Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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VII.

Wilhelmine Löffler saß eines Sonntags morgens ahnungslos zu Hause am Fenster ihres vierten 189 Stockwerks und sah zwischen den weißen Fenstervorhängen hinter den Blumentöpfen in die Straße hinunter auf die Drähte und die Wagendächer der unten fahrenden elektrischen Wagen, auf die Köpfe der unten wandelnden Menschen, auf die Rücken der Pferde. Ganz nah über sich sah sie ein Bündel von Telephondrähten übers Dach gespannt und die Schornsteine und Dachschrägungen mit ihren Ziegellagen und Schieferplatten wie eine kleine Berglandschaft mit rauchenden Vulkanen in ihrer Höhe vor ihr hingebreitet. Sie dachte sich erst gar nichts dabei, sondern wunderte sich nur, daß das dichte Menschengedränge unten auf der Straße von ihren Fenstern aus gar nicht gedrängt aussah, sondern einen ziemlich einsamlichen Eindruck machte. Sie sann nach, woher das komme, und sagte sich, daß, wenn Menschen auf der Straße sind, ein Mensch immer den anderen durch seinen Körper verdeckte, wodurch, da so viele Menschen hintereinander kommen, alles ganz gedrängt sich ausnahm. Von hier oben, wo man nur die Köpfe sah, blieb aber zwischen allen Menschen und ihren Köpfen noch ein breiter Zwischenraum, in dem man das Pflaster und die Platten des Bürgersteiges zwischen den wandelnden Leibern der Menschen erblickte, ohne daß sie sich verdeckten. Und darum sah die Straße fast leer aus. Sie dachte sich jetzt, daß man da erst erkenne, daß in Berlin das Gedränge und Geschiebe doch eigentlich gar nicht so groß sei, wie es unten aussähe durch die gegenseitige Verdeckung 190 der Menschen, sondern wie für jeden reichlich Platz und Zwischenraum bleibe, wenn man's von der richtigen Seite nähme. Jeder habe ja auch noch Luft und Raum zum Leben, wenn er sich nur nicht einbildete, daß kein Raum für ihn da sei. Als sie dies aber gedacht hatte, wurde ihr vom Hinuntersehen ein wenig schwindlig und sie zog daher den Kopf vom Fenster zurück, um lieber wieder auf ihre Näharbeit zu sehen, denn sie besserte an der unteren Falbel eines feinen Unterrocks, den sie am Nachmittag zum Tanzvergnügen anziehen wollte.

Da klingelte es; sie hörte draußen die Mutter reden, denn der Vater war wieder im Fahrdienst, zurzeit mitten in Thüringen auf der Fahrt zwischen Berlin und München. Und dann machte die Mutter die Stubentüre auf und ließ den Geldbriefträger ein.

»Eine Postanweisung für Fräulein Wilhelmine Löffler,« sagte der Mann. »Bitte, zu quittieren.«

Wilhelmine unterschrieb verwundert die Postanweisung, die nur auf etwas mehr als zwei Mark lautete. Auf dem Kartenabschnitt las sie in schöner Handschrift den Namen des Absenders: Fritz Schaller, herrschaftlicher Diener.

Gleichzeitig übergab die Mutter aber einen Brief, der draußen im Kasten gesteckt hatte. Nachdem der Geldbriefträger das Geld ausgezahlt hatte und gegangen war, öffnete Wilhelmine den Brief und las: 191

»Hochverehrtes Fräulein, hiermit ergebenst benachrichtigend, daß seit kurzem Stelle als herrschaftlicher Diener gefunden habe in recht angenehmen Verhältnissen, sende per Postanweisung zwei Mark Vorschuß ergebenst zurück zur Rückverteilung unter die hundert Fräuleins oder wie viel zusammengesteuert haben. Beifolgend ergebenst bitte Betrag der Postanweisung in Pfennige und Zweipfennige umzuwechseln, um Rückerstattung an einzelne Geberinnen zu ermöglichen. Da herrschaftlicher Diener, würde mit höhere Stellung nicht vertragen, daß ich mit Leierkasten mir öffentlich sehen lasse, daher in Konsequenz veränderter Klassenzugehörigkeit leider nicht imstande Vorschuß durch Drehorgelproduktion sowohl in Soareen wie auch nicht in Matineeh, wie unsre Herrschaft sagt, abzuverdienen. Bitte daher um dankende Zurücklieferung an gütige Arbeitnehmerinnen in Groß-Dampfwaschanstalt B. –

Fühle mir hier sehr wohl, da in sehr anständiger Umgebung lebe. Habe, wenn Herrschaft abwesend, sehr exquisite Apartemangs vor meiner Verfügung. Ein Saal immer hinter dem andern, Parterre und erste Etage und so alles. Will ich mir studieren, begebe in Bibliothekszimmer von gnädigen Herrn, prachtvolle ganz alte Florentiner Renässangsmöbeln, ganz schwerer Schreibtisch, und oben und unten lauter alte Bronzen drauf. Kachelofen mit echten Lucadellarobbiakacheln darin und in Wandnische mit rotem Sammet ausgeschlagen alte 192 Apothekertöpfe, was man Majolikas nennt. Größter, alter Kunstwert natürlich. Schwere Vorhänge in Grünsammet, Ruhlager mit echten, weißen Bärenfellen und alle Bücher in den teuren Eichenschränken und Eichengestellen im echten Schweinslederband. Hier halte ich mir sehr gern auf, wenn niemand vorhanden und lese vor meine Bildung, da viel nachzuholen habe von wegen mangelhaften Schulunterricht. Dann ist der rote Salon mit Plüschtapeten und feine Pariser Möbeln, kleine Sofas, rotseidene Seidensessel und ein rotausgeschlagener Mahagoniwandschrank in einer dunklen Ecke, darin brennt elektrisches Glühlicht, wovon die Elfenbeinfiguren, von berühmten, alten, florentinischen Meistern, jede ein ganzes Kapital wert, seinen Effekt machen. Auch sind hier auf Nipptischen die sogenannten Tanagrafiguren, wo Nippfiguren sind, die sie vor zweitausenddreihundert Jahren in Griechenland fabrizierten, alles ausgegraben und alles echt. Hier sitze ich nur manchmal, um auf Damengesellschaft zu studieren, wenn ick mal dazu komme, Tee zu servieren. Soll nächstens avancieren, det ick nicht nur auf Rollen jehen muß und Stiefel putzen, sondern die Apartemangs überwachen und servieren muß und denn ooch weeß, wat sie allens haben, wenn Gast mir heimlich fragt. Denn natürlich Bilder an alle Wände durchs janze Haus von berühmten Meistern: Liebermann und Böcklin und Knauß und Menzel – vor Knauß schwärme ick besonders, er weeß ooch, wie 'n Leiermann 193 herumkommt und sieht gleich allens, wat unsereins auch jesehen hat, und denn auch Meyerheim, wo auch meine ehemalige Karriere von Schützenfesten und Vogelwiesen und alles malt. Interessieren mir natürlich sehr.

Dann begebe ich mich in unsern grünen Saal, weil alles grünseidene Tapete is und feinste Rokokomöbel und darauf in den Kaminsaal, weil 'n alter italienischer Marmorkamin mit 'n jroßen Aufbau ihn kennzeichnet. Hier haben wir auch unsre Schmetterlingskasten, wo man in Berlin haben muß, wenn man fein möbliert sein will, lauter Atlasschmetterlinge und südamerikanische und afrikanische, so groß mit ihre Flügel wie 'n Vogel. Dann kommt der goldne Saal mit Goldbrokattapete in dunklem Goldbraun, hier sind wieder mehr die Statuetten und die ausgezogenen Frauenzimmer und so Figuren von Begas und wo man so hat. Ich muß das alles noch mehr auswendig lernen, und studiere sehr darauf, daß ich alles weiß, was da ist von wegen der Auskunft. Darauf ist der Speisesaal, hier Tisch und große Lehnstühle in schönsten, schweren Holzschnittarbeiten und mit gepreßtem Leder. An den Wänden sogenannte Gobelins aus Paris, Luis Kators, auch alt, aber wie neu. Sehr vornehme Bilder mit Stillleben, sind von Fyt, und Jagdstücke von Jordaens und Hundeköter, wie er ihm schreibt, und ist alles echt und erhalten. Und aus dem Speisesaal begebe ich mir in dem Palmenhaus, alles voll Palmen, und 194 die Wände mit Muscheln ausgelegt und mit Schnecken, ganz Mosaik, und ein Relief aus dem alten Griechenland in Marmor, worauf der sogenannte Neptunus mit der dreizackigen Gabel. Hier natürlich Papageien, wo ich füttere. Dann kommt der große Tanzsaal, wo ick mir jetzt manchmal im feinen Gehen aufs Parkett übe. Daran haben wir denn noch 'n kleines Kabinet in gelbseidenen Möbeln, wo die Damen nach der Eschoffierung sitzen. Und außerdem hätte ich nun beinahe den Musiksalong mit dem großen Flügel vergessen, wo aus lauter Elfenbeineinsatz ist, und hier muß ich mir an den Wänden lauter französische Namen von den Malern merken und habe die Ehre janz moderne, elektrische Lampen und Kandelaber aufzuknippen, und denn fällt det Licht aus großen Tulpensträußen und gesenkten Lilienblumen mit langen Kelchen und aus großen Gewächsen, wo wie jroße exotische Bollen aussehen und ist alles sehr vornehm. Na, und bei die Herrschaften, wohin ich manchmal Dienergänge tun muß, ist's auch so, die eine Herrschaft, gleich nicht weit bei uns, hat eine janze Galerie von neun Bildersälen mit Treppenaufgang wie ins Museum, und wat sie so echt allens von persischen Teppichen haben, von japanischen Ausstattungen und Gold und Silberzeug und Elfenbein und Kunstsachen, da kann heutzutage keen König und Fürst konkurrieren. Ich fühle mir aber sehr wohl in diese bessere Gesellschaftskreise, man hört keine jemeine Redensarten 195 nich, und es ist auch sonst een anjenehmer Umgang für unsereins. Früher, wie ich mir noch auf die Million kapriziert hatte, hatte ich mir det anders vorgestellt, wie et is, wenn man 'ne Million hat. Jetzt hat sie zwar die gnädige Herrschaft, aber ich brauche nun nicht darum zu sorgen wegen die Güterverwaltung und die Kurse an der Börse und die Koupons und alle die Fabrikangelegenheiten mit Streiks und Zölle, wo alles Sorgen macht, wenn man seine Millionen sicher anlegen will. Dafür habe ich aber allens mit, wat die Herrschaft von die Million hat, kann mir in die schönen Apartemangs in Abwesenheit auf Ruhebetten hinlegen, sehe die Bilder an und, wenn Musik ist, höre ich ins Nebenzimmer die berühmten Geiger und Sänger, wo Richard Wagner und Strauß und Beethoven aufführen. Und dann die Prachtwerke mit Reisebeschreibungen und Bibliothek dazu und nach Diners die feinen Braten, Fasan und 'n Flasche Sekt fällt auch ab und dann die feinen Zigarren, drei Mark pro, denn wir haben auch 'nen kleinen türkischen Rauchsalon. Ich habe mir jedacht, wenn andre so gleich 'n paar Millionen für einen haben, so hat man ihnen sicherer und mehr Jenuß daran. Und denn als Gegenleistung habe ich nur anjenehme Sachen zu machen, Buketts zu andern feinen Herrschaften tragen, Besuch empfangen und mit anjenehmer Miene anmelden mit Visitenkarte auf goldnem Teller, denn die Damen finden mir von sehr anjenehmen Äußern, denn ich 196 bin distinguiert, wat's Benehmen anlangt. Bei uns verkehrt sowohl hoher Adel, Gesandtschaften und auch Minister und Kanzler, sowie die höchsten Bankierskreise und auf unseren Soareen denn auch die bessere Kunst und Litteratur, wo für uns empfangsfähig ist. Wenn ich mir erst noch mehr entwickelt und einiges abjewöhnt habe, wat noch aus meine schlechten Zeiten ist, dann werde ich auch drinnen bei Diners servieren und so weiter.

Dies zur Nachricht über meine anjenehme Stellung, wenn Sie mir noch entsinnen können. Die Dachshunde haben sich auch gut entwickelt; sie gefallen sehr den beiden jungen Gnädigen, ich darf sie in meiner Dienerstube haben und Fräulein Jette, was unser Hausmädchen ist, die mir entdeckt hat, hat ihnen Halsbänder von rosenroter Seide gemacht, was mir erfreut, denn die Hundekens sind ja ein Andenken von Sie, Fräulein. Sie möchte mir wohl und hat es auch schon merken lassen, aber ich will mir die Karriere noch nicht so schnell verputzen; wenn sie auch gute Aussichten hat von wegen Ausstattung. Wat nun das Soupieren mit seine Herrn anlangt, und überhaupt, so möchte ich mir insofern widerlegen, als in unsren Ständen die jungen Damen und auch die besseren Stubenmädchen so wat nicht tun. Und ich würde auch keine mehr nehmen in meinem Ehrgefühl, von wegen Standesbewußtsein. Unsre Damen lassen sich von niemandem freihalten, sondern zahlen alles aus'm eignen Portemaonaie, weil das für 197 Damen feiner is. Womit ich in ehemaliger Erinnerung bin

Ihr geneigter

herrschaftlicher Diener

Fritz Schaller.«      

Unter diesen Worten folgte noch die gegenwärtige Adresse des Schreibers. Kein Zweifel, er wohnte in einem der vornehmsten Häuser der vornehmsten Gegend am Rande des Berliner Tiergartens.

Die Mutter wollte den Brief sehen; Wilhelmine aber schob ihn rasch in ihre Rocktasche, sah die Mutter wie geistesabwesend an und tat nur den Ausruf: »Nee, wo auch! Nee, wo auch!«

Dann aber setzte sie sich wieder mit scheinbarer Gelassenheit ans Fenster, um mit sich zurate zu gehen, was in ihrer höchst verwickelten Lebenslage nunmehr zu tun sei. Die Mutter schüttelte den Kopf und ging in die Küche hinaus; sie verstand ihre Tochter überhaupt nicht mehr.

Während Wilhelmine nun aber ihren Falbelrock bald rechts, bald links wendete mit ausgespannten Armen, als wolle sie ihn allmählich von allen Seiten ansehen und als hätte er so viel Seiten, daß man gar kein Ende des Wendens finden konnte, dachte sie über das nach, was angesichts dieses Briefes und anderer Ereignisse, die sich in jüngster Zeit eingestellt hatten, zu geschehen habe. 198

Vor drei Tagen war nämlich die Inhaberin des Plättgeschäfts gestorben, in dem Wilhelmine angestellt war. Es hatte sich sogleich die Frage erhoben, was aus dem Geschäft werden sollte und ob die drei Mädchen sich anderweit nach einer Stellung umsehen müßten. Nun waren aber keine Erben vorhanden, da Kinder und Verwandte der Inhaberin gestorben waren. Ein Vetter nur war da, der in Afrika bei der Schutztruppe diente; das Geschäft war fast umsonst zu haben, wenn sich nur jemand fand, der es fortführen wollte. Wilhelmine hatte selbst gesehen, daß es gut gegangen war; die anderen Mädchen hatten die Frage gestellt, ob sie es nicht fortführen wollte. Und sie hatte überlegt, daß sie genug gespart hatte in ihrem Sparkassenbuche, um für den Herrn Erben bei der entsprechenden Behörde eine Anzahlung zu leisten. Sie konnte sich mit einem Male selbständig machen, sie berechnete, daß, wenn sich ihre Kundenzahl vermehrte und sie in der Stube der Gestorbenen eine weitere Plättstube einrichtete und noch ein oder zwei Mädchen anstellte, sie von dem Ertrag auch einen Mann werde ernähren können. Einen solchen aber mußte sie nach ihrer Ansicht dazu haben, damit er ihr helfen könnte, Buch zu führen, Kunden zu gewinnen und wenn man sich eingearbeitet hatte, das Geschäft höher zu führen. Dunkel stand vor ihrer Seele die Vorstellung, daß man dann zu Zweien noch zur Inhaberin einer Groß-Dampfwäscherei sich emporschwingen konnte. Aber woher 199 den Mann nehmen mit einer bestimmten Aussicht, daß er auch nicht das fünfte Rad am Wagen sein werde? Oder gar den Ertrag des Geschäfts vertrinke? Solide mußte er sein, und woher einen solchen nehmen? Und da war auch noch ein anderer Fall, das war der Herr von Schwielow. Nicht nur Sonntags, sondern manchmal sogar in der Woche an Tanztagen hatte sie sich mit ihm getroffen, und immer hatte er sie dann zu feinem Essen geführt und sich anständig mit ihr unterhalten, hatte nie Verletzendes von ihr verlangt, er mußte sich doch sicher einmal erklären. Wenn er aber, was für sie nach allem Vorangegangenen in naher Aussicht stand, seinen wahren Namen nannte und ihre Hand verlangte, was brauchte sie da erst ein Plättgeschäft unten im Kellergeschoß zu übernehmen, wo sie gewiß dann auch so ein feines Haus bewohnen würde, wie es der Fritz Schaller ihr geschildert hatte! Sie würde Reisen machen, Diener haben, wahrscheinlich zu ihrer Ausbildung vorher noch in ein feines Pensionat gehen, wie das auch so mancher anderen Dame gegangen war, die sich zu einem reichen Mann in die besseren Stände aufgeschwungen hatte. Was sollte dann das Plattgeschäft? Sie sagte sich, daß sie vor allem erst darüber Gewißheit haben müßte, was der Herr von Schwielow nun eigentlich überhaupt wollte in seiner feinen Sittsamkeit und Tanzlust, die ihn immer wieder zu Begegnungen mit ihr trieb. 200

Wenn es aber nun mit dieser Heiratshoffnung nichts war, was dann? Da war wieder ein zweiter Fall, und das war der Student, die fröhliche, nette Seele, der August Mochow. Seit sie ihn in der Plättstube kennen gelernt hatte, war er regelmäßig gekommen, um ihr seine Wäsche in einem hübschen Paketchen zu bringen; Sonntags und Donnerstags aber pflegte er auch im Tanzsaal zu erscheinen und mit ihr jeden Tanz durchzutanzen. Im Anfang hatte sie es so eingerichtet, daß sie mit ihm in Tanzkokale ging, wo der Herr von Schwielow nicht erschien. Dann wurde mächtig gewalzt, wobei Mochow zwar sichtlich von Kräften kam, immer ganz außer Atem war und fürchtete, herzkrank zu werden. Darauf aber nahm sie nicht weiter Rücksicht, da er sich doch stets wieder zusammenrappelte und auch stets prahlte, er halte es ganz gut aus. Denn während des Tanzes und nach dem Tanze hatte er stets ihr Portemonnaie in der Tasche und tat sich dann von ihrem Gelde mit ihr gütlich bei Eisbein und Sauerkohl, manchmal auch Gänsebraten. Auch durfte er ihr eine Zigarre vorrauchen von ihrem Gelde. Das taten die meisten anderen Mädchen ihres Standes ja auch, sie hielten ihre Studenten, Unteroffiziere und andere frei, die gewissermaßen ein Privilegium auf die Geldtäschchen ihrer Trägerinnen haben. Den Studenten Mochow, der sie dabei so hübsch unterhalten konnte aus allen Wissenschaften und so viel von der Welt wußte, den hielt sie besonders gern 201 frei. Sie steckte meistens, wenn sie das letztemal mit Herrn von Schwielow getanzt und gespeist hatte, ein paar Mark mehr in ihr Portemonnaie, falls sie dann mit Mochow zusammentraf, weil sie in der Empfindung lebte, daß sie sich damit an dem Studenten revanchierte für das, was der junge Diplomat ihr zugute tat. Denn sie wollte sich auch nicht »lumpen« lassen und, da man sie freihielt vonseiten des männlichen Geschlechts in so anständiger und feiner Weise, auch ihrerseits das männliche Geschlecht freihalten, damit gewissermaßen nichts auf ihr sitzen blieb. Sie fühlte sich dabei mit ausgesprochenem Selbstbewußtsein als ein selbständig Berliner Mädchen, das sich nach jeder Richtung innerlich als kouragiert empfand und seiner Selbsthaltung nichts vergab. Daß Mochow das Recht hatte, ihr dann auch einmal in seiner Fröhlichkeit einen Kuß zu geben, bestätigte nur diese stramme Selbsthaltung, da sie in diesem Punkte von der Empfindung ausging, das sei sie ihm schuldig, wenn er ohne Beschämung ihr Geld nehmen sollte. Und sie wußte ja, daß diese fröhliche Haut das Geld recht nötig hatte, um zu sparen, weshalb sie ihm auch gern seine Wäsche besorgte.

Tiefere Gefühle indessen bewegten ihre Seele nicht. Daß sie als Frau nicht zu ihm passen würde, darüber war sie sich klar. Allmählich hatte sie ihn auch in die Tanzsäle geladen, wo der Herr von Schwielow hinkam. Es war dann so zugegangen, 202 daß die Herren an besonderen Tischen saßen und sie sich abwechselnd bald zu dem einen, bald zum anderen setzte, wo denn bald Mochow, bald Schwielow herüberkamen und zwischen anderen Bekannten sie zum Tanz engagierten. Sie hatte es bisher vermieden, die Herren miteinander bekannt zu machen. Einmal war es geschehen, daß der adlige Herr sie des Abends wieder eingeladen hatte, da hatte sie ihr Geldtäschchen großmütig in der Hand des Studenten gelassen, der damit Abendbrot essen durfte und am anderen Tage auch richtig in ihre Plättstube kam, um ihr das Portemonnaie zurückzubringen. Jetzt sagte sie sich nun, daß eine Verbindung mit Schwielow zweifellos für sie viel besser geeignet war, als eine mit dem Studenten, da sie sich, bei ihrer stattlichen Figur, mit Jenem in die Rolle einer Freifrau besser hineinfinden würde, als in die einer künftigen Frau Professorin. Doch wollte sie die Verbindung mit Mochow für den Fall, daß die andere Aussicht sich nicht erfüllte, sich wenigstens offen halten. Man konnte ja in Liebes- und Heiratssachen nie voraussehen, wie sich die Dinge entwickeln würden.

Nun aber war dieser Brief von dem Schallerfritz gekommen, und dieser brachte eine große neue Verwickelung in ihr Denken, Sinnen und Streben hinein. Falls jene glänzenden Hoffnungen sich nicht erfüllten, wäre dieser Schallerfritz sicher derjenige gewesen, der nunmehr, wenn sie sich für die Erwerbung des Plättgeschäftes entschiede, sicher 203 auch der richtige Mann dazu war. Daß er solide war, sah sie schon an der Rücksendung des Vorschusses. Freilich wußte sie nicht, wie sie die Rückzahlung desselben an die hundert Mädchen bewerkstelligen sollte. Daß er nicht ganz von den Gedanken an sie abgelassen, sah sie mit stiller inniger Beglückung daraus, daß er ihre Hundchen also nicht ertränkt hatte, – sondern sogar in seiner neuen Stellung noch pflegte. Daß er in ihren Augen nun auch zu einer standesgemäßen Stellung sich emporgeschwungen hatte, regte sie mächtig auf, wenngleich sie einen adligen Herrn selber doch noch einem herrschaftlichen Diener vorgezogen hätte. Aber er stand wenigstens solchen höheren Ständen nun nahe! Wie groß aber war die Gefahr, daß er nun durch die erwähnte Jette, die ihn »entdeckt« haben sollte, auch ins Garn gefangen und ihren älteren Ansprüchen entzogen würde! Wie groß war diese Gefahr insbesondere deshalb, weil der Schlußsatz des Briefes sogar deutlich wie eine endgültige Absage aussah, die der Schallerfritz ihr zukommen ließ, weil er sich augenscheinlich über ihren Lebenswandel gänzlich falsche Vorstellungen machte und in seinem plötzlich erwachten Standesbewußtsein ihr ja beinahe den Laufpaß gab!

Auf keinen Fall durfte sie solche Meinungen über sich bestehen lassen, auf keinen Fall durfte sie die günstigen Aussichten, die des weiteren, wenn der andere versagte, gerade in einer so soliden Persönlichkeit wie in dem ehemaligen Leiermann 204 gegeben waren, sich entschlüpfen lassen! Daß vollends eine andere diesen Mann mit dem hübschen, fröhlichen Gesicht ihr streitig machen sollte, das war ein Gedanke, der ihr schon unerträglich war. Wäre es möglich gewesen, so hätte sie sich lieber gleich mit all den drei Männern, dem Herrn von Schwielow, dem Studenten und dem Schallerfritz auf einmal verheiratet, nur damit nicht andere ihre Aussichten, die mit jedem in seiner Art verbunden waren, ihr wegfischen könnten! Da dies indessen nicht möglich war, so sagte sie sich, daß sie mit einem Schlage die große Entscheidung herbeiführen müßte, die darüber Klarheit brachte, wer nun derjenige war, der sie heimführen sollte. Die Entscheidung wegen des Waschgeschäfts drängte, sonst kam ihr auch hier eine andere zuvor. Ihre Aufregung wuchs, je mehr sie ihren Unterrock wendete; gleichzeitig ihre innere Entrüstung darüber, daß es irgend eine andere geben konnte, die sozusagen sich in ihre Gebiete eindrängen wollte, drei Gebiete, auf denen sie sich mit aller Klugheit sozusagen das Feld offen gehalten hatte.

Sie beschloß in aller Energie zu handeln, um sozusagen mit einem Schlage zur Gewißheit zu kommen. Sie beschloß am nächsten Sonntag, wenn möglich, ihre drei näheren Bekannten, den Herrn von Schwielow, den Studenten und den Schallerfritz zusammenbringen, um zunächst im Vergleiche der drei Männer, wenn sie sie nebeneinander sah, vor sich selbst zur Klarheit zu kommen, 205 für welchen sie sich zu entscheiden hatte, welcher ihr auf die Dauer am besten gefallen würde. Sollte Schwielow sich erklären, so wollte sie allerdings die beiden anderen ohne weiteres fallen lassen, wenn diese Sache aber im ungewissen blieb, so wollte sie wenigstens die drei einmal richtig miteinander vergleichen! Vor allem aber mußte es mit Energie und Raschheit geschehen, wie sich das für ein so selbständiges Berliner Mädchen gebührte, wie sie es mit sittlichem Selbstbewußtsein war und sein wollte.

 

Am Nachmittag wollte sie den Herrn von Schwielow beim Tanz einladen, nächsten Sonntag gegen Mittag mit ihr einen Ausflug auf dem Rade nach dem Kaiser Wilhelmsturm zu machen. Dabei wollte sie mit diesem eine Erklärung herbeiführen. Am Nachmittag wollte sie dann den Studenten nicht weit davon entfernt auf eine Insel in der Havel laden, wo im Grünen ein hübsches Gasthaus war. Dort konnte sie unversehens mit oder ohne den Herrn von Schwielow erscheinen und das Weitere konnte sich ergeben. Und für den Spätnachmittag wollte sie den Schallerfritz nach Wannsee laden, da er nicht radeln konnte wegen seines Fußes, um ihn dort in einem schönen Garten auf der Hügelhöhe mit dem Blick über den See in Augenschein zu nehmen, wo sich dann das Übrige ereignen mußte. Aber nachdem er ihr einen Brief geschrieben, der fast wie eine Absage aussah, wie 206 sollte sie hoffen, daß er dieser Einladung folgen würde?

Nach einigem Nachsinnen setzte sie sich an den Tisch, schaffte Tinte und Feder herbei und schrieb an den »herrschaftlichen Diener« folgende Zeilen:

»Werter Herr Schaller, in Bestätigung Ihrer Postanweisung erlaube mir zu bemerken, daß Rückzahlung in Großdampfwäscherei B. unmöglich, da ich in Aussicht eigenes Geschäft zu gründen schon seit länger dort ausgetreten bin. Fühle mir furchtbar beleidigt durch Schluß Ihres sehr Geehrten, muß Ihnen aber das Geld zurückgeben und mitteilen, wo Sie zu adressieren haben. Werde mir auf fünf Minuten nächsten Sonntag Nachmittag in Wannsee (sie schrieb dazu den Namen des Gartenrestaurants) per Rad einfinden, wo Sie bestimmt anzutreffen hoffe, denn in Berlin würde für Sie in höhere Stellung doch wohl zu genant sein. Sie haben mir tödtlich verwundet, die Dachshunde bitte zu grüßen.

Achtungsvoll      
Wilhelmine Löffler.«

Sie überlas den Brief noch einmal und fand, daß er so gut ausgefallen war, daß sie sich nichts vergab und daß doch gleichzeitig der Zweck des Briefes damit erreicht werden mußte. Der Brief wurde verstohlen zugemacht, ohne daß die Mutter etwas merkte. Und darauf setzte sich Wilhelmine mit Genugtuung und Spannung zugleich wieder 207 ans Fenster, um ihren Unterrock nicht mehr nach rechts und links zu wenden, sondern mit einigen Stichen endlich tanzfähig zu machen. – –

* * *

Es war ein schöner, klarer Frühlingstag, als am nächsten Sonntag in der sonnigen Mittagszeit Wilhelmine auf ihrem Rade – das besaß sie schon seit zwei Jahren – auf der breiten Hauptallee durch Charlottenburg hinauf nach Westend fuhr, begleitet von Herrn von Schwielow, der in einem schmucken Radleranzug hinter ihr drein kam. Er war mit Freuden auf ihren Vorschlag eingegangen, da er sich lange schon danach gesehnt habe, einmal in die schöne Mark im Sonnenschein hinaus zu kommen. Er hatte nur die Bedingung gemacht, daß sie dann abends in gewohnter Weise, diesmal am blauen Wannsee, wo er es vorher bestellen werde, zusammen Abendbrot äßen, denn er hatte gemeint, daß es nach so einem Radausflug, den sie vielleicht auch bis nach Potsdam ausdehnen könnten, ganz vorzüglich schmecke, und daß man sogar ein etwas mehr zusammengesetztes und dauerhafteres Mahl zu genehmigen in der Lage wäre. Er hatte auch schon um ihre Vorschläge ersucht für das, was sie gern essen würde. Sie hatte zu alledem diesmal nur mit einer gewissen schüchternen Zurückhaltung Ja gesagt, denn das Restaurant, welches er vorgeschlagen, war dasselbe feine 208 Gasthaus, nach dem sie auch den Schallerfritz geladen hatte, und da sie nicht wußte, wie an diesem Tage alles ausgehen würde, so lag ein gewisses erwartungsvolles Zögern in ihrem Gebaren.

Als sie nun aber auf den glatten Asphaltbreiten der Straßen durch Charlottenburg nach dem Schloß hinradelten und die Fußgänger dem hohen, schlanken Mädchen im anmutig flatternden Radrock nachschauten, hielt der Herr von Schwielow mit seinem Rade etwas hinter ihr, denn mit sichtlichem Wohlgefallen fing er die Blicke der Spaziergänger auf, während seine Mienen zu sagen schienen: bin ich nicht in der allerbesten Gesellschaft? Er hatte schon lange erfahren, daß Wilhelmine durchaus keine Künstlerin und Schauspielerin, sondern ein einfaches Plättermädchen war, aber indem er die schlanke Gestalt vor sich auf dem Rade sah, die an Eleganz der Haltung der feinsten Weltdame nichts nachgab, fühlte er eine doppelte Genugtuung, daß er aussah wie einer, der mit einer Dame der besten Gesellschaft dem erfrischenden Sport huldigte. Er fühlte, daß es ihm ganz unmöglich sein würde, sich mit einem Mädchen sehen zu lassen, dessen Äußeres Zweifel an seiner Vornehmheit erwecken würde. So aber lebte er in der angenehmen, dunklen Empfindung, daß auch er auf die sonntäglich geputzten Spaziergänger und die vorüber spazierenden Damen, auf die wohlhabenden und hochgestellten Insassen der Equipagen und auf die Reiter und reitenden Damen, die nach dem 209 Tiergarten an ihnen vorüberritten, einen interessanten Eindruck machen müsse. Er fühlte, daß die etwas rätselhafte Erscheinung Wilhelmines mit ihren blonden Lockenwellen über der Stirn auch ihn mit dem feinen Aroma einer interessanten, männlichen Persönlichkeit umgab.

In solchen genußreichen Empfindungen der eigenen Person war das Pärchen hinauf nach Westend in die stillen Villenstraßen mit ihren schattigen Bäumen und laubreichen Gärten gelangt, um nun auf der einsamen Fahrstraße des Grunewalds bergauf bergab hinunter an die Havel zu gelangen, bis sie dann nach einer weiteren Fahrt bergan, wo sie absteigen mußten, den Kaiser Wilhelmsturm erreichten. Sie gaben unten auf dem großen, freien Platze des Berges die Räder ab und stiegen rüstig im Innern den Spitzturm hinauf.

Als sie in der Turmlaterne angelangt waren und zwischen den Pfeilern der Fensterbögen aufs weite Land schauten, lag das schöne Havelland in traumhafter Sonnenlieblichkeit unter ihnen. Sie waren ganz allein auf dieser Turmhöhe. Unmittelbar unter ihnen lag das weite Waldland des Grunewalds, auf dessen Wipfel sie hinabschauten, die dunkelgrün im weiten Bogen das Haveltal umrahmten bis darüber hinaus nach dem Potsdamer Waldbergen hin. Und hinter dem Waldrand tauchten in der Ferne die Landwellen des Teltowlandes auf, wo die großen Gartenstädte von Lichterfelde und von den anderen südlichen Vororten in 210 sonnenglänzender Sauberkeit aus der Ferne herüberschillerten, während hinter ihnen die letzten Rücken des Flämings den Horizont begrenzten. Mehr im Osten aber erhob sich ganz einsam aus dem weiten Wellenlande der dunkelgrüne Sattel. der Müggelberge in den reinen Himmel, als wäre er ein großer Berg, wundersam an den Horizont hingezaubert, während es dahinter in waldigen Landfurchen ins Unabsehbare zu gehen schien.

»Ach, wie ist das schön!« rief Wilhelmine in ganz gebildetem Deutsch aus. Denn wie die meisten konnte sie ein ganz wohlgesetztes, reines Deutsch sprechen; den Stadtdialekt brauchte sie nur, wenn es die Umstände mit sich brachten und natürlich erscheinen ließen.. Jetzt aber entzückte sie die Schönheit der heimischen Landschaft, während sie zugleich vor ihrem Begleiter auch recht gebildet erscheinen wollte, so außerordentlich, daß sie begann, dem Rheinländer die Aussicht zu erklären in schönem Hochdeutsch, wobei sie ihren Feldzug durch die Blumenrede begann.

»Sehen Sie, nun blicken Sie einmal mehr nach Norden über die Wipfel des Grunewaldes weg. Sehen Sie dort! Was sich da wie eine ganz lange, unendliche Mauer hinzieht: das ist Berlin. Und sehen Sie: da blitzt über die Mauer etwas aus dem Dunst: das ist die goldne Viktoria von der Siegessäule und gleich dort: die Reichstagskuppel und weiter in der Mitte: das ist die Wölbung des Doms! Und dann der Rathausturm! Und weiter, aber 211 ganz, ganz in der Ferne die Kirchen vom Gendarmenmarkt! Und dann geht die dunstige Mauer immer weiter, bis am Ende der rote Wasserturm von Rixdorf hinter dem Tempelhofer Felde das Ende ist! Und hier links hinter dem Walde, da geht die Mauer weiter, das ist Charlottenburg mit dem Kaiser Wilhelmsgedächtniskirchturm! Gott, wie groß, wie riesengroß ist Berlin! Und wie breit und tief! Das ist ja so weit, daß man überhaupt nichts mehr erkennen kann, sondern alles verkleinert!«

Sie blickten abwechselnd durch den Operngucker, den er mitgebracht hatte, und suchten in der fernen Reichshauptstadt hinter dem Walde bestimmte Punkte wiederzuerkennen. Und dann zeigte Wilhelmine hinunter, wo sie über Pichelswerder und Spandau mit seinem Juliusturm sahen und die Havel seenbreit zu ihren Füßen herankam, daß sie den ganzen Lauf des Seenstromes zwischen den waldigen, einsamen Bergrücken im zartesten Blau sich hinziehen sahen, bis nach Potsdam hin, waldige Inseln im Strome, Schwäne und Wildenten unten auf der Fläche, die Einbuchtung des Wannsees im Sonnendunste, gespannte Segel wie große, weiße Schmetterlinge über die Flut gleitend nach dem Pfingstberge zu und die Kuppeln von Potsdam und die Spitzen der Schlösser aus den Buchtungen auftauchend.

Wilhelmine war augenscheinlich äußerst entzückt, das alles wiederzuerkennen, und da die Sonne gar 212 zu schön über alles schien, begann sie, indem sie auf einmal einen leichtschwärmerischen Blick auf Schwielow warf, ihm ihre Gefühle nahe zu legen.

»Sie ist doch zu schön, unsre Mark! Nicht wahr, das hatten Sie als Rheinländer nicht gedacht?! Und wenn man denkt, daß man nun selber dort aus diesem großen Berlin am Horizonte kommt, wo die ganze Welt zusammenströmt! Und hier die Mark so still und einsam, kaum ein Mensch zu sehen! Das größte Großstadtleben und die volle, verlassenste Einsamkeit daneben. Gott, wer sich da eine stille Villa erbauen könnte mit Park, bei guter Verbindung mit der Stadt. Abends im Theater und so weiter nach der Stadt, bei Tage und Nachmittag aber im eigenen Parke! Sie sollten das doch tun, Herr von Schwielow, Sie könnten das ja! Aber allerdings eine Frau müßten Sie auch dazu haben!« –

»Glauben Sie, daß ich eine Frau dazu haben müßte?« frug der junge Mann lächelnd.

»Meiner Ansicht nach, allerdings ja! Und wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte: eine Berlinerin müßte sie schon sein! Sie würden sich ja gleich viel besser eingewöhnen, wenn Sie auch eine hätten, die gleich von Berlin stammt. Schon wegen der vielen Straßenbahnen. Nimmt man eine, die aus der Provinz stammt, so hat man immer Angst, wenn sie allein ausgeht, daß sie sich in Berlin verläuft oder überfahren wird von Elektrischen oder Droschken, wenn sie um die Ecke biegen. Man 213 kommt nie zur Ruhe und wird ganz nervös. Nehmen Sie aber eine eingeborene Berlinerin, die jeht ruhig durch das dichteste Wagengedränge, ihr passiert nie etwas, denn die hat schon als Schulkind auf allen Gassen herumrennen gelernt, verlaufen kann sie sich auch nicht, und wenn man ihr anfallen will, dann braucht sie bloß berlinisch zu reden mit etwas Energie. Da empfiehlt sich jeder Attentäter respektvoll und sogar die hohe Polizei begeht keine Personenverwechselungen. Eine Berlinerin ist das beste – das beste!«

Wahrend sie dies sagte, warf sie dem Herrn von Schwielow einen gewissermaßen selbstverständlichen Blick zu, daß sie nun doch wohl deutlich genug gewesen wäre, daß er sie verstehen könnte. Dann wendete sie sich kurz entschlossen um und zeigte mit dem Finger in die Landschaft hinaus.

»Sehen Sie, dort unten an der Bucht beim Wannsee, wo die Insel vorliegt, da müßte Ihre Villa liegen. Einen Namen müßte sie auch haben, natürlich den Namen Ihrer Braut und Frau.«

Schwielow war noch nicht ganz klar, worauf eigentlich Wilhelmine anspielte. Er sagte daher etwas gedankenlos:

»Ja, ja, den Namen meiner Frau müßte sie allerdings haben,« wobei er sich aber die ferne Stelle an der Bucht näher besah und den Gedanken erwog, daß eine Villa dort anzulegen in der Tat lohnte, besonders für den Fall, daß ihn 214 eine in Aussicht stehende diplomatische Stellung für längere Jahre an Berlin fesseln werde.

Wilhelmine machte auf einmal wieder ganz schwärmerische Augen, sah ihn leicht errötend von der Seite an und frug, indem sie wieder in die Landschaft hinaus sah:

»Na, und wie würde denn dieser Name eigentlich heißen, Herr von Schwielow?«

Der junge Mann sah träumerisch in die liebliche Landschaft hinaus, die durch die Fensterpfeiler wie ein Bild eingerahmt war, und indem er sich die Einrahmung dieses Bildes von den stillen Seeidyllen mit den Schwänen darauf zu einer Art von sehnsuchtsvollem Bewußtsein brachte, sagte er mit einem leichten Anflug von Schwärmerei:

»Wie sie heißen würde?« fragen Sie. »Eveline würde sie heißen.«

»Wie?!« frug Wilhelmine etwas bestürzt.

»Eveline,« sagte er, indem er nach der schönen, fernen Bucht sah.

»Sie sind ja ganz abwesend!« meinte Wilhelmine, als wäre sie selber in einem Traum. Dann setzte sie flüsternd wie in leisem Vorwurf dazu: »Und nicht Wilhelmine!«

Er schwieg. Er verstand plötzlich, was in der Seele seiner Begleiterin vorgegangen war. Er fühlte sich auf einmal in tiefster Verlegenheit, daß hier augenscheinlich eine Hoffnung entstanden war, die er in keiner Weise auch nur ahnend vermutet hatte. Er war daher fast erleichtert, als 215 Wilhelmine in einer Mischung von Ungläubigkeit, Enttäuschung und stiller Empörung zugleich ihm plötzlich einen ganz leichten Schlag auf die Wange versetzte mit ihrer schlanken Hand, worüber sie aber selbst erschrak, sodaß sie ganz bleich stotterte:

»Aber Herr von Schwielow! Sie wollen mir wohl nur uzen? Wie kann denn eine Eveline heißen?! Det jiebt's ja gar nicht!«

Jetzt sah er sie aber doch etwas vorwurfsvoll an, wobei seine Augen wieder so groß und starr wurden, wie es bei der Einladung zum Kaviar gewesen war. Und er sagte sich, daß er dieses etwas heftige, schöne Mädchen keine Sekunde mehr in Ungewißheit lassen konnte, nachdem sie augenscheinlich sich stille Hoffnungen auf ihn gemacht hatte. Er ergriff die Hand, mit der sie ihn leicht geschlagen hatte, führte sie an seinen Mund, küßte mit einer gewissen feierlichen Zurückhaltung diese Hand und sagte:

»Aber gewiß, mein Fräulein. Es ist so. Meine Braut heißt in der Tat Eveline. Denn ich habe zu Hause am Rhein eine Braut. Hatte ich Ihnen das nicht schon gesagt?«

In diesem Augenblick dachte Wilhelmine daran, daß sie hier hoch oben im höchsten Turm ganz allein mit diesem Herrn in der Laterne stand und daß man vom Domturm in Berlin oder von der Potsdamer Sternwarte mit Fernrohren es wohl hätte sehen können, wie ein adliger Herr ihr mit so viel Zuvorkommenheit die Hand küßte, ohne daß 216 er auch nur ein Wort über ihren Schlag verloren hatte. Sie kam sich dadurch innerlich so gehoben vor, daß sie die enttäuschende Mitteilung von der Braut bereits zur Hälfte nur noch als eine Enttäuschung empfand und nun mit größtem Staunen, aber zugleich lebhaftem Interesse, den ziemlich lauten Ausruf tat:

»Eine Braut haben Sie schon?!«

Und darauf rückte sie sich in den Schultern zusammen, kehrte ihm mit Haltung den Rücken zu, sah nach Berlin hinter den Waldwipfeln und sagte auf einmal gelassen: »Na, wenn nicht, denn nicht!«

Sie erwog schon die Möglichkeiten, die ihr mit ihren beiden anderen Bekanntschaften blieben, und fühlte, daß sie sich heute noch sehr zusammennehmen und beeilen müsse, um mit ihren schönen Lebensplänen nicht unter den Schlitten zu kommen, nachdem ihre vornehmste Hoffnung sich als eine unmögliche erwiesen hatte. Indessen, sie fühlte so praktisch, weil unter diesen Umständen es sich ihrerseits nur um eine ganz unmögliche Einbildung gehandelt hatte, daß sie auch sofort jede Gefühlsanwandlung preisgab, um zu überlegen, was nun zu tun wäre.

»Zürnen Sie mir?!« sagte fast flüsternd Herr von Schwielow, der fürchtete, unwissentlich ein liebendes Herz gebrochen zu haben, und nach taktvollen Äußerungen suchte, um sie zu trösten.

Da kehrte sie sich gefaßt wieder um mit einem 217 ganz klaren Ausdruck ihrer hellen, blauen Augen und sagte frisch:

»Zürnen?! Nee, aber wo werd ick! – Nur daß Sie immer mit mir zu Tanze gehn und mich so viel freigehalten haben – das müssen Sie mir erst erklären. Haben Sie sich denn nicht überlegt, daß ich als ein anständiges Mädchen denken mußte, Sie wollten mich heiraten und mir auf'm Präsentierbrett 'ne janze Villa dazu schenken?! Aber mit de Villa is es nun Essig. Und wat Ihre Braut dazu sagen wird!«

»Erlauben Sie, erlauben Sie mir, Ihnen zu erklären, Fräulein Wilhelmine! Es ist ja eigentlich so einfach. Und auch wieder so schwer zu erklären. Sie sehen mich in einer gewissen Verlegenheit; aber, Fräulein Wilhelmine, wenn Sie sich selbst im Spiegel sehen könnten, dann würden Sie es doch auch wieder ganz natürlich finden.«

»Na, wat Unnatürliches habe ick auch nich drin jefunden, daß Sie mein Tänzer waren,« sagte Wilhelmine trocken. »Ick tanze ja so furchtbar gern und jede Tour und na, da verbraucht unsereins eben viele Tänzer, denn die jungen Herren können ja bei unsereins auf die Dauer doch nicht mit.«

»Na, nicht wahr,« sagte Herr von Schwielow etwas verwirrt, da er fühlte, sie wolle ihn sozusagen als ihren Tanzbären einschätzen, was ihm doch auch wieder nicht ganz seiner Stellung zu entsprechen schien. Darum fuhr er fort, seinen Verkehr mit ihr weiter zu rechtfertigen, indem er 218 sagte: »Ja, und warum sollen junge Leute beiderlei Geschlechts nicht harmlos miteinander verkehren, miteinander essen und trinken und spazieren gehen? Ist das in England und Amerika nicht ganz selbstverständlich?! Und gibt es in Berlin nicht Tausende von jungen Damen, die auch diese schöne harmlose Selbständigkeit haben, ohne daß gleich ein Roman daraus wird? Denn wissen Sie, Wilhelmine, Romane, die liebe ich nun gar nicht, die sind mir ganz zuwider! Na, und wenn man denn zu Hause eine Braut hat, die man nur alle halben Jahre sehen kann und die man von ganzem Herzen liebt, – na, vielleicht etwas veraltete Ansichten meinerseits – aber einer Braut, der wird man doch nicht untreu – und ich liebe sie so von ganzem Herzen, Fräulein Wilhelmine –«

Wilhelmine schaute ihn ordentlich stolz an mit ihren frischen, klaren Augen, daß er sich so herzig und brav als ein Mann entpuppte, der daheim sein Bräutchen auch wirklich liebte und sogar von Treue sprach. Denn Treue hielt sie auch für etwas Schönes, weil ihr Vater, wenn er zu Hause war, die Treue doch immer als das Beste gepriesen hatte. Sie konnte sich schon vorausdenken, was der junge Herr ihr nun noch eröffnen würde; einstweilen sagte sie nur ganz fröhlich:

»Na, das freut mich aber ganz besonders.«

Und da wurde er mutiger und fuhr fort: »Freut Sie? Nun sehen Sie! Nun denken Sie, daß man sich hier in der großen Reichshauptstadt aufhalten 219 muß mit ihren Zerstreuungen und allen Anlockungen, besonders auch in der vornehmen Damenwelt. Überall wird man bald als Bräutigam in Aussicht genommen für Töchter, bald möchte eine verheiratete Frau ein Abenteuer haben, und man will doch nur seinem lieben Bräutchen daheim leben. Man möchte doch aber auch weibliche Gesellschaft nicht vermissen, möchte tanzen, möchte das Volksleben kennen lernen, na, was kann man da Besseres tun, als daß man die Bekanntschaft einer jungen Dame sucht, deren Anständigkeit und gute Haltung man gleich auf den ersten Blick sieht?! Und zum Essen muß ich Gesellschaft haben, sonst wird mir gleich entsetzlich wehmütig zumut, wenn ich so allein essen muß in den feinen Restaurants und dabei an meine Braut denke, daß sie nicht dabei sein kann. Sie werden das vielleicht auch für veraltet halten – aber denken Sie einmal an Bismarck und seine Braut, wie treu die sich waren, und Bismarck ist darin mein Vorbild – ja, da muß ich eben ein anderes weibliches Wesen zum Essen bei mir haben, das denn wenigstens wie eine Schwester oder Cousine mit mir speist – und ich habe einen Fehler begangen, ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen, dann hätten wir uns öfter von meiner Braut unterhalten können, und da hätte es mir noch besser geschmeckt. Und da lernte ich nun Sie kennen mit Ihrer guten Haltung und Ihrer Schönheit und Ihrem famosen Tanzen – meine Braut ist auch eine sehr gute Tänzerin, 220 aber Sie sind ihr doch über – na, und Sie verstehen –«

Er stockte wieder etwas verlegen, denn er wußte nicht, wie er sie taktvoll darüber trösten könne, daß sie vergeblich auf seine Hand gehofft hatte. Das fühlte sie aber auch wieder heraus; sie hatte nun eine Empfindung, daß sie ihn trösten müsse, weil er sie nicht haben konnte, und sagte:

»Na, es macht ja weiter nichts aus, wenn Sie auf meine Hand verzichten müssen; es wird sich bei Ihnen schon wieder geben. Und wenn Sie mir recht viel von Ihrer Fräulein Braut erzählen wollen, dann können wir immer ganz ruhig weiter radeln und zusammen tanzen zur Beruhigung für Ihre Braut, daß sie denn auch weiß, daß Sie hier in Berlin nur 'n anständigen Umgang haben. Na, Sie kennen mir ja! Von mir war das nur so 'ne Idee von wegen heiraten. Na, is et nicht, denn erledigt sich das von selbst. Denn Romane, wissen Sie, Romane, die mag ich auch nicht. Die Hauptsache ist, daß Sie mir jeden Augenblick bestätigen können, daß wir uns nichts vorzuwerfen haben – was vielleicht noch heute gesagt sein muß. Na, Sie werden das ja juristisch können.«

»Aber natürlich, Fräulein Wilhelmine! Aber natürlich! Für Sie überhaupt zu jedem Ritterdienst bereit!« sagte er nun erleichtert darüber, daß ihr augenscheinlich das Herz noch nicht gebrochen war. Gleichzeitig bemächtigte sich seiner eine gewisse Spannung, was da eigentlich der Tag noch 221 bringen sollte, und in welcher Angelegenheit er ausersehen war, eine bestimmte Rolle zu spielen.

»Na, denn können wir ja weiterradeln,« sagte Wilhelmine nach einer längeren, stummen Pause. Sie sah noch einmal in die Landschaft hinaus, das ferne Berlin, Spandau, das Haveltal bis Potsdam, dann atmete sie etwas tiefer auf und sagte nur: »Aber schön war die Aussicht doch!«

Er wußte nicht recht, ob sie die Landschaftsaussicht meinte oder die Aussicht, eine Freifrau zu werden, darum schwieg er taktvoll still und stieg schweigend hinter ihr wieder die Turmtreppe hinunter.

Unten hüpften sie ganz fröhlich ins Rad, sie sausten nun den steilen Berg hinunter mit dem Blick auf die Havel zur Rechten. In wenigen Minuten hielt Wilhelmine, denn rechts winkte die kleine Insel im Strome; Kähne lagen zum Übersetzen am Ufer. Sie meinte:

»Hier werden wir wohl nun ein bißken übersetzen, um einen kleinen Imbiß zu nehmen; es ist möglich, daß wir dabei auch eine Bekanntschaft treffen, Herr von Schwielow.«

Sie begaben sich mit ihren Rädern in einen Kahn, ein junger Bursche setzte sie in einer Minute hinüber. Sie betraten die Insel und waren zwischen Bäumen und Gebüschen bald auf den inneren Wiesenplan gekommen, wo die Gasttische unter einem Schutzdache standen. Auf der Wiese weidete ein Esel, hinter Uferbüschen und Bäumen aber 222 schillerten die Wellen des frühlingsmorgenblauen Havelstromes herüber.

»Ah – da ist ja schon die Bekanntschaft,« sagte Wilhelmine, indem sie den Studiosus Mochow erkannte, der auch mit einem geliehenen Rade gekommen war und an einem Gasttisch saß.

Sie führten ihre Räder herum und Wilhelmine sagte:

»Darf ich die Herren einander vorstellen? Herr Student der Philologie und Psychologie August Mochow, Herr von . . .«

»Von Karstens,« ergänzte auf einmal ziemlich rasch und bestimmt der vermeintliche Herr von Schwielow. »Sie gestatten, daß ich aus Anlaß meiner Mitteilungen, die ich Ihnen vorhin machen durfte, mein Fräulein, daß ich unser Inkognito lüfte. Ich heiße von Karstens, mein Herr.«

Er stand mit äußerst eleganter Haltung vor dem Studenten, der sich auch sehr achtungsvoll erhoben hatte, und bemerkte: »Von Ansehen habe ich ja die Ehre schon gehabt. Sie tanzten ja auch mit Vorliebe mit Fräulein Löffler. Aber nehmen wir Platz.«

Das angekommene Paar setzte sich nun auch an den Gasttisch, und Wilhelmine sagte:

»Na ja, da haben Sie sich nun doch verschnappt und Ihren richtigen Namen verraten! Das dacht' ich mir ja stets, daß Sie Karstens heißen müßten, denn ich habe ja immer das v. K. auf Ihren Taschentüchern und Ihrer Zigarrentasche gesehen. 223 Na, und wer das v. K. auf Ihrer Zigarrentasche so fein in Seide gestickt hat, das können wir wohl auch erraten. Herr von Karstens ist nämlich Bräutigam,« setzte Wilhelmine mit einem beruhigenden Blick auf den Studenten hinzu, »und wir hatten so'n kleinen Scherz, daß er immer sagte, er hieße Schwielow, und ich hatte mir ja auch im Anfang Gabler statt Löffler genannt. Wir wollten damit ausdrücken, daß wir nicht etwa auf ein näheres Verhältnis mit Heirat hinauswollten, sondern nur einen angenehmen Verkehr per Inkognito fürs Tanzen.«

Das alles sagte sie mit besonderer Betonung; der Herr von Karstens aber wollte möglichst feinfühlig und galant sein und sagte:

»Wie gesagt, nachdem ich Ihnen einmal mein inneres Leben dargelegt betreffs meiner Braut, hielt ich es für meine Pflicht, unsere Bekanntschaft zur vollständigen zu machen und reine Wahrheit in unseren Beziehungen herzustellen, mein Fräulein. Die unterhaltende Maske ist also gefallen, und wir sind ganz wieder wir selbst.«

Er sprach die letzten Worte gleichfalls mit einiger Bedeutung, da er annahm, Mochow sei wohl derjenige, dem es zu Ohren kommen müsse, wie arglos und wie freundschaftlich sein Verkehr mit Wilhelmine sei. Ja, nach einigen weiteren wechselseitigen Begrüßungen, erhob er sich vom Tisch, um die beiden anderen einige Zeit allein zu lassen unter dem Vorwand, er habe Esel gar zu gern und wolle 224 sich etwas mit dem weidenden Esel unterhalten. Auch habe er gehört, daß der Wirt dieser Insel ein ehemaliger berühmter Schauspieler und Komiker von Berlin sei, und er wolle sehen, diesen Mann näher kennen zu lernen.

So war Wilhelmine mit Mochow allein. Der Herr von Karstens hatte kaum den Rücken gekehrt, als Wilhelmine verstohlen mit der Hand in ihre Kleidertasche fuhr und ihr Geldtäschchen hervorzog. Sie steckte es rasch dem Studenten zu und sagte:

»Wissen Sie was, Herr Student, es wäre mir angenehm, wenn Sie nachher für mich bezahlen wollten. Ich möchte nicht, daß der Herr von Karstens hier für mich bezahlt, denn er ist ja so generös, sondern es ist mir lieber, wenn Sie bezahlen. Es sieht auch besser aus für Sie.«

Mochow nahm gelassen das Geldtäschchen, machte es auf, um zu sehen, wieviel ungefähr darin war, und sagte nur: »Bon! Machen wir.«

Sie aber glaubte in diesem Falle mit dem Anvertrauen ihres Geldtäschchens ihm auch eine Andeutung gegeben zu haben über die weitere Stellung, die sie ihm für etwaige Fälle, daß er eine dauernde Lebensverbindung suche, zugedacht hatte. Er ahnte zwar von der Feinheit dieser Andeutung nichts, fand es aber ganz passend, daß er für die schmucke Radlerin zahlte, da das ihn gegenüber dem adligen Herrn auch in einem höheren Lichte erscheinen ließ, und bestellte sich, während 225 die anderen nur ein leichtes Frühstück nahmen, einen guten Fisch in Anbetracht des Umstandes, daß sie hier mitten im Havelstrome saßen, der doch von allerhand guten Fischen wimmelte.

Wilhelmine war nun im Begriff, weiterhin deutliche Anspielungen auf den Umstand zu machen, daß sie die Absicht habe, nächster Zeit zu heiraten, wenn nur der entsprechende Mann sich fände, der durch gelehrte Bildung und Vielseitigkeit des Wissens ihrem Geschmack entspräche, als der Herr von Karstens auf dem Rücken des Esels, auf den er sich mit großer Kunst geschwungen hatte, an den Tisch herangeritten kam und vom Sitze auf dem grauen Tiere die Mitteilung machte, er habe leider den berühmten Gastwirt, der einst Schauspieler gewesen sei, nicht sprechen können, da dieser Mann schon seit einigen Jahren tot sei. Darauf aber stieg er vom Esel herab, um sich wieder mit an den Tisch zu setzen und mit Mochow ein sehr interessantes Gespräch über Berlin und die allgemeine Bildungsfreudigkeit dieser Stadt zu beginnen, die zurzeit geradezu eine einzige große Universität sei, wo vom Kaiser bis zum letzten Arbeiter herab eigentlich jeder Mensch in belehrende Vorträge laufe, um sich weiterzubilden. Denn zahllose freie Hochschulen, Vortragszyklen würden gegründet außer den Volksschulen, Staatsschulen, Töchterschulen, ununterbrochen werde über Religion, Wirtschafts- und Heilkunde, Dichtung, Kunst in allen Kreisen geredet. In der wohlhabenden 226 Welt seien überall Jourfix', Empfangstage, wo auch wieder deklamiert und Vorträge gehalten werden, bei Gräfinnen und Baronessen und in Arbeiterversammlungen geschähe auch nichts anderes, als daß ununterbrochen Bildung geredet und verbreitet würde. Da müsse es doch auch für Mochow ein Vergnügen sein, zu leben mit seinem augenscheinlich großen Wissen und seinen fortgeschrittenen Anschauungen über Sozialpsychologie, Bodenreform, Marinewesen, babylonische Ausgrabungen und alles andere, worüber man sonst noch reden könne, zum Beispiel über den großen Refraktor auf der Sternwarte zu Potsdam, dessen Kuppel sie von der fernen Berghöhe weit herüber hatten leuchten sehen.

»Berlin ist in seiner Art die großartigste Stadt, die es gibt,« entgegnete Mochow auf diese Bemerkungen, »die Stadt, in der, ich möchte sagen, zurzeit die größte soziale Bereitschaft aller Menschen für alle herrscht. Es ist ein großer Irrtum, daß hier ein Kampf ums Dasein walte, wo einer den anderen überrennt und ihm die Lebensmöglichkeit abschneidet, nur um selbst vorwärts zu kommen. Im Gegenteil, Herr von Karstens, meine Erfahrungen sind ganz andere. In dieser schönen Reichshauptstadt hilft jeder Mensch dem anderen, und das Gefühl des Altruismus ist in einer Weise entwickelt wie nirgends. Schon der öffentliche Verkehr nötigt dazu. Die Stadtbahnen, Vorortbahnen, die elektrischen Wagen, das ganze 227 verwirrende Menschen- und Wagendurcheinander mit seinen Gefahren nötigt alle, einander gefällig zu sein, Rücksicht aufeinander zu nehmen und fortwährend in menschenfreundlicher Weise für den Mitmenschen besorgt zu sein. Das werden nachgerade alle Bewohner unserer Stadt, daher können Kinder sich hier zum Beispiel mit der größten Sicherheit auf Eisenbahnen, Hochbahnen überall ohne Gefahr bewegen, denn jedermann gibt auf sie acht, ist ihnen von selbst beim Aussteigen behilflich. In Berlin könnte man ein dreijähriges Kind, das aber richtig laufen kann, ruhig allein per Eisenbahn und Elektrische durch alle Straßen sich überlassen, es würde sicher an seinem Bestimmungsort ankommen. Aber das genügt nicht, Herr von Karstens. Der Altruismus der Berliner geht noch viel weiter. Wo sie zum Beispiel geschäftlich sich wechselseitig helfen können, da unterstützt einer den anderen, soweit es sich mit der gesunden Vernunft verträgt, bereitwillig. Überall sind Leute, die zu neuen, geistigen Unternehmungen Geld haben und die rüstig Vorwärtsstrebenden protegieren. Darum erfahren auch Studenten und junge Leute diese wechselseitige Hilfsbereitschaft in allen Kreisen; freihalten, etwas springen lassen für solche, die es nicht so haben, ist die Losung!«

Mochow legte jetzt seine Hand gewichtig auf den Unterarm des Herrn von Karstens und sagte mit Nachdruck: »Denn wissen Sie, Herr von Karstens, hier in Berlin füttert einer immer den 228 anderen, sogar das weibliche Geschlecht hat in dieser Hinsicht merkwürdig gute Instinkte und läßt auch für andere etwas draufgehen. Sie werden das einst auch noch kennen lernen – jedenfalls ist die echte Berlinerin nicht kleinlich. Ich bedaure ordentlich, daß ich mit dem neuen Semester Berlin verlassen muß.«

»Sie wollen an eine andere Universität gehen?« frug von Karstens mit Interesse.

»Sie wollen fort?« frug Wilhelmine ganz bestürzt und sehr gedehnt.

»Jawohl,« fuhr Mochow in angenehmer geistiger Erregung fort, »ich will nach Leipzig, um dort noch mehr über moderne Psychologie zu hören, denn die verschiedenen Empfindungsweisen der Menschen, besonders der Klassen, als verschiedener Seelenkomplexe des allgemeinen sozialen Bewußtseins, sind doch das Interessanteste. Ich denke noch ein Semester dort zu hören und dann gleich nach dem Examen in meine Karriere einzutreten. Es sind mir sehr glänzende Aussichten gemacht worden; ich soll nach Griechenland gehen als archäologischer Hilfsarbeiter; da ich auch Türkisch kann, werde ich als Dolmetscher auch bei kleinasiatischen Ausgrabungen nebenbei viel Geld verdienen und – nebenbei bemerkt, Herr von Karstens, ich habe da auch gewisse Anknüpfungspunkte zu einem wohlhabenden Fräulein, sehr hübsch, reich, die schwärmt mit ihrer Mutter für Ninive und 229 Babylon – wenn ich in Leipzig fertig bin, ergibt sich manches andere – na, Prosit, Herr von Karstens!«

Er trank dem anderen zu, während Wilhelmine plötzlich von einer gewissen stillen Angst und Ungeduld erfaßt wurde, weil mit diesen wenigen Worten sich abermals eine Aussicht für sie als trügerisch erwies. Sie war zwar gefaßt genug, daß sie sich entsann, ja eigentlich niemals im Ernste an diesen Herrn Mochow gedacht zu haben, der für sie denn doch mehr eine Schutzwand, ein Pflichttänzer und ein junger Mann gewesen war, für den sie mit mütterlichem Wohlwollen die Wäsche umsonst gewaschen hatte. Aber daß er so gar unbekümmert und geradeheraus von seiner Abreise und den sonstigen Aussichten sprach, als wenn sie gar nicht da wäre, das schien ihr im Grunde doch etwas arg. Ihre Ängstlichkeit, daß ihr nun auch eine dritte Aussicht noch entschlüpfen könnte, steigerte sich unter dieser Mißempfindung ganz plötzlich, so daß sie, nachdem die Herren sich zugeprostet hatten, die Frage tat, ob man nicht bereits jetzt schon nach Wannsee aufbrechen könne, da sie dort noch eine Bekanntschaft erwarte und es ihr ein Gefallen sein würde, wenn die Herren auch dabei wären. Nun konnte Herr Fritz Schaller zwar nach ihrer stillen Berechnung, wenn sie jetzt schon aufbrächen, für den Fall, daß er kommen würde, noch lange nicht dort sein, aber sie hatte ein Gefühl, daß sie womöglich eher dort sein müßte, damit sie ihn ja 230 nicht verpasse in Anbetracht der bewußten Jette und anderer gefahrvoller Umstände.

»Aber natürlich!« meinte Mochow mit großer Zuvorkommenheit. »Ihr Wille Befehl, mein Fräulein! Wenn Sie eine Tendenz haben, das Lokal zu wechseln, so radeln wir eben los. Kellner!«

Er griff, indem er sich etwas stolz zurücklehnte, während der Kellner herantrat, in seine Tasche und zog mit Gelassenheit Wilhelmines Geldtäschchen heraus. »Was macht meine Rechnung?« frug er etwas von oben herab. »Was das Fräulein hat und ich! Ihnen, Herr von Karstens, wage ich noch nicht –«

»Aber, erlauben Sie, mein Herr,« sagte Karstens, »das Fräulein ist meine Sache!«

»Ich bitte mir zu gestatten. Es wäre mir angenehm,« meinte Mochow mit einem sehr vornehmen Gesichtsausdruck. Da der Kellner eine nicht allzu große Rechnung machte, so hielt es Karstens in diesem Falle für taktvoller, daß er dem Studenten die Zahlung überließ. Er berichtigte daher nur seine eigene Zeche, während Mochow mit einiger Würde das Geld Wilhelmines zusammensuchte und auch noch ein sehr anständiges Trinkgeld gab. Wilhelmine sah mit Genugtuung zu. So mußte denn der Herr von Karstens denken, daß auch ihr sonstiger Umgang wohlhabend genug war, um sie freizuhalten, sodaß der falsche Herr von Schwielow sich auch weiter nichts darauf einzubilden brauchte, daß er sie oft bewirtet hatte. Auch 231 Karstens fühlte sich in guter Gesellschaft bei dem Herrn Studiosus, der so generös zahlte. Erst als dieser das Geldtäschchen wieder einsteckte, hatte er eine Empfindung, daß er so ein Täschchen schon einmal in einer anderen Hand gesehen haben müsse. Aber er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken; er hatte nur ein gewisses Gefühl der Rätselhaftigkeit, das ihm mit dieser Erscheinung verbunden blieb.

Und somit erhob man sich mit außerordentlicher wechselseitiger Eilfertigkeit, Höflichkeit, Zuvorkommenheit bei sehr gebildeter Redeweise, setzte mit den Rädern wieder über ans Stromufer und fuhr nun auf der schönen Straße unter den Bäumen am Ufer bis in den Grunewald hinein, um am »Fenster« vorbei nach dem Wannsee mit seinen Schlössern an den Hügelbergen, mit seinen Jachten und Kähnen auf der weiten Wasserfläche zu gelangen.

Man hatte wohl zwei Stunden in dem feinen Restaurant auf der Hügelhöhe zugebracht und vergeblich auf das Eintreffen einer dritten Bekanntschaft Wilhelmines gewartet, über welche diese wiederholte Andeutungen gemacht hatte, daß nämlich vielleicht Vorurteile irgend welcher Art zu besiegen seien. Im Anfang hatten die drei im Saal ein Tänzchen improvisiert, wo Wilhelmine abwechselnd mit ihren alten Tänzern walzte, nicht ohne ein gewisses Gefühl des Bangens um das Vergängliche alles Irdischen, da sie ja nun aller 232 Voraussicht nach diese angenehmen Bekanntschaften bald nicht mehr haben würde. Je mehr die Zeit vorrückte, desto nervöser war Wilhelmine allmählich geworden; die Herren mußten sich wieder zu ihr in einen kleinen Speisesaal setzen, durch dessen Türe sie jeden Eintretenden hereinkommen sah. Unverwandt sah sie nach diesem Eingang in arger Zerstreutheit, sodaß die Herren sehr bald anfingen, wieder in lebhafte Gespräche über politische Fragen zu geraten, wobei sie beide große Hochachtung vor ihrer beiderseitigen Weltweisheit und allgemeinen Bildung faßten in dem angenehmen Gefühle, wenn nicht dem Stande nach, so doch geistig unter ihresgleichen zu sein. –

Die von Wilhelmine festgesetzte Zeit war schon beträchtlich überschritten. Da sah sie, in gesteigerter Unruhe, draußen den Türflügel aufgehen, durch den zwei muntere, schwarze Dachshunde hereintrotteten, die sogleich von verschiedenen Kaminecken und Stuhlbeinen Besitz nahmen, sie berochen, dann wieder ihre Köpfe zusammensteckten, mit den Schwänzen wackelten, um dann wieder hinauslaufen zu wollen. Eine Ahnung überkam Wilhelmine und eine große Angst, daß der vermutliche Herr dieser liebenswürdigen Tiere vielleicht auch wieder davonlaufen könne. Sie erhob sich jäh, sodaß die beiden Herren verwundert ihr Gespräch unterbrachen.

In diesem Augenblicke aber erschien im Türrahmen des Speisezimmerchens der angstvoll 233 Erwartete, sodaß Wilhelmine sich mit einiger Gelassenheit wieder niederließ, um zu tun, als bemerke sie ihn zunächst noch nicht. Denn jetzt kam alles darauf an, daß sie sich nicht das Geringste vergab. Sie hatte aber rasch gesehen, daß er sehr anständig aussah, er hatte einen neuen Sackanzug an und einen deutschen Hut auf und hinkte an einem eleganten Spazierstock. Nur an der sehr bunten, seidenen Halsbinde merkte man, daß er nicht ein Stutzer von Stande war, sondern etwas Mittleres, was man nicht so leicht unterbringen konnte, etwa ein Jockei im Sonntagsanzuge oder ein Preisradler, vielleicht auch ein Jongleur oder Künstler vom Wintergarten. Aber hübsch sah er aus.

Etwas zögernd, nachdem er Wilhelmine bemerkt, näherte er sich dem Tische, an dem er zu seinem peinlichen und verwunderlichen Staunen zwei Herren wiedererkannte, die er beide in keiner angenehmen Erinnerung hatte. Denn der eine war zweifellos der Mann, den er als Wursthändler hatte Wilhelmine nachts begleiten sehen, und der andere war ihm in seiner jetzigen vornehmen Stellung erst recht eine unangenehme Erinnerung: mit dem hatte er sich ja einst herumgeschlagen und sogar unter ihm auf der Stubendiele gelegen, als er noch der armseligen Tätigkeit eines Leiermannes nachging. Er wäre daher am liebsten wieder umgekehrt, wenn nicht Wilhelmine Gefahr im Verzug gesehen hätte, weshalb sie sich rasch herumwendete und etwas kurz sagte: 234

»Ah – das ist ja Herr – wollen Sie nicht näher treten, Herr –«

Da die Dachshunde auf diese Anrede hin sich sogleich an Wilhelmines Kleid reiben wollten, was sie abzuwehren suchte, so hatte Fritz Schaller nun doch näher herantreten müssen, um die Hündchen wegzujagen. Diesen Moment hielt sie fest, indem sie mit königlicher Vornehmheit sagte:

»Darf ich die Herren bekannt machen? Herr Fritz Schaller aus Berlin, meine Bekanntschaft, Herr Graf von Karstens, meine Bekanntschaft, Herr stud. phil. Mochow, auch meine Bekanntschaft.«

Mochow hatte auch seinen alten Gegner aus der Weißbierstube sogleich erkannt. So schnell er sich damals mit diesem versöhnt hatte, so war es ihm doch etwas peinlich, daß er in Gegenwart eines Grafen nun mit einem zu Tisch sitzen sollte, der damals nur ein Leiermann gewesen war und durch indiskrete Anspielungen auf gewisse Vorkommnisse unliebe Stimmungen verbreiten könnte. Er faßte sich aber schnell und sagte, um vorzubeugen:

»Hatte bereits die Ehre, werte Bekanntschaft zu machen. War, wenn ich nicht irre, in musikalischen Kreisen einmal in sehr interessanter Diskussion über künstlerische Fragen mit Ihnen, war ziemlich erregte Debatte, wenn nicht irre –«

Fritz Schaller, der sehr zurückhaltend blieb, aber als angehender Gentleman in herrschaftlichen Diensten die Situation im eigenen Interesse ganz 235 verstand, sagte wie einer, der sich schwer erinnern kann:

»Dunkle Erinnerung – jawohl – jawohl – war damals noch in der Entwickelung meiner sozialen Stellung – Herr Graf gestatten, daß ich einen Augenblick Platz nehme – es ist nur wegen einer geschäftlichen Erörterung – werde die Herrschaften aber gar nicht stören –«

»Aber – natürlich, setzen Sie sich doch einen Augenblick, Herr Schaller,« sagte Wilhelmine etwas ängstlich, denn dieser stolzen Zurückhaltung gegenüber fühlte sie doch, daß sie etwas entgegenkommen müsse. »Habe mir also vor allem sehr gefreut, daß Sie in so bedeutende, höhere Tätigkeit eingetreten sind. Es muß ja sehr interessant sein, in so distinguierte Verhältnisse zu leben. Es ist ja gleich eine andere Sache, wenn man eine regelmäßige Tätigkeit hat, wo man sich standesgemäß befriedigt fühlt, und was Sie mir schrieben von Ihre kunstwissenschaftliche Beschäftigung – man nennt det ja wohl Kunstwissenschaft – hat mich sehr gespannt gemacht.«

Sie sprach noch etwas mehr von der eigentümlichen, höheren Stellung, die Herr Fritz Schaller habe, sodaß der junge Graf und Mochow äußerst interessiert waren, zu vernehmen, was der Mann eigentlich war. Sie machten beide überaus zuvorkommende Gesichter; Mochow hatte die angenehme Empfindung, daß er nun doch mit einem solchen Manne, der augenscheinlich durch eigene Kraft 236 hochgekommen war, zusammensitzen dürfe. Dabei vermied es Wilhelmine in sehr geschickter Weise, das Wort »Diener« zu brauchen, denn sie selbst empfand es als sehr peinlich, daß sie einen leibhaftigen Grafen mit einem bloßen Diener an einem Tische zusammengebracht hatte. Deshalb redete sie nur etwas mystisch von einer höheren Tätigkeit. Fritz Schaller aber fühlte sich gehoben dadurch und handelte aus einer dunklen Empfindung seiner höheren Würde heraus, daß er auch kein Wort von einem herrschaftlichen Diener fallen ließ, sondern ihr nur mit allgemeinen Redensarten dankte und sich in allgemeinen Andeutungen erging, daß er es durch seine Energie und eine gewisse Anlage, sich gewaltsam in der Welt durchzusetzen, zu jener Stellung gebracht habe, die ihn nun mit der vornehmsten Welt verbinde.

Schon wollte Karstens näheres wissen, denn er sagte sehr verbindlich: »Darf man vielleicht fragen?« Aber Wilhelmine wußte sofort dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, indem sie begann:

»Was nun unsere geschäftliche Angelegenheit anlangt, Herr Schaller, wegen der Sie mich zu sprechen wünschten, so war freilich Ihre Anweisung an die falsche Adresse gekommen. Ich rate Ihnen, die Summe lieber bei der Komptoirdame von das betreffende großindustrielle Unternehmen zu deponieren und könnte ja von da aus die weitere Verteilung der Aktien stattfinden.« 237

Sie dachte durch diese allgemeine Behandlung der geheimnisvollen Angelegenheit sich die Zustimmung des Schallerfritz zu erwerben, denn sie mochte in der Gegenwart der anderen auch nicht davon sprechen, daß es sich nur um die Rückgabe von zwei Mark Vorschuß handelte. Mochow hielt einen Augenblick den Fritz Schaller für einen Mann, der eine große Erfindung mit Patenten und Aktien gemacht haben müsse; er fühlte sich ordentlich geehrt, mit dem Mann auf der Stubendiele sich gehauen zu haben. Als Wilhelmine in einigen weiteren Andeutungen fortfuhr, sogar von einer »Transaktion« zu sprechen – sie hatte das Wort oft im Börsenteil ihrer Zeitung gelesen – reichte Mochow dem Fritz Schaller seine Hand über den Tisch und rief:

»Herr Schaller – unsere alte Freundschaft! Heute müssen wir noch eins zusammen trinken!«

Indessen er begegnete einer auffälligen Zurückhaltung; Schaller, statt einzuschlagen, fühlte sich veranlaßt, einem der Hündchen einen Schlag zu geben; darauf aber erhob er sich wieder am Tische und sagte, so steif wie ein Diener dasteht, wenn er eine Teetasse präsentiert:

»Sehr verbunden, mein Fräulein, für Ihre geschäftliche Mitteilung. Bitte also mir die Summe wieder zur Disposition zu stellen per Post, worauf an das betreffende Komptoir erledigen werde. Will indessen Ihre Gesellschaft mit zwei anderen Herren nicht weiter unterbrechen und bedaure, daß so weiten 238 Weg machen mußte, wegen so einer Mitteilung – wäre ja wohl auch schriftlich – also viel Vergnügen mit die Herrens –«

Er nahm seinen Hut leicht ab und nickte steif mit dem Kopf, im Begriffe zu gehen. Wilhelmine war in jähem Schrecken zusammen gefahren, verschiedene Vorstellungen, wie die Gestalt einer gewissen Jette, grenzenloses Gefühl der Verkennung, Ritterpflicht anderer schossen ihr wie Zickzackblitze durch den Kopf; sie fuhr mit steifem Rücken empor, schlug heftig mit der Hand auf den Tisch und rief laut:

»Na, nun aber wird's zu doll! So wollen Sie gehn? Und kein Wort darüber, wie furchtbar Sie mir beleidigt haben? Hatten Sie nicht vor allem die Pflicht, Ihnen zu entschuldigen für das, was Sie mir angetan haben? Hätten Sie schon deshalb nicht einen viel weiteren Weg machen müssen, der Ihnen gar nichts geschadet hätte? Und nun wagen Sie in Gegenwart von diese Herrens so zu tun, als wäre ick Ihnen nicht fein genug für Ihre höhere Stellung? Wer sind Sie denn? Wat sind Sie denn? Soll ick Ihnen hier vor die Herren erst sagen, wat Sie sind? Und Sie woll'n ehrbares Berliner Mä'chen in falschen Ruf bringen in Ihren hohen Größenwahn? Wenn Sie so eine wie mich wiederkriegen, denn will ich Ihnen 'n Patent auf die geben, aber mir haben Sie verkannt! Und denn lassen Sie mit Ihren Jettens womöglich 'n ehrliches Mä'chen im Stich, wo durch 239 Sie in größten Kampf mit hundert andern Mä'dens gekommen ist und Ihnen mit echten Dachshündchen aus der Not geholfen hat? Denn wenn Sie die nicht gehabt und in Erinnerung an mir großgezogen hätten, wo wären wir denn? Verkommen wären Sie, untergegangen, deshalb sind Sie so, das hab ick woll aus Ihrem Briefe schon gesehen! Mit meinen Dachshunden habe ick Ihnen moralisch von's Verderben gerettet, und nun, um mir los zu kriegen, beleidigen Sie mich?! Zieht man denn geschenkte Dachshunde auch von eener, wenn man ihr nicht mag? Und Sie mochten mir, und ick hätte Ihnen auch jenommen und mir'n eignes Geschäft gekooft – man hat et ja – aber wenn man so in seine tiefsten Gefühle getroffen wird! Aber die Herren hier werden's Ihnen sagen, wie Sie mir beleidigt haben, und ob ich 'n feinet Mä'chen bin oder nich!«

Jetzt schwieg sie still. Mochow war gleich im Augenblicke, als sie den Entrüstungsausbruch begann, aufgesprungen und hatte die Türe des Zimmerchens zugemacht, damit man draußen nichts hören konnte und kein weiteres Aufsehen entstand. Da er sich der Sicherheit halber mit dem Rücken an die Türe lehnte, so hatte aber auch Schaller im Zimmer bleiben und die ganze sprudelnde Rede anhören müssen. Er war wie übergossen von diesem unvermuteten, jähen Überfall; es war wie eine preußische Seitenattacke, welche mit einem Schlage ganze Bataillone überreitet. Sowohl Karstens wie 240 Mochow aber sahen nun auch in blitzartiger Beleuchtung, wie die Sachen standen, daß die brave Wilhelmine den Schallerfritz sogar mit Leidenschaft lieben müsse, daß sie selbst aber das Hindernis waren, welches diesen so rasch empor gekommenen jungen Mann von Wilhelmine trennte. Karstens besonders fühlte, daß er verantwortlich sei, und erkannte, daß hier nun, nicht Mochow gegenüber, der es also nicht war, sondern vor dem Herrn Schaller eine besondere Ritterpflicht ihn riefe. Er ließ eine Pause verstreichen, nachdem Wilhelmine geendet hatte, dann erhob er sich mit einiger Feierlichkeit und sagte mit außerordentlicher Ruhe und Bestimmtheit, als stünde er an der grünen Tafel eines diplomatischen Kongresses vor einer Versammlung von europäischen Staatsmännern, wobei er sich aber dem Gesichtskreis der Anwesenden anzupassen suchte:

»Mein Herr! Ich habe nur mit allertiefstem Bedauern die Andeutungen verstanden, die Sie sich über eine Dame zu machen erlaubten, welche ich von einer ganz anderen Seite kennen zu lernen Gelegenheit gehabt habe. Sie gehen nach Ihren unvollkommenen Erfahrungen augenscheinlich von ganz falschen Voraussetzungen aus über die Berliner Frauenwelt. Mein Herr, es ist keine Frage, daß in einer Bevölkerung von jetzt fast drei Millionen Menschen von Potsdam, Berlin und bis nach Weißensee auch viele Mädchen und Frauen vorkommen, die nicht mit Unrecht einen 241 zweifelhaften Ruf genießen. Aber, mein Herr, das ist nicht die Regel. Die Regel ist vielmehr, daß es hier unzählbare, ehrbare Frauen und junge Damen gibt, welche vortreffliche Hausfrauen und Mütter werden, ausgezeichnete Bräute, und im Punkte der Ehrbarkeit über jeden Zweifel erhaben sind. Prüde sind sie nicht, das ist richtig, denn die Berlinerin hat einen weiten Horizont; fröhlich und lustig sind sie, aber stramm zugleich im Adel, Bürgertum und Arbeiterkreisen. Der Berliner Arbeiter kennt nichts Ehrloseres, als wenn ein junger Mann seine Braut, sein Mädchen sitzen läßt, aber daraus erkennen Sie, daß auch das weibliche Geschlecht in der Hauptsache in einem Milieu lebt, welches solchen Anschauungen entspricht. Als ein Muster ihres Geschlechtes aber fühle ich mich veranlaßt, Fräulein Wilhelmine zu preisen, die mir im freundschaftlichen Verkehr niemals Gelegenheit gegeben hat, auch nur im geringsten an ihr zu zweifeln, sodaß ich es mir zur Ehre geschätzt habe, sie in Anbetracht, daß ich selbst anderweit gebunden bin, zu meiner speziellen Tanzbekanntschaft zu erwählen. Ich habe dabei ebenso ihre Selbständigkeit, ihre gesunde Frische wie ihren Geschmack würdigen gelernt und erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß Sie von ganz falschen Empfindungen beseelt sind.«

Fritz Schaller stand aufs tiefste betroffen da. Wenn es so gewesen wäre, wenn seine Vorurteile falsch gewesen wären? Er fühlte, daß ihn dann eine unendliche Seligkeit erfassen würde, nachdem 242 er erst in seiner früheren Zeit gar nicht die Forderung erhoben hatte, daß seine Zukünftige nur ihn geliebt haben müsse, hernach aber, in anderen Lebensverhältnissen mit so großer Strenge ins Gegenteil verfallen war. Aber das Mißtrauen hatte sich so tief eingefressen, daß er noch keineswegs überzeugt war. Seine Achtung vor einem leibhaftigen Grafen war so groß, daß er allerdings nicht zu widersprechen wagte, aber er blieb verstockt und entgegnete:

»Es ist schon manchem armen herrschaftlichen Diener von hohen Herren eine aufgeredet worden! Aber ick will 'ne Frau, wo keine Vergangenheit hat. Ick hätte ihr genommen und könnte es ja in meine jetzige herrschaftliche Stellung – aber woher wissen Sie, Herr Jraf, daß sie keene Vergangenheit hat? Mit dem Herrn Studiosus hier hat sie ja auch verkehrt, und der hat sogar ihr Portemonnaie, denn als er es vorhin herauszog, um für meine Hündchens eine Wurst beim Kellner zu bezahlen, habe ick ihm erkannt. Aus dem Portemonnaie hat sie auch oft, wie ick noch Leiermann war, 'n Sechser gegeben, ick kenne das ja.«

Die Wirkung dieser Rede war auf alle Teile eine wahrhaft verblüffende.

»Wie?!« rief der Graf verwundert. Erst nach einer langen Pause sagte er mit einem behaglich gutmütigen Lächeln: »Ach so!«

Wilhelmine war wütend über den Redner und im Begriff, ihm den Laufpaß zu geben. Sie zog 243 ihre Handschuhe aus und warf sie auf den Tisch hin, um nun ihrerseits ein entscheidendes Wort zu sprechen. Mochow fühlte sich vor dem Grafen einen Augenblick in größter Verlegenheit; aber da er nun gleichzeitig erfahren hatte, welche höhere Tätigkeit der mißtrauische, junge Mann bekleidete, durchschaute er rasch die ganze innere Situation und sagte mit gesteigerter Feierlichkeit:

»Was zunächst die von Ihnen gänzlich mißverstandene Tatsache anlangt, daß ich hier in der Tat das Portemonnaie des Fräuleins in Verwahrung genommen habe, so glaubte ich im Sinne des Fräuleins zu handeln, indem ich Ihren Hunden eine Wurst bestellte, da ja Ihr beiderseitiges Verhältnis in diesen liebenswürdigen Hunden einen symbolischen Ausdruck gefunden hat. Fräulein Wilhelmine wünschte sich, daß ich aus Gründen des allerfeinsten Taktes gegenüber dem Herrn Grafen mit dem Gelde die Zeche erledige – Sie werden das verstehen, mein Herr, wenn Sie gesellschaftliches Empfinden haben. Aber Sie machen einen Fehler, Herr Schaller. Sie bedenken nicht, daß Ihre Empfindungen und Bedenken lediglich sozialpsychologischer Natur sind. Sie glauben gewissermaßen, Sie seien ein unabhängiges Ich, das außerhalb seines Milieuempfindens stünde. Aber darin irren Sie! Sie unterliegen lediglich einer gesellschaftspsychologischen Vorstellung, die Sie ja für die Wissenschaft zu einem außerordentlich interessanten Fall macht. Sie waren mir ja schon 244 früher einmal ein solcher interessanter Fall, und Sie lernten dabei, ich darf das ohne Unbescheidenheit sagen, doch auch meine Überlegenheit kennen. Darum erkläre ich Ihnen zunächst zur Sache: wer es wagt, die Unbescholtenheit dieses ausgezeichneten Fräuleins zu bezweifeln, den erschieße ich, denn ich erschieße denjenigen, der daran zweifelt. Ich schließe mich nach meinen Erfahrungen auf mein studentisches Ehrenwort den Erklärungen des Herrn Grafen an; auch ich habe nie eine Erfahrung mit dieser jungen Dame gemacht, welche mir den geringsten Zweifel an ihrer höchsten Ehrbarkeit gestattet. Wagen Sie das zu bezweifeln, nun, so haben Sie sich sowohl dem Herrn Grafen wie mir vor die Pistole zu stellen. Aber es wird unnötig sein, wenn Sie erst erkannt haben, daß Sie lediglich einer sozialpsychologischen Suggestion unterliegen.«

Auf diese Worte hin konnte Schaller nun doch nicht mehr bei seinem Mißtrauen verharren. Das eifrige Zeugnis zweier so gebildeter Männer war zu ernst. Er fühlte, wie ein innerer Stolz in ihm aufblühte, daß ein so braves Mädchen gerade ihn zu seiner Hoffnung erkoren hätte, denn das hatte ja Wilhelmine bestimmt genug verraten. Dabei empfand er aber auch, daß er sie in der Tat schwer beleidigt hatte, daß er mit den Gefühlen der Scham vor so ritterlichen Männern dastehe, und daß er vergeblich nach einem Entschuldigungsgrund für sein Tun und sein ganzes Verhalten suchen müßte. 245 Er stand eine Weile höchst niedergeschlagen da, indem er seinen Hut in der Hand herumdrehte, endlich meinte er:

»Sie sind also der Ansicht, det ick mehr 'n Fall aus die Sozialpsychologie bin?«

»Meiner Ansicht nach ganz entschieden!« sagte Mochow pädagogisch. »Denn darüber ist die Wissenschaft heutzutage einig. Das Volk, ja, die Menschheit unterliegt durchaus allgemeinen Hemmungsvorstellungen, die sich aus sozialen Vorstellungsassoziationen zusammensetzen, die sich atomistisch aneinanderfügen, aber durch die sozialen Zusammenhänge und Gegensätze der Massen konstant werden. Der einzelne unterliegt dieser Konstanz vollständig. Darin liegt aber natürlich auch seine Entschuldigung. Vor mir würden Sie bedeutend entschuldigt sein, wenn bei Ihnen auch dieses Gesetz sich beweisen lassen sollte.«

Fritz Schaller fühlte, daß er auch vor sich selbst leichter entschuldigt sein würde, wenn die Ansicht des Studenten richtig wäre. Und da er auch schon früher sich als einen besonderen Fall zu betrachten versucht hatte, so suchte er sich selbst, seinem Mißtrauen, seiner Beleidigung Wilhelmines leise zu entschlüpfen, indem er etwas schüchtern sagte:

»Wenn man et so betrachtet, so merckt man freilich, daß man det Konstante leider auch im Leibe hat, und ick möchte Fräulein Wilhelmine zu bedenken bitten, daß unsereins über das 246 Sozialpsychologische überhaupt nicht 'rauskommen kann. Aber wenn die Herren mir versichern« – er schwieg wieder eine Weile still und dachte etwas langsam nach. Dann aber sagte er plötzlich sehr laut: »Aber det is auch gewiß, wenn ick een Fall aus der modernen Psychologie bin, Herr Mochow, so sind Sie et ooch!« Und dabei machte er ein ganz triumphierendes und schadenfrohes Gesicht, als ob er sich dem andern unendlich überlegen dünke.

Unterdessen hatte Karstens, der mit großer Behaglichkeit die letzten Redewechsel gehört hatte, dem Kellner einen Wink gegeben und etwas mit diesem geflüstert. Jetzt aber trat er vor und sagte mit einer ruhigen, diplomatischen Würde, die ihm sehr wohl stand, zu Schaller:

»Nach diesen wechselseitigen Aufklärungen, Herr Schaller, tun Sie nun wohl vor Zeugen den einzigen Schritt, den Sie noch tun können, um die Verzeihung Fräulein Wilhelmines zu erlangen!«

Wie abwesend sah Schaller den Sprecher an. Er sagte:

»Ach ja, wenn Sie mir entschuldigt, det wär schon schön. Aber was vor'n Schritt?!« – –

Jetzt stellte sich Wilhelmine, die durch die schönen Reden der Herren auf sich wieder besänftigt war und sich auch etwas geschmeichelt fühlte, daß ihre zukünftige Hoffnung sogar eine wissenschaftliche Erörterung aus der neuen Sozialspychologie wert 247 geworden war, vor den jungen Mann hin und sagte, indem sie wiederholt auf ihre Stirn tippte:

»Aber Fritze, merkst du denn jar nicht –?! Der Schritt –?«

Er sah sie starr an und begriff noch immer nicht.

»Na, wenn de mir nimmst! Fritze!« rief sie mit fröhlichen Augen, indem sie die Hand mit erhobenem Zeigefinger vor ihm erhob. Da stieg unendliche Freudigkeit in ihm empor, da dachte er an alles, an ihre erste Begegnung im Hofe der Großwäscherei, an seine Millionen und wie er dieses schöne Mädchen hatte beschenken wollen, an seine Hündchen und seine jetzige, schöne Stellung, und da faßte er mit plötzlicher Kühnheit Wilhelmine um die Hüfte, drehte sich einmal mit ihr im Wirbel herum und rief überglücklich: »Wilhelmine, – nimm mir hin –!«

In diesem Augenblick begannen zwei Kellner den Tisch mit Gedecken für vier Personen zu belegen. Graf Karstens lud die anderen zur Feier der Verlobung seiner hochgeschätzten Freundin Fräulein Wilhelmine Löffler ein. Das Mahl, welches er zusammenstellte, wurde mit ganz besonderer Feinheit ausgesucht und hatte sehr viele Gänge. Noch vor dem ersten Gang hatte Wilhelmine alles Geschäftliche geordnet. Sie hatte Schaller eingeweiht in alles, wollte das Plättgeschäft kaufen, er sollte noch in seiner Stellung bleiben und versuchen, gute 248 Verbindungen für das Geschäft bei höheren Herrschaften zu schaffen, dann wollten sie in einem halben Jahr heiraten. Sie waren beide sicher, daß sie noch als wohlhabende Leute, vielleicht Inhaber eines großen Dampfwaschgeschäftes einst ihre silberne Hochzeit feiern würden. Und dann ging das Essen los. Als die feinen Weine und der Sekt, den Karstens reichlich fließen ließ, die Zungen schon etwas schwer gemacht hatten, erhob, nach vielen anderen Toasten auf das Brautpaar, sich August Mochow mit seinem Glase, um folgenden Toast auszubringen: »Gestatten Sie, meine Herrschaften, indem ich mich der wehmütigen Empfindung hingebe, daß ich diese schöne Stadt Berlin mit Umgebung verlassen muß, um auch meinerseits in ein hoffnungsvolles, emporstrebendes Dasein mich zu entwickeln, daß ich auf diese schöne Stadt Berlin ein donnerndes Hoch ausbringe. Denn nicht nur, daß sie so hervorragende Exemplare von Vortrefflichkeit und emporsteigender Entwicklung hervorbringt wie unser sehr verehrtes Brautpaar, sie ist mit all ihren Gegensätzen und sozialen Kontrasten, die zugleich die Errungenschaften der sozialpsychologischen Kontraste sind, das, was uns in Konstanz erhält, indem wir alle ihren Gesetzen uns unterwerfen auch darin, daß wir notwendig immer wieder von ihr selbst, ihrer Entwicklung, ihrem Gedeihen sprechen müssen. Gestatten Sie mir, in dieser vorgerückten Stunde alles, was uns bewegt und bewegt hat, auch im Verkehr mit sozusagen typischen 249 Berlinerinnen zusammenzufassen in das eine Wort: Es lebe Berlin, es lebe die Reichshauptstadt, worin alles, was geschieht, wieder auf eine besondere Art und Weise geschieht, in einer sozusagen inneren Konzentration des menschlichen Lebens überhaupt. Sie lebe hoch!«

 


 


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