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Auf dem blaßblauen, leichtgewellten Spiegel der breiten Havel fuhr munter dampfend und stetig vorwärts eilend ein großer Vergnügungsdampfer dahin. Lustig teilte die Schiffsspitze mit dem Kiel die Wellen aus wie mit einer Pflugschar; eine glitzernde, frisch aufleuchtende Wasserspur blieb hinter dem Schiffe zurück und wiegte die Schwäne und Wildenten, die kleinen Kähne, die unterwegs in dies Wellenreich gerieten, auf und ab. Über dem Deck des Schiffes wehten bunte Wimpelleinen und faltig bewegte farbige Flaggen; dicht mit Menschen besetzt war das Schiff und der burgartige Aufbau des Oberdecks. Taschentücher wehten, wenn man drüben in der Ferne am einsamen Ufer 527 einen Spaziergänger zu entdecken glaubte oder ein Kähnlein sich näherte, munteres Gelächter klang aus allen Räumen und von der Höhe des Decks in die sonnige, eben ergrünte Natur hinaus. Leichte, weiße Wölkchen segelten oben im Himmelsblau über die Dampfwolken der Schiffsesse hinweg, Möven jagten sich, mutig in den köstlichen Balsam der Luft hineingeworfen. Und die Menschen standen an der Schiffsspitze und am Steuer, saßen auf den Deckbänken und den leichten, aufgeklappten Feldstühlen und sahen mit allgemeinem Entzücken die stumpfgrünen Berghöhen des Grunewalds drüben über dem seebreiten Stromlaufe langsam vorbeiziehen, sahen die stillen, einsamen Inseln mit ihren Wäldchen und ihren Gebüschen darauf vorübergleiten, sahen Schlösser aus den Waldinseln hervorlauschen, sahen weite Buchten sich auftun und dann wieder zusammenschließen zum engen Flußbette, bis neue Seen weiter sich öffneten, über die von Inseln der einsame Schrei des Pfauen erklang, während Kraniche und Wasservögel über die weiten Flächen schwebten.
Auf dem Hinterdeck des Schiffes saß in einem Feldstuhl der Meister Frühauf neben dem Pastor Körner, und um sie hatte sich ein Kreis von Naturschwärmern gebildet, die schon seit einer Stunde sich nicht erschöpfen konnten in Bewunderung dieser schönen Seelandschaft und des Lebens, das wie ein Frühlingstraum vorüberging. Denn der Kirchenchor feierte sein Stiftungsfest, und dazu hatte 528 man einen Dampfer gemietet, der hinaus von den Flußläufen und Kanälen der Millionenstadt in die Idylle des lieblichsten Landes fahren sollte. Mittags wollte man im Jungfernsee landen, an dem einsamen Nedlitz mit der Bucht und der Römerschanze. Abends sollte bei Mondschein und Rotfeuer die Heimfahrt stattfinden. Heimlich hatte der Pastor seinem neuen Freunde, dem Meister, zur Feier des Tages die willkommene Kunde überbracht, daß er nunmehr fest in seiner Dirigentenstelle bestätigt sei. Noch wußte niemand auf dem Schiffe etwas davon. Der Pfarrer wollte es erst draußen beim Mittagsmahl mit einem Toast bekannt machen. Auch Herr Hähnel ahnte nichts. Die Freude und die glückliche Stimmung aber über die festgewonnene Lebensstellung sprach aus dem gewissermaßen festlichen Verkehr, der zwischen Frühauf und dem Pfarrer sich entwickelt hatte und sie mit besonders gehobener Stimmung die Schönheit der Natur genießen ließ.
Ziemlich verstimmt stand Herr Ingenieur Hähnel auf einer sehr sonnenheißen Stelle an der Spitze des Schiffs, während seine Ehehälfte vor ihm saß und aus ihrer Speisetrommel ihm belegte Schrippen zum Frühstück reichte. Es war gar nicht möglich, die wichtigsten Personen auf dem Schiff von ihrer Naturschwärmerei abzubringen, um mit ihnen etwas Vernünftiges zu reden oder zu erfahren, was nützlich werden konnte. Was war nicht alles geschehen! Die Frau Rittmeister aus dem Chore 529 ausgetreten nach dem unglaublichen Benehmen des Meisters Frühauf im Gottesdienst! Daß Hähnel und seine Frau selbst nicht ausgetreten waren, hatte ja besondere Gründe. Aber man konnte angesichts dieses schönen Frühlingstags fast mit niemand darüber sprechen! Und dann nun dieses auffällige Ereignis, daß der Pfarrer so harmlos neben dem Dirigenten saß, wo jener doch genau unterrichtet war über die irreligiösen Anschauungen dieses Mannes. Mit jovialer Miene hatte Hähnel sich zu den Herren gesetzt, die ihn auch ganz jovial aufgenommen hatten, aber von nichts anderem als von den Schönheiten dieser Havelfahrt sprachen, ja sich über die Lebensweise der Schwäne unterhielten, sodaß auf keine Weise zu erfahren war, ob irgend eine Auseinandersetzung stattgefunden habe und ob der Kapellmeister schlecht oder gut stand höheren Orts. Und endlich hatte vor wenigen Tagen die Vorlesung des neuen Stückes stattgefunden, das Hähnel in fiebernder Hast vollendet, um sich dadurch gewissermaßen vor eine Entscheidung zu bringen, ob er sich künftig mehr zum Dramatiker oder zum Afrikareisenden, eventuell aber mit aller Energie zum Chordirigenten an Frühaufs Stelle zu entwickeln habe. Ein nicht sehr großer Teil des Chores hatte der Vorlesung beigewohnt. In einem gemieteten Saale hatte der Dichter die Zuhörer zusammenberufen. Frau Hähnel hatte wohl zweihundert Einladungskarten an alle Bekannten im Chore, an Unbekannte, ja 530 an Kritiker gesendet. Etwa vierzig Personen aber waren nur erschienen. Hähnel hatte in einer Vorrede so deutliche Anspielungen gemacht, daß schon jedermann wußte, es werde das Verhältnis zu seinem eigenen Vater in dem Drama geschildert. Geduldig hatten die Leute zugehört; am Schlusse hatten einige geklatscht, im ganzen aber war man recht still auseinander gegangen.
»Es hat eben so tief gewirkt,« meinte Hähnel, »daß man die Stimmung nicht durch äußerliche Beifallsbezeichnungen verderben wollte.«
Jetzt auf dem Schiffe aber, wo man wenigstens den Trost wußte, daß auf die Dauer doch niemand einer Anrede entrinnen konnte, hatte Frau Hähnel verschiedene Anspielungen gemacht, da und dort gefragt, wie denn neulich der Vorlesungsabend bekommen sei, und ob man sich noch gern des eigenartigen Stückes entsinne. Die meisten hatten aber nur geantwortet mit einem »Danke, recht gut!« und dann gleich von den Schönheiten der Havel gesprochen. Zuletzt hatte sie die dicke Frau Graf angeredet, die auch eingeladen worden war.
»Na, Ihrem Herrn Schwiegervater in Westfalen, dem müssen die Ohren nicht schlecht geklungen haben!« meinte die behäbige und charaktervolle Dame. »Das müssen ja ganz schauderhafte Verhältnisse mit Ihrem Manne sein! Wenn man als erwachsener Sohn schon gleich ein Stück darüber schreibt!«
»Ja, nicht wahr? Nicht wahr!« entgegnete 531 Frau Hähnel aufgeregt. Das war nun doch schon eine Meinungsäußerung, hier konnte man annehmen, daß die Wirkung doch tief gewesen sein müsse. »Ach ja, Frau Graf, wenn man bedenkt, daß das alles sozusagen auf der Wirklichkeit beruht, da muß man ja denken, daß sie es aufführen wollen. Hat es Ihnen denn recht gefallen?!«
Frau Graf hatte in ein Schinkenbrot gebissen, erst ein Weilchen gekaut und schweigend in die vorbeihüpfenden Wellen an der Schiffsseite geblickt, dann aber gesagt:
»Ach, wissen Sie, werte Frau Hähnel, in so Familienangelegenheiten, da halte ich mich gern davon. Denn mischt man sich da mit seiner Ansicht hinein, so weiß man nie recht, wie es dann die andere Partei aufnimmt. Ich kenne Ihren Herrn Schwiegervater zwar nicht, aber wenn ich nun über das Stück rede, so weiß man doch nicht, ob man sich nicht da unberufen in Erbschaftsangelegenheiten einmischt und höchstens beiträgt, den Unfrieden zu vergrößern.«
Frau Hähnel hatte das etwas enttäuscht gehört, aber es schien ihr doch das Zeugnis einer gewissen Wirkung des Stückes. Sie eilte zu ihrem Manne an die Schiffsspitze und erzählte ihm diese Äußerung.
Im ersten Augenblicke hatte sie auch den Ingenieur aufgeregt, als ein Zeichen des Eindrucks, den sein Werk gemacht haben müsse. Dann aber wurde er zusehends stiller und schweigsamer, denn 532 daß das Ganze zuletzt doch nur als eine familiäre Erbschaftsangelegenheit erschien, machte ihn innerlich irre. Er sagte nach einer Weile mit Entsagung:
»Klara, ich werde nun doch wohl den Kirchenchor übernehmen müssen, oder aber – ich gründe einen neuen, einen Konkurrenzchor! Die Menschen haben heutzutage doch keinen Sinn mehr für das Dramatische. Man muß ihnen musikalisch kommen.«
Er nahm jetzt seine Frau etwas beiseite und führte sie nach der Kajüte hinunter, indem er rechts und links die Schiffsgenossen heiter gönnerhaft begrüßte, zugleich mit der stillen Hoffnung, daß, wenn sie erst gefrühstückt hätten und ein paar Glas Bier getrunken sein würden, alle Welt von der unfruchtbaren Naturschwärmerei zurückkommen werde, um seiner Angelegenheit mehr Sinn entgegenzubringen. Im Vorübergehen ermunterte er daher auch die beiden Kellnerfräulein, die aus der Bierausgabe das Getränk heraufbrachten, und sagte: »Na, Fräuleins, Sie sind aber sparsam mit Ihren Seideln! Sie wollen wohl die ganze Gesellschaft hier zur Abstinenz verleiten? Bieten Sie Ihr Bier doch gleich ordentlich an, daß Stimmung in die Sache kommt!«
Unten in dem kleinen Rauchsalon vor der großen Kajüte war es ganz leer. Hähnel konnte sich mit seiner Frau ungestört besprechen. Er sagte, für heute müßten sie nun gleich drei Eisen im Feuer haben. Sie müsse folgende Angelegenheiten in die Hand nehmen, da man so eine Gelegenheit, wo 533 alles auf einem Schiffe beisammen war, nicht leicht wieder haben werde. Der Tag müsse nach allen Richtungen ausgenutzt werden. Erstens müsse sie vor allen Dingen dafür Stimmung machen, daß die Damen und Herren des Chores sich bereit erklärten, in einem Konzert mitzuwirken, welches der Organist, Professor Reber, geben wollte. Wenn der erst einmal den Chor geführt hätte, so würde der Einfluß Frühaufs leicht zu brechen sein und eine Bestätigung in seiner Stellung dadurch zunächst verschleppt werden können. Da alle freiwillig sängen, so könnte man allmählich die Mitglieder herüberziehen. Durch die Mitwirkung bei Reber würden sie schon sehen, daß Frühauf gar nicht so unentbehrlich sei, wie alle meinten. Zweitens müsse sie überall sondieren, wer von den Herrschaften geneigt sein würde, einem anderen Chore beizutreten. Es sei nämlich von einer anderen Kirche in einem anderen Stadtteil eine Stelle als Chordirektor ausgeschrieben. Für den Fall, daß Frühauf – bei dem Erfolge, den seine Motette nun einmal gehabt – doch bestätigt werden sollte, seinen irreligiösen Ansichten zum Trotz, könnte man sich dann um die andere Kirchenstellung bemühen. Dazu müsse man aber gleich womöglich einen selbstgebildeten Chor mitbringen. Er schärfte ihr ein, sie dürfe das nur so machen, daß sie den Leuten sagte, sie sollten nur zur Abwechslung in dem neuen Chor mitsingen, damit es nicht etwa so aussähe, als wolle man sie dem Frühaufschen Chore abspenstig machen. 534 Wenn sie erst einmal unter seiner Leitung in der neuen Kirche gesungen hätten, dann würden sie so wie so bei ihm bleiben und allmählich übertreten. Und da alle heute auf dem Schiffe beisammen waren, sollte sie außerdem auch ein bißchen von den allzu freien Anschauungen Frühaufs sprechen; er selbst werde auch deshalb bei dem Pfarrer, der doch unterrichtet sei, verschiedene Kreuz- und Querfragen stellen, um herauszubekommen, wie man höheren Orts darüber denke. Auf alle Fälle müsse man gleich mit verschiedenen Eventualitäten rechnen, damit, falls das eine nicht zu etwas führe, das andere ausgenützt werden könne. Wenn sie den Sängern recht viel Schmeicheleien über ihre Stimmen sagte, so würde sie gewiß viele fangen.
Frau Hähnel sah ihren Mann etwas verwirrt: an; es war ein wenig viel Durcheinander für ihr Gedächtnis und ihre Neigung, überall kleinen Klatsch und kleine Zetteleien anzustiften. Sie sagte:
»Friedrich, wenn ich nur nicht eins mit dem andern verwechsle. Es ist so viel auf einmal!«
»Ja, wenn du willst, daß ich nach Afrika gehe, da brauchst du nur ein rechtes Durcheinander hier anzurichten! Wo du mir so dumme Äußerungen über mein Stück hinterbringst! Das ist ja einfach zum Verzweifeln! Du mußt die Leute auch zu albern ausgefragt haben, wenn sie solche Ansichten äußern. Weißt du denn nicht, daß in einer geschickten Fragestellung alles liegt? Nun sitzt man da mit dem Stück, und kein Mensch wagt es zu loben 535 trotz seiner heimlichen Erschütterung, weil er einfach zu ungeschickt ausgefragt wird!«
Frau Hähnel war einen Augenblick ganz an sich selbst irre. Auch noch dieser Vorwurf! Da aber die Erwähnung Afrikas ihr neue Schrecken der Verlassenheit einjagte, so bat sie um Verzeihung, und sie werde sich gewiß alle Mühe geben, nichts zu verwechseln, und das Rebersche Konzert nicht mit dem neu zu gründenden Chor durcheinander mischen.
Nach dieser Beratung begaben sich die sorgenvollen Gatten wieder auf Deck um nun ihre Minen nach allen Richtungen zu legen und die eine und andere auch im Laufe des Tages springen zu lassen.
Das Schifflein dampfte unterdessen munter vorwärts, während die Sonne steiler am Himmel emporstieg, sodaß Fräulein Ella Frühauf, die hinten beim Steuer saß, ihren Sonnenschirm aufspannte. Neben ihr hockte der Amerikaner auf einem Feldstuhl, während Herr Schröter, der tremolierende Tenor, neben ihrem Vater in der Gruppe beim Pfarrer Platz genommen hatte. Denn Herr Schröter erfreute sich seither der Gunst des Meisters, besonders da auch der Pfarrer das Tremolo passend gefunden und dem Meister gesagt, es habe auf ihn einen packenden Eindruck gemacht. Der Meister hatte den Tenor in seine musikalischen Gespräche einbezogen, ja, ihn sogar eingeladen, einen Besuch bei ihm zu machen. Das hatte nun aber auf Fräulein Ella einen gewissen Eindruck gemacht; sie sagte sich ganz von 536 von selbst, es sei nun nicht mehr ziemlich, gewisse scherzhafte Blickspiele zur Erlustigung des Amerikaners zu üben, und hatte daher sehr gesetzt auf ihrem Platze bisher verweilt und für die Natur geschwärmt. Allmählich aber war der Amerikaner ganz kalt geworden, denn er sah auch mit Verwunderung Herrn Schröter beim Meister sitzen, ohne daß das Fräulein irgendwie Neigung zeigte, jene spöttischen Schmachtblicke hinüberzusenden, denen dann regelmäßig ein verständigender Blick auf ihn selbst folgte, worauf er gewisse Zukunftshoffnungen baute. Übereilen wollte er sich nicht, sondern er dachte mit möglichst viel Phlegma zu einer so hübschen, jungen Frau zu kommen, wie Fräulein Ella ohne Zweifel zu werden versprach. Sie merkte nun aber seine Kälte und fühlte, daß das Unterlassen der Blickspiele allerhand Deutungen zuließ. Legte sich das jemand zu eignen Gunsten aus, so fühlte sie, daß sie durch solche Unterlassung zu weit ginge und vielleicht gar bestimmte Hoffnungen erweckte. Legte man es aber zu Gunsten des Herrn Schröter aus, so bestand die Gefahr, daß Mister Schreiner, der Amerikaner, draußen nach dem Essen nicht mittanzen würde, wozu er doch besonders ausersehen war. Die Frau Mutter hatte ihr doch klar eingeschärft, daß sie viel tanzen müsse mit den Herren vom Chor, schon um dadurch zu helfen, den Chor zusammenzuhalten angesichts vieler Ränke, welche die Frau Professor in richtiger Witterung ahnte. 537
Das Aufspannen des Sonnenschirmes war daher eine passende Gelegenheit, unter dem Schutze des rosigen Schirmdachs Amerika einen jener schwesterlich schalkhaften Blicke zuzuwerfen, der mit einer raschen Winkelbewegung nach der Gegend begleitet war, wo Herr Schröter saß. Sofort wurde auch der Amerikaner wieder lebhaft und zwinkerte mit den Augen, wobei er mit einem leichten Spazierstock sich auf die Beinkleider klopfte. Dann sagte er:
»Ob man am Ende auch hier das »Tremolo« herausholen kann, mein Fräulein?«
»Schwerlich,« meinte sie, »denn das wäre ja gar zu solo.«
»Na, wenigstens das Herz wird tremolieren!« meinte Mister Schreiner. »Wenn ich jemals so einen Blick erhielte, ich würde allerdings sofort einfach immateriell werden vor Entzücken.«
»Na, da werde ich es lieber nicht tun,« erwiderte Ella, »denn mit einem immateriellen Phantom könnte ich ja nachher doch nicht tanzen!«
Damit wollte sie nun doch einen jener Schmachtblicke liefern zu Herrn Schröter hin, über die Mister Schreiner so viel Vergnügen empfand. Im Ansatz dazu sagte sie sich aber wiederum, daß das nicht mehr so ginge, und so brachte sie rasch mit einer leichten Bewegung ihr Schirmdach zwischen sich und den Amerikaner. Sie blickte ganz ruhig und gesittet um sich, und dabei begegneten allerdings ihre Augen denen des Herrn Schröter, der mit sehr gemischten Empfindungen ihre Schalksblicke auf 538 den Amerikaner gesehen hatte und schon geheime Angst empfand, man werde ihn durch jene heuchlerischen Schmachtblicke zu ärgern suchen. Aber der sittsame Ausdruck, der ihn traf, verscheuchte diese Furcht.
Die List war gelungen. Mister Schreiner hatte geglaubt, daß hinter dem Schirmdach das Belustigende geschehen sei, und wollte sogar den Eindruck bemerken, den es auf jenen gemacht habe.
»Er fällt immer wieder drauf 'rein, Fräulein Ella!« sagte er. »O, wie schön ist eine Seefahrt! Wenn man erst mal so eine Hochzeitsreise machen könnte zwischen die weißen Schwäne und der grüne Inseln!«
»Wie meinen Sie das?« fragte Ella, indem sie leicht erschrocken die Augen niederschlug.
»O – ich habe das nur so hingeworfen – ganz im allgemeinen! Mit irgend ein schönes Weib – so, wissen Sie –«
Mister Schreiner wollte sich noch etwas an seinem Opfer weiden, denn er war ganz sicher, daß man ihn aufs heftigste ersehnte und nur auf den Heiratsantrag wartete, den er schalkhaft noch zurückhielt. Er war etwas betroffen, als er soeben Herrn Schröter vor sich stehen sah, der mit der verbindlichsten Miene von der Welt herangetreten war. Der ruhige, sittsame Blick der Tochter des verehrten Meisters hatte nämlich alle Nachgefühle der bösen Anspielungen des Herrn Hähnel beruhigt und den Mut rege gemacht, nun doch 539 näher zu treten unter der neuen Rückendeckung des angenehmen Verhältnisses zum Herrn Papa. Mister Schreiner hielt es aber nach einer raschen Überlegung für die Folge der Schmachtkomödie, worüber er sich so sehr belustigte, daß er heimlich dem Fräulein ein paar leichte Püffe gegen den Ellbogen versetzte unter dem Schutze des zurückgeneigten Schirmdachs. Dies auffällige Betragen blieb bei mehreren nahe sitzenden Damengruppen nicht unbemerkt, Frau Hähnel hatte es mit Falkenaugen erguckt, zupfte ihre Nachbarin und sagte: »Na ja, da sieht man's mal! Dazu ist nun ein Kirchenchor da – und auch noch ein freiwilliger! Da will man bestätigt werden!«
Fräulein Ella hatte aber die heimlichen Püffe gewaltig übel genommen, schon, weil sie wußte, daß sie gerade dem Chore nichts vergeben durfte. Sie wendete sich daher mit der Gebärde einer beleidigten Königin um und warf dem Amerikaner einen so vernichtenden Blick zu, daß dieser auf einmal sprachlos in sich zusammenfuhr. Diese Situation erfaßte Herr Schröter mit seltener Geistesgegenwart; er sagte:
»Mein Fräulein, ich hatte heute noch gar keine Gelegenheit, Sie zu begrüßen. Darf ich Ihnen vielleicht eine Erfrischung bringen?«
»Ich danke, ich gehe gleich selber mit! Wenn Sie mich begleiten wollten . . .«
Amerika mußte zweifellos bestraft werden, deshalb Fräulein Ellas energischer Entschluß. Herr 540 Schröter glaubte in einem Traum zu leben. Dieser Erfolg mußte zum Kühnsten begeistern.
Sie drängten sich zusammen durch die Reihen der bereits lustiger werdenden Schiffsgenossen und stiegen in die Kajüte hinab. Bei der Bierausgabe standen sie, und Herr Schröter war so kühn, für Fräulein Ella ein Glas Wein zu verlangen, für sich selbst aber sogar eine halbe Flasche. Dann hatte man sich zusammen in den Rauchsalon gesetzt, gerade da, wo erst Herr Hähnel mit seiner Frau Pläne geschmiedet, die unterdessen oben auf Deck bereits die Geister erregten. Es war so still in dem Salon, niemand kam herein, denn oben war gerade ein Luftballon am Himmel aufgetaucht, dem alles, wie einem Kometen, zusah, besonders Mister Schreiner, der seine scharfen Augen rühmte und sogar die Männer in der Gondel erkennen wollte.
Als Fräulein Ella ihr Glas Wein getrunken, war sie sehr lustig geworden. Herr Schröter auch. Da sagte Herr Schröter:
»Fräulein Ella, werfen Sie mir mal so einen Schmachtblick zu, mit dem Sie sich immer über mich lustig gemacht haben!«
»Ja,« sagte sie, »wenn Sie dann ein Tremolo singen!«
»Abgemacht!« sprach er.
Da sah sie ihn – sie saß neben ihm – von der Seite an und ließ ihre Augen förmlich schwimmen in Sehnsucht. Herr Schröter hatte auf einmal ein 541 Gefühl väterlichen Rückhalts; er sagte nur mit heiterem Gegenschmachten: »Fräulein, das kann ich nicht mehr mitansehen! Diese Sehnsucht – diese Liebe zu mir – o, Ella –!«
Es ist aktenmäßig bezeugt aus einem Briefe, den Fräulein Ella später an ihre vertrauteste Freundin geschrieben hat, daß in diesem Augenblicke Herr Schröter die Kühnheit hatte, die Tochter seines Meisters ohne allen Respekt an seine Brust zu ziehen, um ihr nicht nur einen, sondern eine ganze Serie von Küssen zu geben. Beim ersten habe sie erschrocken zurückgezuckt, beim zweiten die Empfindung gehabt, daß sie eine gerechte Strafe erleide. Beim dritten aber habe sie einfach still halten müssen, um nicht etwa Aufsehen zu erregen, denn die Zukunft des ganzen Chores habe auf dem Spiele gestanden, wenn sie den geringsten Laut von sich gegeben hätte. Wäre infolgedessen jemand in den Rauchsalon getreten und hätte das gesehen, so würden ja zweifellos die meisten Damen aus dem Chore ausgetreten sein. Sie sei es also schon ihrem Vater schuldig gewesen, zumal gegenüber den Anzettelungen des Hähnelschen Ehepaares, auch den vierten Kuß mit Schweigen zu erdulden. Beim fünften aber habe sie sich urplötzlich und ganz gegen ihren Willen in den kühnen Tenor verliebt und ihm daher den sechsten selber zurückgegeben. Und dann habe er auf einmal laut aufgesungen mit einem Tremolo, daß man es sogar oben auf Deck gehört habe. 542
»Verlobt?!«
»Verlobt!« hatte er nur noch gesagt.
»Heimlich?« hatte sie gefragt.
»Bloß für heute! Morgen sprechen wir die teuren Angehörigen!«
»Nein – so etwas!« –
Darauf ist das Paar wieder die Schiffstreppe hinaufgestiegen, als wäre nicht das Geringste vorgefallen. Fräulein Ella sah sich mit den gleichgültigsten Mienen von der Welt auf Deck um und mischte sich in die Gespräche anderer junger Damen; Herr Schröter trat zu einer Gruppe, die den Luftballon beobachtete, der vom Tempelhofer Felde her über den gründunkeln Havelberg geschwebt kam. Dabei geriet er stillbefriedigt in ein Gespräch mit Mister Schreiner, der lange Geschichten erzählte von dem, was die Ballonfahrer oben taten, was er alles mit seinen Augen sehen könnte, während andere es nicht einmal durchs Fernrohr erkennen würden.
In dieser Zeit war Herr Hähnel nun auch wieder zu dem Pfarrer und zu Frühauf getreten, deren Zusammensein ihn immer starker beengte. Er hatte sich aber gedacht, daß der Pfarrer wohl ein recht schlauer Herr sei, der sich selbst von den gefährlichen Ansichten des Komponisten bei dieser Gelegenheit überzeugen wollte und deshalb so viel mit dem Meister redete. Hier einzusetzen, um gegen die Amtsbestätigung zu arbeiten, schien daher der 543 rechte Augenblick gekommen; er trat zu den Herren und sagte mit einem salbungsvollen Tone:
»Heute ist doch wirklich ein Tag, meine Herren, wo man sich geradezu andächtig bewegt sieht, den Schöpfer Himmels und der Erden in seinen Werken zu preisen. Meinen Sie nicht auch, Herr Professor?«
Dabei warf er dem Pfarrer einen verständigenden Blick zu. Man werde ja sehen, was für Ansichten hierauf zu Tage treten würden. Der Pfarrer nickte bedächtig und nahm eine Prise.
»Ja,« sagte der Professor trocken. »Gott in der Natur und in seinen Werken ist immer zu preisen. Wenn Sie bedenken, Herr Hähnel, daß Sie mit Ihrer kräftigen Baßstimme auch ein Werk Gottes sind, so müssen Sie freilich lebhafte Genugtuung empfinden.«
Herr Hähnel wiegte jovial-verlegen seinen Kopf auf den Schultern hin und her, machte dann aber dem Pfarrer ein langes, ernstes Gesicht, da es doch offenbar war, daß man sich nicht einmal in Pfarrers Gegenwart scheute, laxe Äußerungen zu tun. Darauf fing er etwas spitzer an zu reden von der Person des lebendigen Gottes, aus welcher erst jeder wahre Naturgenuß kommen könne, während man ohne diesen Glauben doch jede Landschaft und vollends diesen herrlichen Havelstrom als etwas Totes empfinden müsse. »Die lebendige Trinität ist das wahre Mysterium der Natur!« sagte er mit einem theologisch gelehrten Kopferheben. 544
Jetzt schwieg der Meister Frühauf ganz still, der Pfarrer aber sagte: »Wie denken Sie sich das eigentlich, Herr Hähnel?«
Hähnel hatte sich im Grunde sehr wenig dabei gedacht; er wollte ja nur schrauben und Einwände veranlassen, welche gewisse Gesinnungen ans Licht brachten.
»Wie ich das meine? Nun, wenn Gott einmal persönlich ist, so muß er doch auch in der Natur dreieinig sein, und dieses dreifache Gefühl kommt dann in der dreifachen Schönheit der Natur für uns zum Ausdruck!«
»Das ist eine klare Rechnung,« meinte jetzt der Komponist zum Pfarrer gewendet. »Aber Herr Hähnel hat ganz seinen Katechismus vergessen. Sofern man in Gott den Schöpfer, den Vater verehrt, ist das bekanntlich die eine Person, die anderen sind Sohn und heiliger Geist. In der Natur verehren wir daher gerade den Schöpfer als die eine, ich möchte sagen die Urperson – aber die Deutung, die Sie versuchen, Herr Hähnel, käme beinahe auf eine Profanation heraus, wenn man bei Ihnen nicht von vornherein wüßte, daß irgend eine böse Absicht dabei gänzlich ausgeschlossen ist – meinen Sie nicht auch, Herr Pastor?«
Frühauf sprach das mit einer gewissen strengen Milde.
»Ich kann unserem verehrten Herrn Chordirigenten nur recht geben; ich fürchte, Herr Hähnel, Sie neigen zu bedenklichen Auffassungen unserer 545 Dogmen, die, einfach und ohne Klügelei mit dem Herzen erfaßt, eine große, sinnige Schönheit enthalten, aber bei rein verstandesmäßiger Auffassung leicht profaniert werden könnten.«
Der Pfarrer hatte das zwar mit ernstem Wohlwollen gesagt, machte aber Herrn Hähnel auch ein so langes, ernstes Gesicht, wie dieser es vorher ihm über den Komponisten gezeigt.
Hähnel verlor etwas die klare Besinnung. Daß der Pastor ihm selbst bedenkliche Auffassungen vorhielt, war um so unangenehmer, als der Pfarrer seine Dose zum Schluß dem alten Komponisten hingehalten und dieser auch sehr ernsthaft eine Prise genommen hatte, an der er im Bewußtsein sicherer Stellung langsam hin und her schnupfte. Der Ingenieur fühlte daher ein Bedürfnis, vor allem seine gute Gesinnung ins rechte Licht zu setzen und sagte:
»Ich bin ein ungelehrter Mann und ein einfacher Christ, Herr Pfarrer, und freue mich eben in diesem Sinne an der Natur und der Dreieinigkeit. Und wahrlich! Wenn ich die Schwäne hier zum Preise des Schöpfers auf den blauen Wellen schaukeln sehe und die Wildtauben am Ufer beobachte, da verstehe ich, wie der heilige Geist auch als Taube herniederkommen und wie die Natur in der Jungfrau Maria jenes einzige Wunder wirken konnte, indem der heilige Geiste die Natur zu sich vermählte. Im Lichte dieses Gedankens fühle ich auch meine Gotteskindschaft und kann mich an das 546 Ewig-Weibliche in der Gestalt der Mutter Maria wenden, um ihre Fürbitte für mich bei Gottes Thron zu erreichen. Und wenn ihr Bild dann mitten in der kleinen Kapelle, in freier Natur, Wunder wirkt und die Lahmen gesund macht – na, wie gesagt, ich möchte wohl wissen, ob unser verehrter Herr Professor, mit dem wir ja so manches Lied zur »mater amata, immaculata« gesungen, gerade diese Wahrheiten an sich empfunden hat. Bei uns ist das ja was anderes, Herr Pfarrer!«
Je mehr sich Herr Hähnel in seine Stichelei hineingeredet hatte, wobei er zuletzt ganz asketisch aussah, desto erstaunter hatte ihn allmählich der Pfarrer angeblickt. Frühauf aber hatte immer seinen Spitzbart gestrichen, und Hähnel erwartete schon eine satirische Bemerkung, aus welcher der Pfarrer das Nötige erkennen werde. Da aber erhob sich der Pfarrer mit einer gewissen Feierlichkeit und sagte:
»Aber mein werter Herr Hähnel, da tut man ja bedauernswerte Blicke in Ihr kirchliches und protestantisches Bewußtsein! Auch ich muß Ihnen sagen, daß ich – wie jedenfalls auch unser verehrter Herr Meister – die Empfindungen, von denen Sie sprechen, ganz und gar nicht teile. Was Sie entwickeln, ist ja katholische Anschauung, und ohne dem Glauben der Katholiken an sich zu nahe treten zu wollen, so muß ich es doch tief beklagen auch im Namen unsers Chors, daß Sie als Protestant sich so wenig mit den Grundlagen Ihres 547 evangelischen Glaubens bekannt gemacht haben – was sagen Sie dazu, Herr Professor?«
»O – o – o!« machte dieser, indem er mit der Hand abwinkte, als beklage auch er diesen inneren Abfall des Ingenieurs.
Hähnel war graublaß über das ganze Gesicht geworden. Er konnte nicht leugnen, daß der Pastor recht hatte. Er hatte ganz vergessen, was seine Kirche eigentlich lehrte, und um es recht klug zu machen, war er, auf Grund seiner innerlich vollständigen Gleichgültigkeit in Religionssachen, in ein ganz falsches Lager geraten.
Im Augenblick sah Herr Hähnel nicht die geringste Möglichkeit, wie er sich herausreden sollte, zumal mehrere umstehende Damen und Herren den letzten Teil des Gesprächs auch mitangehört hatten. Gleichzeitig fiel ihm seine Denunziation gegen Frühauf als eine äußerst peinliche Erinnerung aufs Herz. Endlich stotterte er: »Glauben Sie wirklich – wirklich, Herr Pfarrer, daß ich da aus Versehen etwas zu weit gegangen bin?«
»Gott – Naturschwärmerei, Herr Hähnel!« sagte jetzt trocken der Professor, indem er wie entschuldigend die Achseln zuckte. »Das kann unter Freigeistern wie Sie wohl mal vorkommen. Aber entschuldigen Sie . . .«
Der Professor hatte bemerkt, daß drüben auf dem Schiffe seine Gattin mit einer Gruppe von Damen stand, die ziemlich erregt schienen, während etwas weiter oben eine andere Gruppe zu 548 beobachten war, in der Frau Hähnel das große Wort führte. Er hatte bemerkt, daß seine Frau ihn heranwinkte, und wollte doch sehen, was es gäbe. Er ging hinüber. –
Herr Hähnel aber blieb wie vernagelt neben dem Pfarrer stehen, da er fühlte, noch tiefer hineingeraten zu sein. Angesichts seiner Denunziation, deren Wirkung er immer noch nicht kannte, und doch begierig zu erfahren, wie es mit der Anstellung stünde, fühlte er den Drang, sich irgendwie den Rücken zu decken, und sagte zum Pfarrer: »Nein, dieser gute Professor! Mit dem ist ja eine große Wandlung vor sich gegangen. Der ist ja noch positiver als ich seit einiger Zeit. Nun, das verdankt er gewiß Ihrem segensreichen Einflusse, Herr Pastor, und ich tröste mich, daß es mir durch die Mitteilung gewisser Beobachtungen augenscheinlich gelungen ist, ihn wieder in den Schoß der Religion zurückzuführen. Na, wenn's nur hält!«
Pastor Körner empfand zwar die ganze Unverfrorenheit dieser letzten Bemerkung, da er aber durchschaute, daß es nur die Unverfrorenheit der Angst war, der beschämendsten Verlegenheit, die schon genug durch sich selbst strafte, so sagte er nur kühl, indem er seine Eröffnung vorwegnahm:
»Ich glaube, Herr Hähnel, Sie rechnen sich da ein Verdienst zu, das Sie bei Ihren Anschauungen, die wir soeben gehört, nicht ganz glücklich würden haben erreichen können. Angenehm aber ist es mir, Ihnen vertraulich mitteilen zu können, daß 549 Herrn Frühaufs ausgezeichnete Dirigentenkunst unserem Chor und unserer Kirche erhalten bleiben wird, da gestern seine definitive Anstellung auf mehrere Jahre hinaus gesichert worden ist. Ich hatte schon vorhin die angenehme Gelegenheit, unseren Meister durch diese Mitteilung zu erfreuen.«
Hähnel stand einen Augenblick wie jemand, dem man den Mund und die Finger mit Leim zugestrichen hat. Also angestellt! Trotz alledem! Er hatte vergeblich gestrebt! Die Aussicht, an Frühaufs Stelle zu kommen, war für immer genommen! Ja, er hatte sich auch noch in letzter Stunde schauderhaft blamiert. Aber in diesem eigentümlichen Menschengemüte haftete nichts allzu lange und allzu peinlich, er brach plötzlich ganz jovial in die Worte aus:
»Aber famos! Das ist ja famos, Herr Pfarrer! Aber ganz famos! Ist es denn schon eigentlich im Chore bekannt? Ja, wozu sind wir denn alle hier beisammen? Ja, das müssen wir doch gleich allen sagen! Jetzt können wir ja die schönsten Konzerte geben – auch Gastkonzerte! Na, Gott sei Dank, endlich!«
Und wie triumphierend wandte er sich von dem Pfarrer ab und lief mit großen Schritten das Deck entlang, um sofort eine Gruppe von Sängern zu stellen und ihnen die freudige Kunde zu überbringen. Der Pfarrer wollte ihn zurückhalten, damit nicht vor der bestimmten Zeit die Überraschung 550 sich verbreite, aber es war zu spät, er konnte nur noch entsagungsvoll nachblicken. Jener rief:
»Na, wissen Sie es denn schon? Unser alter, guter Professor ist nun fest angestellt! Das ist ja famos! Jetzt können wir mal was unternehmen. – Sie singen doch auch in dem Konzert des Herrn Professor Reber mit?!«
Die Herren freuten sich aufrichtig, den verehrten Meister geborgen zu wissen: sie fühlten, daß der Chor nun schon ganz anders dastand. Noch aber wußten sie nichts von dem geplanten Konzert. Hähnel machte ihnen sofort klar, sie müßten in dem Konzert des Organisten mitwirken, der dann auch den Chor dirigieren würde. Das sei eine Gefälligkeit, die sie alle tun könnten, besonders aus Freude über Frühaufs feste Anstellung. Und dann lade er sie ein, doch gelegentlich auch einmal in einem Kirchenkonzert zu hospitieren, das er nunmehr in der Erlöserkirche zu veranstalten denke zu Ehren des Professors Frühauf. Sie sollten ihm nur gleich fest zusagen, er würde dann schon alles machen. Zahlreiche Damen seien auch schon gewonnen.
Einer der Herren erlaubte sich zu fragen, wieso er dazu komme, sich als Dirigent aufzutun. Herr Hähnel führte glaubwürdig aus, daß er neben seinen Studien auf technischen Hochschulen an einem mitteldeutschen Konservatorium auch ernste musikalische Studien betrieben und ein Zeugnis über 551 seine Befähigung zum Dirigenten besitze. Er rief mit plötzlicher Kühnheit:
»Für heute aber, wo Sie alle hier beisammen sind, müssen wir die definitive Ernennung des Professors durch eine besondere Überraschung feiern! Meine Herren, man kann noch alles vorbereiten, um abends bei der Heimfahrt Quartette und einen Chorgesang zu Ehren des Meisters zu singen! Sagen Sie es den anderen Herren weiter; ich, ich selbst, meine Herren, werde dirigieren, auch dabei eine kleine Ansprache an den Meister halten! Es wird großartig!«
Unter diesen Umständen sagten die Herren gern zu, denn die letzte Einladung wirkte rückwärts günstig auf die Einladungen für Rebers Konzert und dasjenige in der Erlöserkirche. Besonders Herr Schröter war Feuer und Flamme, zumal er heute Ursache hatte, alles Gute und Edle zu tun, was irgendwie den Vater Fräulein Ellas zu verherrlichen geeignet war. Hähnel aber lebte wie in einem Rausche. Denn mitten in seiner Demütigung waren ihm erst im Aussprechen selbst alle diese Gedanken gekommen! Da hatte ja auf einmal er selbst den Frühaufschen Chor in der Hand! Wenn sie heute zum erstenmal unter seiner Leitung standen und durch Rebers Konzert sich gewöhnten, auch einmal anderweit zu singen, so konnte er durch das Kirchenkonzert zu Ehren des Meisters diesen Chor überhaupt allmählich, ja vielleicht mit einem Schlage zum seinen machen. Denn brachte er so einen schönen Chor 552 gleich selber mit, so war ihm die andere Anstellung sicher; jetzt brauchte man nur noch eine Anzahl kleine Stänkereien wie mit der Rittmeisterin zu machen, um im gegebenen Fall den Austritt und Übertritt vieler Mitglieder zu seinem neuen Chor herbeizuführen. Von Stunde an sah Hähnel förmlich verklärt aus im Rausche seines Ehrgeizes und seiner Hoffnungen.
Frau Hähnel war unterdessen sehr tätig gewesen. Sie hatte Damen und Herren so schöne Dinge über ihre Stimmen gesagt, daß sich schon eine Partei gebildet hatte, welche gleichfalls zusagen wollte, sowohl in dem Konzert des Organisten zu singen wie auch in einem anderen Chore zu hospitieren, über den Frau Hähnel geheimnisvolle Andeutungen machte. Sie hatte vor allem betont, daß die Damen doch »freiwillig« bei Frühauf wirkten und nicht seine Angestellten seien; und es wäre gut, wenn man dadurch den Professor erinnerte, daß er, selbst wenn er einmal fest angestellt werden sollte, doch vom guten Willen der Damen abhängig sei. Sein Verhalten gegenüber der Rittmeisterin, die nun leider ausgetreten sei, habe gezeigt, daß der Professor doch eigentlich die Damen wie Untergebene ansehe, und da könne so eine kleine Erinnerung nichts schaden, daß man auch einmal wo anders singen könne. Diese Erwägungen hatten bei dem weiblichen Chorgeist einiger Damen doch gezündet; Frau Hähnel war 553 auf dem besten Wege, eine heillose Konfusion anzurichten.
Als Frühauf zu seiner Gattin trat, war diese eben durch eine Freundin der Frau Hähnel sondiert worden, ob sie auch in dem Reberschen Konzert mitwirken wolle. Sie hatte aber sofort Verdacht geschöpft, als sie aus einer Andeutung entnahm, daß Frau Hähnel für dieses Konzert warb. Sie war eingeweiht durch ihren Mann in das, was das Ehepaar beim Pfarrer getan. Sie erklärte mit einer gewissen absichtlichen Hochmütigkeit:
»Meine Stimme paßt nicht in ein Konzert des Professors Reber. Ich für meine Person müßte es ablehnen, da mitzuwirken. Wenn die anderen Damen es tun, so ist es ja ihr freier Wille. Und außerdem geht es ja ohne meinen Mann überhaupt nicht!«
Die Sache wurde nun dem herangetretenen Professor selbst vorgetragen. Er war durch seine feste Anstellung in so guter Stimmung, daß er fragte: »Warum nicht? Warum sollen wir nicht bei Reber mitwirken? Ich werde den Chor gern dirigieren. Das kann uns doch nur nützlich sein!«
»Ja, ich meine auch,« sagte eine Dame von der Partei der Frau Hähnel. »Denn man muß sich doch den Herrn Organisten auch gut Freund erhalten.«
Frau Professor Frühauf fühlte ihr Ansehen bedroht.
»Du denkst also wirklich, deinen Chor für ein 554 solches Konzert zur Verfügung zu halten? Weißt du denn, daß im Zusammenhang damit die Mitglieder eingeladen werden, auch bei einem anderen, neuen Chore zu hospitieren?«
»Na, und wenn!« meinte Frühauf. »Sie können da nützen und meine Schule verbreiten. Ich sehe nichts weiter darin!«
Frau Professor Frühauf wendete sich mit einer indignierten Miene ab. Sie war aber gewöhnt, sich vor anderen nicht mit ihrem Manne in Widerspruch zu setzen, schon, weil die Chordisziplin dadurch gelockert werden konnte. Auch als man ihr die neueste Wendung mitteilte, die unterdessen Hähnel und seine Frau aufbrachten, daß das Hähnelsche Konzert zu Ehren des Professors stattfinden und Kompositionen Frühaufs gespielt werden sollten, war sie nicht zu bekehren, denn sie war überzeugt, daß andere Pläne damit verbunden würden. Und da ihr Mann nichts davon zu ahnen schien, behandelte sie ihn nun im Laufe des Tages mit einer zarten Geringschätzung. Aber ebenso rührig und pflichteifrig begann sie ihren Schlachtplan zu entwerfen, um noch im Laufe des Tages diejenigen, die zugesagt haben mochten, an der Spitze ihren Mann selbst, von diesem Entschlusse zurückzubringen. Ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust, als sie sich sagte, sie müsse auch diesmal wieder die Fehler ihres Mannes heimlich korrigieren.
Als das Schiff endlich in der reizenden Bucht des Jungfernsees gelandet war und man im 555 Wirtsgarten an langen Tafeln saß und gemeinsam fröhlich sein Mittagsmahl verzehrte, schien die Partei Hähnel bereits vollständig gewonnen Spiel zu haben. Denn das Schlagwort »zu Ehren des Professors als Nachfeier seiner festen Anstellung« war umgegangen; Herr Schröter hatte sich besonders ins Zeug gelegt bei den Herren, und da er es tat, konnte Fräulein Ella nicht umhin, im Stolz auf ihren Vater auch bei den Damen zu wirken. Dabei hatten Hähnels die Parole erlassen, der Professor selbst dürfe nichts vorher davon erfahren, es müsse ganz als Überraschung herauskommen nach dem Reberschen Konzert. Dadurch gewann die Sache an Reiz. Ein Geheimnis, von dem alle wußten, nur der Professor nicht! Und was noch heut am Abend folgen sollte! Der Sieg der Hähnel-Partei schien im Umsehen entschieden.
Frau Professor Frühauf war eine wohlbeleibte, etwas behäbige Dame, die sehr gern aß und gut aß. Allen ihren Unternehmungen mußte eine stille Eßvorbereitung vorangehen. Mit Absicht hatte sie die dicke Frau Graf gebeten, neben ihr zu sitzen. Die konnte auch mit Gelassenheit und Genuß zugleich essen. Frau Professor Frühauf aß mit Gemächlichkeit und Indignation über ihren Mann zugleich, der sich augenscheinlich unter dem Einflusse seiner Tochter ganz zur Gegenpartei hinziehen ließ. Als sie aber gegessen hatte, beschloß sie nunmehr, ihre Gegenminen springen zu lassen. Sie äußerte zunächst zur Frau Graf, daß es ihr vorzüglich 556 geschmeckt habe, schon weil die Frau Rittmeister nicht mehr im Chore sei mit ihren Ansprüchen. Frau Graf, in Erinnerung der Sitzstreitigkeiten, mußte gestehen, daß es auch ihr vorzüglich gemundet habe, zumal sie das angenehme Bewußtsein hatte, eigentlich die Siegerin in jenem Kampfe geblieben zu sein. Nachdem so ein sympathisches Gefühl zwischen den Damen entstanden war, kam das Gespräch auf Frau Hähnel, die doch eigentlich dabei eine sehr merkwürdige Rolle gespielt habe. Das konnte Frau Graf nicht umhin zu bestätigen. Frau Professor fuhr fort:
»Sehen Sie, deshalb beteilige ich mich nun aber auch nicht an dem Reberschen Konzert und den weiteren Sachen. Denn es ist doch klar, daß die ganze Sache von Frau Hähnel ausgeht, die wieder einmal ihren Ehrgeiz befriedigen will. Daß mein guter Mann, der Professor, da nur zum Vorspann genommen wird, das ist klar. Denn zuletzt wird es doch nur heißen: das haben Hähnels gemacht! Ja, wenn die Sache zum Beispiel von Ihnen ausginge, dann würde ich meine Stimme zur Verfügung stellen, aber Frau Hähnel, die so wenig Chordisziplin hat, daß sie sich sogar in den Alt setzte, wird die ganze Sache verderben.«
Sie schwieg behäbig, zuckte aber leise mit den Mundwinkeln. Frau Graf war von der Richtigkeit dieser Argumente überzeugt. Sie steckte ein großes Stück Nachtischkäse in den Mund und sagte:
»Wenn Sie nicht mitsingen, Frau Professor, dann 557 singe ich auch nicht. Ich will Ihnen freilich verraten, daß man Kompositionen Ihres Mannes aufführen will!«
Frau Professor Frühauf sagte majestätisch: »Die Kompositionen meines Mannes können ohne meine Mitwirkung überhaupt nicht zur Geltung kommen, denn die großen Sopransoli hat er für meine Stimme geschrieben, und ich habe sie mir sogar noch besonders zurechtgemacht. Was will man also? Mein Mann könnte niemals auf den Gedanken verfallen, einer anderen die für mich geschriebenen Partien zu geben – das geht ja schon der Öffentlichkeit gegenüber nicht. Die Sache ist also technisch unmöglich, wenn mein Mann sich jetzt auch in den schönsten Illusionen wiegen mag.«
»Also dann singen wir nicht,« sagte Frau Graf entschieden. Sie hatte sich über Hähnels langweiliges und nach ihren Begriffen pietätloses Drama so geärgert, daß sie überhaupt nichts mit den Hähnels zu tun haben wollte.
Langsam setzten sich nun die beiden wohlbeleibten Damen in Bewegung, um andere Damen am Tische zu begrüßen. Natürlich kam das Gespräch sofort auf die Mitwirkung.
»Ich singe nicht mit,« erklärte Frau Graf. Dasselbe tat die Professorin. Man wunderte sich, man fragte, warum. Wie auf Verabredung blieben aber beide Damen alle Gründe schuldig. »Es paßt uns nicht!« sagte Frau Graf.
Dieses einfache »Es paßt uns nicht!« bedrohte 558 schon nach sehr kurzer Zeit Herrn Hähnels Zukunftspläne aufs ärgste. Zunächst entstand bei den Damen, welche diese kategorische Erklärung der beiden hörten, eine sonderbare Unruhe. Man wollte erfahren, die Neugier wurde rege. Warum paßte es den Damen nicht? Da die Neugier unbefriedigt blieb, so wurde die Phantasie lebendig. Einzelne glaubten die Gründe zu erraten, und je nachdem sie im Augenblick sich irgend einen phantastischen Grund ausgedacht hatten, wurden sie schwankend in ihrem Entschlusse, mitzuwirken. Eine sagte es der anderen weiter; das war doch sonderbar, daß die Professorin in Unternehmungen nicht mitwirken wollte, wo man Kompositionen ihres Mannes zu spielen die Absicht hatte. Einigen wurde es ganz unheimlich zu Mute; sie erklärten rund heraus, daß sie, trotz ihres Versprechens, da doch lieber zuwarten wollten, wie sich das entwickeln werde.
Des Nachmittags ließ die Frau Professor ihre stärkste Gegenmine auffliegen. Fräulein Ella wurde heranzitiert und ihr ganz kurz erklärt: »Wir werden nicht singen, mein Kind!«
»Aber, Mama!«
»Du kannst beim Tanzen es auch einigen Herren sagen auf eine geschickte Weise.«
»Aber die Herren, die Herren wollen ja alle mitwirken. Herr Schröter steht ja mit Herrn Hähnel an der Spitze –!«
»Herr Schröter, was geht dich Herr Schröter an!« – 559
Ella fuhr errötend zusammen, und um den Eindruck zu vertuschen, den sie auf ihre Mutter damit zu machen fürchtete, erklärte sie plötzlich verwirrt, sie wolle alles tun und wolle Herrn Schröter klar machen, daß man nicht mitsingen könne.
»Aber warum denn, Mama?«
»Nun, das wirst du dir doch wohl selbst am besten denken können!« versetzte die Mutter. »Es ist deine Sache, die richtigen Gründe dafür zu haben.«
Fräulein Ella verließ einigermaßen verwirrt die Mutter. Aber sie sagte sich, daß sie die Gunst der Mutter in Bezug auf Herrn Schröter so notwendig hatte, daß es lohnte, über die Gründe nachzudenken. Ihre Phantasie malte ihr sehr viele Möglichkeiten vor; als sie dann aber mit Herrn Schröter in dem ländlichen Tanzsaal umherwalzte, sagte sie nur die Worte:
»Denken Sie nur, Herr Schröter, meine Mutter lehnt es entschieden ab, bei Reber und auch später mitzusingen. Da können wir beide natürlich auch nicht, selbst wenn es zu Papas Ehren ist. Denn darauf, daß Mama aus dem Chore austritt, darauf kann es Papa auf keinen Fall ankommen lassen.«
Herr Schröter hätte gern mehr Gründe gehört und fragte: »Ja, aber warum denn nicht? Es wäre doch so schön!«
»Ach, Herr Schröter, das kann ich Ihnen nicht sagen! Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen! 560 Aber unsere ganze Zukunft würde auf dem Spiele stehen, jetzt, wo wir . . .«
Fräulein Ella schlug errötend die Augen nieder. Dieses Erröten und der geheimnisvolle Mangel ausgesprochener Gründe wirkten so stark auf Herrn Schröter, daß er nunmehr auch sofort erklärte: »Ja, dann, dann singe ich allerdings auch nicht! Wenn so schwere Gründe vorliegen –«
Und weil er nicht sang, war es nur natürlich, daß er auch bei anderen Herren für einen Chorbeschluß wirkte, Herrn Professor Reber und weiter auch Hähnel zu erklären, daß man leider aus prinzipiellen Gründen nicht anderweit mitwirken wolle, sondern sich auf die Tätigkeit an der eignen Kirche beschränken müsse. Denn Herr Schröter hielt ein Unternehmen, wo er nicht zur Geltung kam, für aussichtslos, da seine Mittenore dann mangels seiner schönen Stimme nicht hinreichend wirken würden, ja, der eine oder andere sich vielleicht unliebsam vordrängen könnte.
Gegen Abend waren auf diese Weise fast samtliche Mitglieder der heimlichen Meinung geworden, daß man die ernstesten Gründe habe, nicht unter der Hähnelschen Führung mitzuwirken. Der einzige von Belang, der auf Seite des Hähnelschen Paares stand, war in diesem Augenblick Meister Frühauf selbst.
Die Sonne ging goldig und purpurne Glutenmeere am Himmel verstrahlend unter. Das Schiff fuhr wieder, vollbesetzt mit den Teilnehmern des 561 Ausflugs, heimwärts in die Abenddämmerung hinein. Sonderbare Gefühle inneren Widerstreits und nahender Geistesschlachten bewegten die Seele vieler, aber der goldige Glanz des Abendsonnenscheins löste in seinem magischen Schimmer dies alles auf und vereinigte in der Bewunderung des farbigen Spieles die Gemüter. Blau und purpurn leuchteten die Seewellen auf. Die Wälder auf den Bergen ergrünten geisterhaft, die Stämme der Föhren leuchteten wie Purpurfackeln mit ihrem Geäste.
Dies war der Augenblick, wo Herr Hähnel, selber umgossen vom purpurnen Abendlicht, die Kommandobrücke des Dampfers bestieg und mit einem Taktierstab, den er bei sich getragen, auf das Geländer klopfte. Alles wurde unten still auf dem Schiffe; Herren und Damen standen schon in Gruppen geordnet und blickten hinauf. Man hörte nur noch das Rauschen und Plätschern der vorbeirauschenden Wellen und das Arbeiten der Maschine. Da rief Hähnel, daß es weit über die stillen Seen zu den Inseln erklang: »Meine Damen und Herren! Die Stunde ist gekommen mit ihrem schönen Sonnenuntergang, wo die ganze Natur huldigend zu ihrer Ernährerin und Erwärmerin aufschaut, sodaß auch wir denjenigen verehren und feiern, der gewissermaßen unsere Sonne ist. Begeisterungsvoll, wie wir die alles beherrschenden Strahlen am Himmel verehren, so sind wir auch einig in der ruhig flammenden Begeisterung für unseren 562 verehrten Meister Frühauf. Wissen Sie denn alle, daß heute für uns der Festtag erschienen ist, wo er dauernd unser Leiter, unsre Chorsonne geworden ist, denn jubelnd wollen wir es dem stillen Abend und der ganzen Natur verkünden, daß er seit heute definitiv die Stelle hat! Wir haben uns im stillen vereinigt, ihm eine Ehrung bei dieser Gelegenheit zu bringen, und so singen Sie denn alle unter meiner Leitung das, was Sie unter seiner Führung bereits gelernt a capella zu singen, jenes herrliche Werk Palestrinas! Auf, erheben Sie Ihre Stimmen!«
Mächtig hob Hähnel seine beiden Arme empor, als wollte er den See, die Waldberge und die untergehende Sonne damit zudecken; er malte große Figuren gewissermaßen an den Himmel, indem er den Chorgesang leitete. Alle sangen mit voller Begeisterung los, und mächtig klangen die Töne in den Himmel hinaus, während es dunkler und dunkler ward, nachdem die Sonne ganz verschwunden war.
Der Pfarrer und Frühauf, die unten auf Deck saßen, waren beide gleich verwundert, wie gerade Hähnel dazu kam, die Ovation zu leiten. Aber da es so schön klang, so wurden sie, im Rückblick auf das Vergangene, sehr gerührt, und der Pfarrer drückte heimlich seinem neuen Freunde, dem Meister, warm die Hand. Frühauf aber meinte bei sich, der Hähnel sei im Grunde gar nicht so übel, und wollte ihm im stillen alles Üble von Herzen verzeihen, wie es auch bei ihm feststand, daß er nunmehr seinen 563 Chor gern dem Organisten zur Verfügung stellen wollte. Andächtig lauschte er dem Gesange, der zu seinen Ehren erklang; mit einer angenehmen Rührung folgte er den Tönen von Schröters Stimme, und auch seiner Frau und Tochter Stimmklänge hörte er mit besonderer Bewegung seines Gemütes, denn sie waren sehr glücklich ob der festen Anstellung.
Allmählich aber merkte er, daß das Zeitmaß anfing, etwas zu schleppen. Er bemerkte, wie Hähnel auf der Kommandobrücke stand und, hingerissen von der neuen Tätigkeit, besondere Bewegungen gegen den Horizont malte, die drohten, das musikalische Gewebe zu zerfasern. In der Tat dachte Hähnel nur noch an den großartigen Eindruck, den er von solcher Höhe, beschienen von der sterbenden Glut der Sonne und dem aufsilbernden Lichte des kommenden Mondes, machen mußte. Er suchte durch seine Taktiergebärden, durch pathetische Rückwärtsbeugungen und breitgeschwungene Handbewegungen seine Befähigung zum Dirigenten zu beweisen und kam sich selbst so malerisch und bedeutungsvoll vor, daß er Stellungen seines Körpers, die ihm besonders gefielen, längere Zeit wie lebende Bilder festzuhalten suchte. Er glaubte die Bewunderung des ganzen Chores zu sehen und vertiefte sich immer mehr in diese Gebärdenspiele. Er fühlte, daß er ein großer Künstler sein müsse, und schwärmte innerlich für sich selbst. Er bemerkte nicht, daß er darüber mehr und mehr den 564 musikalischen Faden verlor und den Sängergruppen unten Einsetzungszeichen gab, wo diese schon längst im Takte darüber hinaus waren. Unten wurde das Durcheinander immer größer, die Harmonien klappten nicht mehr zusammen, und auf einmal schallte ein wirres, wildes Tongeräusch durcheinander, als wenn eine Schar von Trunkenen ihrem Herzen Luft machte. Jetzt merkte Hähnel das Unheil, er fuchtelte empört mit dem Taktierstab in der Luft herum, ohne hindern zu können, daß mit einem Male alles stumm wurde und an Stelle des umgeworfenen Gesangschores ein stürmisches Streiten und Durcheinanderreden der Mitglieder begann.
»Sie haben ja umgeworfen!« rief Hähnel, während er den Stab mit einer aufgeregten Gebärde schwang und seine Locken zurückwarf.
»Nein, Sie – Sie, Herr Hähnel!« entgegnete wütend eine Stimme. »Und das will ein Dirigent sein!« ergänzte mit grollendem Rufe Herr Schröter.
In diesem Augenblicke flackerte ein purpurnes Rotfeuer auf, das Hähnel zu Ehren des Meisters angeordnet hatte, das aber mit ganz besonderer Glut ihn selbst beleuchtete, wie er oben auf der Kommandobrücke stand und zum Zeichen seiner künstlerischen Entrüstung mit bedeutendem Gebärdenspiel seinen Taktierstab in einem großen Bogen über Bord in den weiten See hineinwarf. 565