute waren, die aus ihrem wahren Berufe hinausgedrängt blieben.

Oben verabschiedeten sich der Schallerfritz und das Mädchen. Er sagte: »Na, entschuldigen Sie nur, Fräulein, wenn ick Ihnen durch meine Visite Unjelegenheiten jemacht habe. Aber Sie werden mir ja kennen!«

»Aber wo doch! Der Dank is janz auf meine Seite! Wenn Sie mir mal wieder besuchen, werde ick mir sehr freuen, wenn Sie mir wieder helfen. Beim Tischlermeester braucht's ja immer ville Holz! Na, gute Nacht auch!«

»Na, gute Nacht, Fräulein – wie heißen Sie gleich mit'n Vornamen?«

»Hulda,« sagte sie.

»Also, gute Nacht, Fräulein Hulda.«

Sie mußte ihm noch die Haustüre aufschließen, daß er mit seinen Hundchen auf die Straße hinaus konnte, dann schloß sie hinter ihm ab, und er stand wieder vereinsamt auf der dunklen Straße, 177 ratlos, was aus seinem Leben nun noch werden würde. –

Nachdem er sich eine Weile wie ziellos umgeschaut hatte, setzte er sich langsam hinkend in Bewegung und ging aus der inneren Stadt heraus, um wieder zur Museumsinsel zu gelangen. Als er über die Spreebrücke kam und am Denkmal des »Großen Kurfürsten« ins Wasser hinunterschaute, dachte er, es wäre wohl das beste für ihn, wenn er da unten im schwarzen Wasser verschwinden könnte in eine ewige Finsternis, aus der er nie wieder emportauchen würde. Denn nun hatte ihn doch keine Gewalttat zu einem höheren Leben emporgetragen; all seine Träume, die das reiche Leben der Stadt mit ihren prachtvollen Läden in ihm erweckt hatte, schienen zerstoben; er fühlte, daß er wohl niemals an all dem Glanz und Reichtum und an der Kunstpracht der Paläste um ihn teilhaben werde. Da wurde es ihm ganz trübe zumute, und er wäre gleich am liebsten an der Brücke ins Wasser hinunter gesprungen, wenn ihn nicht seine beiden Dachse gedauert hätten, die dann wohl ganz verlassen und ratlos auf der Brücke auf sein Wiederkommen gewartet haben würden. Und von da unten konnte er doch niemals wiederkommen.

So ging er denn in einem trüben Gefühle weiter, bis er an dem Denkmal des Alten Fritz vorüber den breiten Baumgang »Unter den Linden« hinunterhinkte. Er hielt sich mitten auf dem 178 Fußwege, schon um drüben nicht so viel von den mächtigen Prachtläden mit ihren feenhaften Blumengruppen mit den Edelsteinen und Goldläden zu sehen, und von den erleuchteten Speisesälen, wo lauter reiche Menschen in einem Meere von Glanz schmausten und kostbare Weine tranken. Der Mond war am Himmel erschienen und leuchtete vollglänzend auf den breiten Baumgang herab, die Luft war mild und weich; der trübe Spaziergänger gelangte ans Brandenburger Tor, um rechts die dunkle Steinburg des Reichstags sich übereinander türmen zu sehen mit der dunklen Bogenvorhalle und Auffahrtsrampe, deren weiße Steinmassen zwischen den Bäumen im Mondlicht ungewiß herüberschimmerten. Und so gelangte er endlich im Parkwalde des Tiergartens hinunter bis zur Kreuzungsstelle, wo die Siegesallee quer über die breite Hauptstraße zwischen den Baumgruppen herüberschneidet.

Hier blieb er stehen, denn rechts und links in langen Reihen sah er eine Versammlung von weißen Marmorstandbildern im Mondschein aus den dunkeln Wänden der Waldbäume geheimnisvoll herausleuchten. Er stand einen Augenblick, als blieb ihm der Atem stille stehen, so geheimnisvoll und gespensterhaft schienen ihm die Bewegungen der weißen Gestalten in ihrer Flucht die lange Baumstraße hinunter. Wenn man es doch täte! Wenn man hier in plötzlicher Raserei zerstörte, zertrümmerte, vernichtete, daß man als 179 Gewaltmensch enden konnte in all dem Glanz und der funkelnden Prachtwelt der fern rauschenden Stadt um ihn hinter den dunklen Bäumen. Wieder mußte er den Atem anhalten, um so einen Gedanken durch sein Hirn ziehen zu lassen. Und von neuem faßte er den Hammer fester in seiner Rocktasche und blickte schon die breite Baumstraße hinauf und hinunter, wo es ganz still und kein nächtlicher Fußgänger in Sicht war.

Unwillkürlich schaute er nun zu der Gruppe auf, unter der er stand. Ganz unten am Ende der Allee hatte er die Gestalt des Roland von Berlin gesehen, die steif wie ein erstarrter Mann mit ihrem Schwert Wache hielt, während oben die turmhohe Kanonensäule mit der flügelschlagenden Viktoria in den dunklen Nachthimmel ragte. Vor sich sah er oben auf dem Postament das altmärkische Grafenbrüderpaar, das auf den Stadtplan niederschaut, wo der Bruder dem Bruder die Neugründung Berlins erklärt, wie sie auf der großen Karte verzeichnet steht.

Schallerfritz sah sich lange die Gruppe an. Er wußte von der Volksschule her, was diese Figuren bedeuteten, daß es die Gründer der Stadt waren, die im Riesenumkreis hinter den Parkbäumen lag und einen Wiederglanz und trüben Nachglanz ihres tausendfältigen Lichtscheins in den nächtlichen Himmel über die Baumwipfel hinauf warf. Und wie er langsam weiterging, kam er vorbei an den alten Markgrafen, die doch eigentlich auch lauter 180 geisterhafte Gewaltmenschen waren und auch meistens solche Gewaltträume und Gewaltwünsche geträumt hatten wie er, zu der Gestalt des »Faulen«, zum Wittelsbacher, der die Mark versetzt hatte und schlaff dasteht mit stumpfem Gesichtsausdruck die Hand lässig über den Schwertknauf gelegt, wie einer, der im Stehen einnicken will. Im weichen Schattenspiel des Mondscheins sah er mit seinem faul eingeknickten Bein aus, als stehe da ein leibhaftiger Riesenfaulpelz aus uralter Zeit, und unwillkürlich rief der Schallerfritz vor sich hin:

»Na, so'n Kerl!«

Dann kam der Kaiser Karl IV., der hinterlistig die Hand auf die volle Geldkatze legt und zum Schallerfritz zu sagen schien: »Siehst du, mein Söhnchen, mit Geld kann man alles machen,« wobei er unter seinem Barte selbstzufrieden lachte. Und dann kamen die Gestalten der ersten Kurfürsten aus dem Nürnberger Hohenzollernhause, und ihre langen, weißen Hermelinmäntel schienen im Mondschein wirklich weich dahin zu wallen, während an anderen die Ritterrüstungen blitzten, als bewegten sie sich leibhaftig im hellen Sonnenglanze hin, statt hier im Mondschein starrer Marmor zu sein.

Wie nun der Schallerfritz sah, daß fast alle wirklich zu sprechen schienen, die Reformationsfürsten, der dicke Kurfürst, der dastand, als wolle er seinem Schwiegersohn gleich im gedrängten Zorn eine Ohrfeige versetzen, und dann wieder der Große Kurfürst, der so staatsstolz dasteht und sein Sohn, 181 der mit aller Rokokopracht bekleidet sein Zepter hält, während neben ihm der Soldatenkönig mit seinem Krückstock eben aus dem Park getreten schien, als wolle er seine Untertanen wie einst damit schlagen, auf seinen Gichtbeinen mit eingesenktem Knie dahergehend, wurde der nächtliche Beschauer immer mehr von dem Banne gefangen, den dieses vergangene Leben auf ihn ausübte. Denn er meinte die Könige gleich ansprechen zu können, um ihnen zu sagen, wie's jetzt drinnen in Berlin aussähe, an dem sie alle hätten mitbauen helfen, und wie er, Fritz Schaller, nicht mal einen Leierkasten geliehen bekommen, so ein Durcheinander und sinnloses Getriebe und ängstliches Brotabjagen herrsche da drinnen. Immer mehr aber, je weiter er ging, wuchs sein Staunen. Wie das alles lebte und im Mondlicht webte, und was das für Männer gewesen sein mußten, die all diese Marmorgestalten so hingestellt hätten, als wäre jede leibhaftig aus ihrem vergangenen Leben hierher gezaubert worden! Ganz unermeßlich wuchs das Staunen, wie er dann weiter am Alten Fritz vorbei zu dem wohllebigen Könige mit dem behaglichen Wohlschmeckermunde und zu den anderen kam, bis er zuletzt den ersten Kaiser Wilhelm erkannte, den er als Knabe auch selbst noch im Leben gesehen hatte. Der stand mit seinem Krimstecher ruhig da und schaute hinüber, wo der aufgeregte Slavenbekämpfer Albrecht der Bär das Kreuz in den Mondhimmel hinaufgereckt hielt. 182

Unwillkürlich zog jetzt der Schallerfritz, indem er sich scheu umsah und sich selbst ganz gespensterhaft vorkam, den Hammer aus der Tasche. Dann ging er langsam die Stufen zum Denkmal des alten Kaisers hinauf, sah sich nach allen Seiten nochmals um, und statt, wie drüben der Bär sein Kreuz zu erheben und mit einem wilden Schlag auf die Figur loszuschmettern, legte er, indem er heimlich hinter dem Postament niederkauerte, damit niemand es sehen sollte, den Hammer mit einer stillen Feierlichkeit auf den Marmorboden. Es war ihm so, als müsse er das tun.

Als er dann aber wieder die Stufen hinuntergeschritten war und nun den großen Rundplatz vor sich sah mit der Siegessäule und dem übermächtigen Koloß des Reichsgründers Bismarck, dessen eherne, zornbewegte Gestalt sich unterm Mondschein riesenhaft in den Nachthimmel hineinbaute, mußte der Schallerfritz plötzlich in ein halblautes Schluchzen verfallen, indem er vor sich hinsagte:

»Ick weeß nich, ick kann doch keen Übermensch werden! Ick weeß ja nich, wie mir is, aber mit 'n Übermenschen is et überhaupt nischt! Ach, du mein lieber Gott, wenn ick doch nicht gar so sehr ins Elend gekommen wäre!«

Er mußte wieder den Atem anhalten, um das ganze Gefühl seines inneren Wehs zu überwinden und sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen zu wischen, die ihm das Gefühl seiner 183 Hilflosigkeit und Verlassenheit unter so viel Millionen schaffender Menschen erpreßte.

Dann aber stand er vor dem Denkmal Bismarcks selbst und schaute innerlich getröstet, indem ihn ein namenloses Staunen vor einem solchen Menschenwerke erfaßte mit seinem gewaltigen inneren Leben, den ehernen Redner an mit der Geschichte lesenden Göttin zu seinen Füßen, mit dem Atlaskugelträger, dem Schwertschmieder und dem Weibe, das den Panther auf den Kopf tritt. Lange schaute der Schallerfritz hinauf, um nur in seinem eigenen Staunen zu leben, indem er sich selbst und die ganze Welt dazu vergaß.

Dann aber wurde er sehr müde. Es war zu viel für sein Gemüt gewesen, was dieser Tag gebracht hatte. Er dachte sich nun ein wenig auszuruhen. Er suchte sich eine Bank aus in einem inneren Parkwege des Gartens. Er setzte sich hier auf die Bank, zog seine beiden Hündchen zu sich herauf und ließ sie zu beiden Seiten neben sich hocken, indem er sie mit seinen Armen und Händen zudeckte, sodaß sie sich an ihn anschmiegten. Und so saß er stille da und machte die Augen zu, um ein Weilchen auszuruhen. Es war ganz stille um ihn her, es mußte allmählich bis gegen Mitternacht geworden sein.

Der Mond zog lautlos über den Wipfeln höher ins Himmelsdunkel hinauf, während weiche, weiße Wölkchen unter ihm wegzuschwimmen schienen über den Wipfeln der alten Rüstern und Eichen 184 des Parkes hin. Und das milde Mondlicht fiel auch auf einen übermüdeten Schläfer herab, der den Kopf übergesenkt hielt und für ein paar Stunden alle kleinen Sorgen seiner rastlosen Seele verschlief, ungestört durch Nachtwächter und andere Leute, ganz mit seinen beiden Dachshündchen der Parkstille überlassen. Auch die Hundchen begannen die Augen zu verschließen, und endlich schlummerten sie alle drei und schienen auch zu einer regungslosen Gruppe erstarrt, wie die weißen Marmorbilder der Siegesallee und die großen Tritonen und Nixen bei dem Reichshause. Allmählich aber schwand der Mond wieder über die Waldwipfel herab, es wurde dunkler und finsterer ringsum, bis dann wieder eine Zeit kam, wo die stille, geheimnisvolle Morgenhelle über den Wipfeln und den Häuserfronten heraufschlich, die man durch das noch laublose Geäst von ferne in die Parkwege hinüberschauen sah. –

Fritz Schaller schlief noch immer fest, auch als der Morgen schon mit vollem Sonnenglanz seine Strahlen über ihn ausgoß. Die Hundchen waren wieder wach und guckten sich scharf um, augenscheinlich äußerst wachsam, um den wie tot Schlummernden vor unliebsamen Störungen zu schützen. Sie saßen ganz ernst und regungslos, gaben aber mit wahren Polizeiaugen auf jeden acht, der drüben in der Entfernung über die Parkwege hinter den Bäumen einherging.

Es ereignete sich nun aber, als schon der 185 Vormittag heraufgekommen war, Droschken und Equipagen und Milchwagen einzeln über den weiten Königsplatz hinfuhren und die elektrischen Wagen von ferne beim Reichstagsgebäude herklirrten, daß ein nettes Dienstmädchen den Parkweg hergegangen kam mit eifrig umspähenden Augen.

Als sie den Schlafenden erblickte, blieb sie auf einige Schritte vor der Schlummergruppe stehen. Die beiden Hunde schlugen nicht an, sondern warfen, wer weiß von welchen Empfindungen bewegt, leise rührende Blicke zu ihr auf. Sie blieb ganz andächtig stehen und schaute sich den jungen Schläfer an. Wie hübsch sah der aus! So ein schmuckes Mannsbild in seinem Schlafe! Ein Trinker war das nicht, das sah man schon daran, daß sein Mund so hübsch geschlossen war. Anständig war er, das sah man auf den ersten Blick, aber vielleicht stellenlos.

Sie betrachtete noch ein ganzes Weilchen den Schläfer, weil ihr sowohl sein hübsches Gesicht wie auch seine Sorge um die beiden Hundchen wohlgefiel. Sie hatte eine schöne, bunte Schürze und ein weißes Raupenhäubchen auf, und wie sie die Hände in die Hüften eingelegt mit seitwärts geneigtem Kopfe mit einer gewissen Zärtlichkeit den Schlafenden betrachtete, gab es ein gar liebliches Bild mitten in der jenseits der Wipfel brausenden Millionenstadt. Endlich konnte sie einer Versuchung nicht widerstehen; sie rührte mit ihrer Rechten den Schläfer an den Schultern und stieß 186 ihn etwas, während die Hundchen sich jäh erhoben und laut kläfften; sie rief laut:

»Na, Männeken, noch nich ausgeschlafen? Stehn Sie man uf! Sie sind ja gar nicht bei Ihnen selbst!«

Der Schallerfritz erwachte, und indem er die Augen aufmachte, sah er auch gerade die hübsche Gestalt des Mädchens vor sich stehen. Er mußte sich erst aus seiner Schlafwirrnis und seiner Verwunderung etwas herauswinden, dann aber sagte er:

»Aber schönsten Dank, mein Fräulein. Ick muß ja wohl sehr lange geschlafen haben.«

»Na und ob,« sagte die Hübsche. »Wat sind Sie denn?«

»Ick?!« Schallerfritz mußte sich erst besinnen. »Na, für gewöhnlich 'n Leiermann, zur Zeit aber ohne Instrument.«

»Hören Sie,« sagte das Mädchen, nachdem sie ihn nochmals aufmerksam betrachtet und die ganze Anständigkeit und Solidität seiner Natur aus seinen Augen herausgelesen zu haben schien: »Könnten Sie vielleicht mit mir auf die Rolle jehn für 'n paar Stunden? Ick suche nämlich jrade eenen für die Drehmangel, weil unser Hausdiener zu's Militär gegangen ist. Und ich muß doch eenen haben, der mir die Rolle dreht.«

»Uf de Rolle?« sagte der Hinkefritz etwas betroffen. »Det habe ick in meinem Leben noch nicht jemacht. Ick werde et wohl nicht so recht können.« 187

»Na, wenn Sie sonst een Leiermann sind, denn können Sie det auch. Sie brauchen ja ooch bloß mit den Drehkurbel zu leiern und mit de Arme herumdrehen und Musik macht et auch, denn es knarrt und singt ooch. Ick würde mir Ihnen ja wohl anvertrauen, denn Sie machen ja 'n ganz anständigen Eindruck.«

»Na, wenn ick Ihnen noch anständig vorkomme – bin ick ooch!« sagte der Hinkefritz, indem er sich erhob, während die Hundchen ihn lustig mit heftigem Schwanzzucken umbellten, »denn will ick mit Ihnen jehn, Fräulein, und wenn Sie mir verführen werden wer weiß wohin! Wo sind Sie denn zu Hause?«

»Da drüben,« sagte sie, indem sie in eine Straße wies, nach der Gegend »In den Zelten«. »Na, denn kommen Sie man ooch.«

Er folgte ihr. Sie führte ihn in ein hochfeines Haus, wo er schon über die Pracht des Treppenaufgangs mit seinen elektrischen Kandelabern staunte. Über die Dienertreppe kamen sie in ein Wäschezimmer. Er mußte einen großen Korb Wäsche aufpacken und dann mit ihr nach der nächsten Rollstube gehen, nicht weit entfernt. Und dort drehte er nun die Kurbel des Mangelkastens mit einem sonderbaren Gefühle des Staunens, was eigentlich aus ihm werden sollte.

Am Abend desselben Tages aber sah er sich zu noch größerem Staunen in die Uniform eines Hausdieners eingekleidet. Er hatte beim Mangeln 188 dem braven Hausmädchen so gut gefallen durch sein Wesen, das durch die inneren Erlebnisse des vergangenen Tages so still verklärt, so gehoben, vornehm und bescheiden zugleich war, daß das Mädchen ihn bei der Herrschaft als Ersatz für den abgegangenen Diener in Vorschlag gebracht hatte. Er mußte sich vorstellen, er gefiel wegen seines hübschen Gesichtes, er wurde probeweise angestellt. Er hatte auf einmal guten Gehalt, sicheres Auskommen, schlief in einer sauber gehaltenen Dienerstube mit einem ordentlichen Waschtisch und anderen Bequemlichkeiten, die er bisher nie gekannt hatte, mußte noch am Abend die zierlichsten Damenstiefelchen putzen, in die schon mit der Hand hineinzufahren ein verführerisches Vergnügen war, und kam sich vor wie ein verzauberter Prinz mit der ganz bestimmten Empfindung, daß die Million, die er erhofft hatte, für ihn wirklich in Erfüllung gegangen war. Denn selbst, als er als Übermensch auf der Museumstreppe gestanden hatte, war er sich nicht so reich und wohlgestellt vorgekommen wie jetzt, wo er mit einem Schlage in die behaglichste Lage von der Welt versetzt war.

 


 << zurück weiter >>