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Minchen Löffler saß zu Hause am Kaffeetisch bei der Mutter und den jüngeren Geschwistern und machte einige Stiche an der Naht einer seidenen Bluse zurecht. Als sie damit fertig war, biß sie den Faden mit ihren schneeweißen Zähnen ab, hielt die Bluse mit beiden Händen hoch vor sich hin, um sie zu mustern, und sagte: »So, nu kann et ja losgehn, nun kann man ja wieder zu Tanze gehen!«
»Ja, nimm du dich nur in acht,« sagte die Mutter seufzend, »mit dir wird's auch einmal anders enden, als du denkst. Keine Nacht vor zwölf Uhr nach Hause und manchmal sogar noch länger. Nimm du dich nur in acht. Ich kann's ja dem Vater nicht mal sagen, wo er doch immer verreist ist, und wenn er heimkommt, am liebsten gar nichts hört!« 39
Minchen Löfflers Vater war Eisenbahnschaffner, der bald bei Tage, bald bei Nacht bis nach Köln und an die westliche deutsche Grenze die Schnellzüge von Berlin begleitete in Sommerhitze und Winterkälte, ein braver, treuherziger Mann. Der war stolz auf seine älteste Tochter Wilhelmine, besonders seit sie in der großen Plättanstalt angestellt war in einer so sauberen, herzerfreuenden Tätigkeit, an den schönen Plättmaschinen und beim Zusammenlegen der sauberen Wäschestücke. Denn sie verdiente da so viel, daß sie sich nicht nur immer Sonntags wie eine Dame von Stande kleiden, sondern auch noch der Mutter so viel in die Wirtschaft zahlen konnte, wie ihr Unterhalt verlangte. Sie war nicht nur ein sauberes, sondern auch ein sehr sparsames Mädchen, das immer Geld hatte und dem Vater, wenn er vom Reisedienst heimkam, oftmals mit einem Päckchen besseren Tabak oder einem hübschen Kistchen Zigarren eine Freude bereitete. Dann saß er behaglich in der Sofaecke und rauchte in seinen Ruhestunden den neuen Tabak, von einer Qualmwolke umgeben, im behaglichen Andenken an seine Tochter. Wenn die Mutter klagte, daß er ihre schönen, weißen Vorhänge in der Dachstube wieder einmal ganz verräuchere, so sagte er: »Ich fahre jeden Tag per Dampf bis nach Köln am Rheine und meine Tochter wäscht per Dampf, da wirft man nur die Wäsche in den großen Drehkessel, den dreht man um und dann dampft sie durch 40 und dann fertig! Na, warum soll ich denn nicht auch dampfen? Dann gib du deine Vorhänge auch in die Dampfwaschanstalt, Minchen nimmt's ja mit, denn dampft een Dampf den andern weg!«
Auf diese Worte hin rang die Mutter jammervoll die Hände und erklärte, sie werde niemals einwilligen, ihre Vorhänge in eine Waschanstalt zu geben und wenn sie sie umsonst gewaschen bekäme. Denn so mit ganz Berlin auf einen Haufen geworfen zu werden, das wäre ihr schon ganz unerträglich!
Minchen Löffler wußte, wie stolz ihr Vater auf sie war, und sie hatte auch nicht die geringste Neigung, sich dieses väterlichen Stolzes unwert zu erweisen. Aber sie hatte eine andere Lebensanschauung als die Mutter. Die stammte aus der Provinz, sie aber war eine Berlinerin. Sie sagte: »Na, wenn ick nich zu Tanze gehen soll, denn kann ick mir ja gleich in Essig legen und als Salzgurke verkaufen lassen! Nee, Mutter, heutzutage muß ein Mächen zu Tanze gehn, um die richtigen Bekanntschaften zu machen. Man will doch nicht ewig Wäsche legen und die heißen Plättrollen über die Herrenvorhemdchens gehen lassen, wie an der Nähmaschine. Man will doch auch die Herrens selber sehen, für die man sich so viele Mühe gegeben hat, daß sie Sonntags hübsch sauber gehen mit den schneeweißen, appetitlichen Kragen und dem seidenen Schlips nach der neuesten Mode! Na, und auf dem Tanz lernt man alle kennen, die 41 Studierten, die auf Jus und alte Sprachen lernen, und die sind untereinander so ganz anders, die vom Jus so fein und apart – und die Philologiker wieder so gemütlich und gar nicht von oben herab. Und denn wieder die Ingenieure, was die Doktor Ings sind, die alle Maschinen kennen und die Hochbahnen und Untergrundbahnen bauen, was die erzählen können! Und wenn man sich aus den ihren Reden gebildet hat, dann sind wieder die jungen Kaufleute aus den großen Warenhäusern und feinen Geschäften, durch die man einen Begriff bekommt, wie es da zugeht. Und manchmal kommen so ganz lange, von Adel, mit wenig Haaren auf dem Kopfe, aber blond und rosig, und so ein gewisses Etwas um die Schultern, so 'ne Plie, weißt du, Mutter? Und das sind die Diplomaten, von denen erfährt man wieder, wie die auswärtigen Beziehungen gerade sind. Na, und so eignet sich ein Mä'chen heutzutage die allgemeine feinere Bildung bei's Tanzen an, und man kann nie wissen, wozu die gut ist. Denn vielleicht nimmt mich doch einer mal, so'n Graf oder besserer Kaufmann, der 'n eigenes Geschäft begründet. Denn heutzutage muß 'n jebildetes Mä'chen auch seine Karriere machen. Na, und darum, Mutter!«
Damit verschwand Minchen Löffler im Nebenzimmer, um nach einem Weilchen, sehr anmutig angezogen, wieder herauszutreten. Die seidene Bluse saß, als wäre sie von einem modernen Künstler besonders für sie entworfen gewesen, die 42 Haare hatte sie leicht über die Stirne gewellt und über die Ohren geschmiegt, sodaß man sie für eine junge Dichterin oder Malerin halten konnte. Dazu hatte sie einen Hut auf mit hoch zurückgeschlagener Krempe und einem kühnen Federausputz, wie es gerade Mode war, sie streckte den rechten Fuß vor, um zu sehen, ob auch die neuen Schuhe sich beim Tanzschritt nett genug ausnehmen würden, und warf die lange Rückenfalbel ihres Kleiderrockes herum, um zu prüfen, ob sie sich beim Tanzen leicht und elegant genug herumschwenken werde. Und dann sagte sie:
»Siehst du, Mutter, wenn ich nicht mehr tanzen sollte, dann wäre das Leben überhaupt nicht mehr schön. Aber so zur Musik sich drehen, daß alles an einem vorüberwogt, als wäre man in einer Himmelsschaukel, das ist doch gleich ein höheres Leben. Und dann im Takt mit seinem Tänzer oder Tänzerin sich hinbewegen, als hätte man schon leibhaftige Flügel am Rücken und brauchte nur damit zu wippen, das ist geradezu, als wär' man schon eine Melodie aus der richtigen Sphärenharmonie! Meine Tanzfreundin, die Jule Gärtner, ist auch der Ansicht. Wenn wir keine Herren haben, tanzen wir beide immer zusammen, und das ist dann der reine Himmel. Siehst du, Mutter, so eene bin ich nun.«
Und damit gab sie der Mutter einen Kuß und eilte mit raschen Schritten aus dem Zimmer, um 43 nach dem ersehnten Tanzlokal sich auf den Weg zu machen. Diesmal ging's zur nächsten Hochbahnstation, wo sie sich in einen Wagen zweiter Klasse setzte, um in ihrem neuen Kleide ganz das Gefühl zu haben, daß sie den besseren Ständen angehörte. Während sie in dem elektrisch hinsausenden Glasfensterwagen saß, und bei der einbrechendem Dunkelheit die blauen Blitzflammen aus den Schienen herausschlugen, kam sie sich gerade so vor, als fahre sie auf einem Feuerwagen durch die Luft nach dem ersehnten Tanzplatze. Denn draußen strichen die Häuserfronten pfeilschnell neben ihr vorbei. Sie dachte, jetzt würden die Damen und Herren, die mit ihr im Wagen waren, ganz vergeblich darüber nachdenken, wer sie eigentlich wäre. Das wußte sie, daß kein Mensch ahnen würde, daß sie nur ein Plättermädchen aus einer Dampfwaschanstalt und eines Eisenbahnschaffners Tochter sei. Sie wußte aus Erfahrung, daß man sie meist entweder für eine Geheimratstochter, manchmal für eine Schauspielerin, gelegentlich auch für eine Künstlerin hielt. Denn, wenn sie ihren Handschuh herabgestreift hatte, sah man eine schlanke, wohlgepflegte Hand, die gar nicht nach grober Arbeit aussah, da die Plättmaschine und das Wäschefalten die Hand eher feiner machten. Sie hatte auch den feineren Damen abgesehen, wie man standesgemäß in der Straßenbahn, im Theater und Konzert dasitzt mit zusammengelegten Händen und ruhiger Kopfhaltung. Wie konnte man sie für 44 etwas anderes als eine junge Dame von Stande halten? Und da mußte sie mit leisem, innerem Lachen an den Leierkastenfritz denken, der ihr so deutlich zu verstehen gegeben hatte, daß er wohl eine recht gute Partie für sie sei. Und sie hatte, sie wußte selbst nicht, wie sie dazu gekommen war, solche Einbildungen halb und halb genährt, da sie doch niemals auch nur im Traum daran denken konnte. Ja, wenn er ein feiner Herr gewesen wäre, der sie zu Tanze führen konnte, da hätte man wohl so etwas in nähere Erwägung ziehen können, aber ein Leiermann?! Nein, sie hatte ganz andere Lebenspläne, sie konnte es noch zu etwas Höherem bringen, wenn sie es nur richtig anfing. Und darum hatte sie sich vorgenommen, vor allem ein anständiges Mädchen zu bleiben, nicht nur um ihres Vaters willen, sondern weil sie bedachte, daß ihre Aussichten, einmal eine gute Partie zu machen, um so besser waren, je weniger man ihr Übles nachsagen konnte.
Der elektrische Zug war von der Höhe herab in seine unterirdische Tunnelstation eingefahren, Wilhelmine stieg aus und fuhr in einem Viertelstündchen mit der Dampfeisenbahn nach dem Vorort, wo der große Tanzsaal in einem Parke steht, in dem ein kleiner See zwischen hohen, buschbewachsenen Abhängen liegt. Es war schon dunkel geworden, und sie schritt mit anderen, sonntäglich geputzten Damen und Herren, die auch ausgestiegen waren, den Parkweg im Dunkeln dem 45 Tanzsaal zu, als sie hinter sich ein Gespräch zweier jungen Herren hörte, die sie überholt hatte.
»Hören Sie, haben Sie die gesehen, das ist famos, das ist eine vorzügliche Tänzerin, ein Fräulein Löffler, man weiß nicht recht, was sie ist. Aber sicher was Besseres! An die müssen wir mal 'rantanzen! Das wäre ja eine Eroberung prima Qualität!«
Minchen fühlte ein angenehmes, leichtes Gruseln, heute würde es sicher noch hübsch werden, dachte sie. Aber sie wollte sich suchen und erst aus der Menge der Tänzerinnen herausfinden lassen. Darum eilte sie mit beschleunigten Schritten vorwärts, um rascher in den Tanzsaal und die Damengarderobe zu kommen. Der Park war so dunkel und das Geflüster der vor und nach ihr kommenden Paare war so erwartungsvoll und lauschig –
Als Minchen Löffler in den großen Tanzsaal eintrat, war es noch nicht recht voll. An den Gasttischen um den Tanzboden saßen erst einige Gruppen von jungen Damen, da und dort auch ein junger Mann, der die neuhinzukommenden Frauen und Mädchen an seinen musternden Augen vorüberspazieren ließ. Aber der Klavierspieler und der Geiger spielten bereits auf. Wilhelmine war kaum eingetreten, so sah sie auch schon ihre Tanzfreundin, die Julie Gärtner, ein großes, schlankes Fräulein, an einem Tische bei einer Tasse Kaffee sitzen. Noch wagte kein Paar sich zur Musik zu drehen. Wilhelmine ging auf ihre Freundin los, 46 nickte ihr nur zu, und gleich hatte sich das schlanke Fräulein Julie erhoben; sie lächelten sich als gute Bekannte nur an, umfaßten sich, und ohne noch ein Wort miteinander gesprochen zu haben, drehten sie sich zu einem munteren Walzertakt auf dem glatten Tanzboden um einander herum, daß ihre Kleidröcke in weitem Bogen um ihre taktmäßig hüpfenden Füße flogen. Sie waren kaum um den halben Saal herum, so hatte schon ein zweites Mädchenpaar den Mut gefunden, sich in die wogende Tanzbewegung zu wagen; im dritten kam schon ein junger Mann, der rasch eine hübsche Kleine sich von ihrem Tische weggeholt hatte, gleichzeitig traten zwischen mehreren Tischen noch einige andere Paare heraus. Als die beiden Musiker von der kleinen Saalbühne, auf der sie spielten, nach einigen Runden mit dem Spiel abbrachen und der Tanzkassierer im Frack zwischen den stehenden Paaren herumging, um das Geld einzukassieren und die Tanzkarten der Herren zu revidieren, stand bereits ein Dutzend von Paaren auf dem Saalboden herum. Jetzt erst fanden die beiden Freundinnen Zeit, mit einander zu plaudern, denn bisher waren sie ganz eingenommen gewesen von der reizenden Wissenschaft ihrer Tanzbewegungen.
Es dauerte nun nicht mehr lange, so war der Saal dicht gefüllt mit tanzlustigen, jungen Damen und jungen Männern aller Berufsklassen. Alle Tische waren besetzt mit erwartungsvollen Mädchengruppen, fröhlichen Witwen und auch manchen 47 älteren Freundinnen des Tanzes. Da waren Verkäuferinnen aus den großen Warenhäusern der Stadt, Kassiererinnen aus Geschäftshäusern, Kellnerinnen aus besseren Gasthäusern und viele Mädchen von gleichem Stande wie Wilhelmine Löffler, nämlich Plätterinnen und Wäscherinnen. Auch manches Mädchen aus dem gebildeten Mittelstande war mit einem Bruder oder Vetter da, dazu unternehmungslustige Töchter von Hausbesitzern und anderen wohlhabenden Leuten, denen es bis zum nächsten Hausball zu lange dauerte und die feinen Gesellschaftsbälle nicht genügten. Da und dort mochte wohl auch ein Mägdlein mit hochaufgeschlagenem, prächtigem Federhut in kostbarer Seidenbluse stehen, das weder vom Gelde wohlhabender Eltern, noch von der eigenen Arbeit lebte, sondern in seiner Schönheit das Mittel erkannt hatte, des Abends mit galanten Kavalieren viel gute und teure Dinge zu speisen. Zwischen ihnen aber erschienen wiederum manche junge Kindermädchen und Hausmädchen, und die Herren Studenten, junge Kaufleute, Techniker, Gärtner aus den zahlreichen Gärtnereien um die Reichshauptstadt, Baubeflissene, Postbeamte, auch mancherlei junge Lehrer übten ihre Frauen- und Standeskenntnis, indem sie schon an den Händen, am Gang und an der Haltung der Tänzerinnen herauszufinden suchten, ob eine zu einer Großwaschanstalt, zu einem Warenhaus oder einem sonstigen Beruf gehörte, denn die Kenner meinen derlei schon äußerlich genau zu unterscheiden. 48 Die Damen selbst rechneten mehr mit dem Umstande, daß Herren sich in der Frauenkenntnis doch auch sehr leicht täuschen können, und lebten der Mehrzahl nach in dem Gefühle, daß sie mehr oder minder ein geheimnisvolles Etwas, und man ihnen nur das ansähe, daß sie sehr nett und sehr hübsch angezogen seien. Dichtgedrängt standen sie um den Zugang zum Tanzraum, bis sie mit jedem neuen Tanze wie ein losgelassener Bienenschwarm auf den Tanzplatz ausschwärmten, während an ihrer Stelle andere wieder in dichtem Gedränge sich zu den Zuschauern verfügten.
Auch Minchen Löffler fühlte sich gegenüber den unbekannten Herren, die sie engagierten oder beobachteten, als ein geheimmsvolles, unbekanntes Etwas, das hier vor allen Dingen eine junge Dame um ihrer selbst willen war. Bald eröffnete sie mit ihrer Freundin einen neuen Tanz, eine Polka, einen Rheinländer, einen Walzer, eine Mazurka, bald hüpfte sie an der Seite eines Herrn dahin, hob mit anmutiger Leidenschaft das Bein hoch, wenn der Hüpfschritt kam, wo man sich die Hände reichte und wieder losließ, um dann am Arme des Tänzers sich wieder im Kreise zu wirbeln. Mit ihrer Freundin tanzte sie am schönsten. Beide hielten sich in einer leichten Entfernung von einander, die Arme um die Hüften gelegt. Sie legten den Oberkörper leicht zurück wie Schwanenhälse und drehten sich nun in der Weiterbewegung mit gelassener Ruhe um einander herum, sodaß ihre 49 Röcke wie zwei Schmetterlingsflügel gleichmäßig im Schweif hinausschwebten. Das sah ganz entzückend aus. Alle Zuschauer freuten sich, wenn sie mit solcher klassischer Regelmäßigkeit ohne abenteuerliches Getrippel und Hüftegeschwenke wie von einem Windwirbel getrieben über den glatten Fußboden hinglitten und ihn mit ihren Füßen kaum zu berühren schienen. Auch viele andere Damenpaare brachte jede neue Runde mit auf den Plan, und die meisten waren hochgewachsene, schlanke Gestalten, echte Berlinerinnen, viele blonde, rosige Mädchen mit schlanken Köpfen und Wangen, die etwas lässig und überhängend dastanden, aber voller Elastizität und Eleganz sich bewegten, sowie sie zum Taktrhythmus der Musik in den Tanz hineinkamen. Von allen aber zeigte Wilhelmine Löffler die ruhigste Eleganz der Bewegung; sie war selbst wie ein verkörpertes Stück Musik; sie lauschte nur den Tanzklängen des Klaviers und der Geige und suchte diese Klänge in den Bewegungen ihres Leibes selbst wieder darzustellen. An den Biertischen saßen auch viele Zuschauer, die nicht selbst tanzten, sondern nur gekommen waren, dem Tanz zuzusehen bei einem Glase Bier, um in einem angenehmen, sonntäglichen Gemütsrausch durch die herankreisenden Massen der Tanzpaare jene harmonische Empfindung zu erleben, die selbst mit hinauswogen möchte ins fröhliche Unendliche des Lebensgenusses und der Freude an harmonischen Bewegungen taktmäßig bewegter 50 Menschenleiber und musikalisch bewegter Gewänder. Minchen Löffler wußte genau, daß viele von diesen Zuschauern sie im Tanzen mit den Augen verfolgten, bis sie zwischen anderen Paaren verschwand, und daß sie sich besonders freuten, wenn sie dann mit ihrem Tänzer aus der rauschenden, fußschleifenden Menge wieder auftauchte. Das Bewußtsein, daß man ihr so gern zusah, erfüllte sie mit einem Gefühle reizender Zufriedenheit mit sich selbst, das angenehmer war, als der zarteste Champagnerrausch und alles, was die Leute von Liebe redeten, oder was Liebegefühlen ähnelte, wenn man einen recht hübschen, angenehmen Tänzer hatte. Und so lebte Minchen mit ihrer Freundin und anderen dem gemeinsamen Tanzgenusse, der für sie ein rechter Kunstgenuß war. Da war nun ein sehr vornehm aussehender, junger Mann, der zwar schon eine Glatze hatte, aber von rosiger Wangengesundheit strotzte und einen sehr eleganten Gehrock von feinem, englischen Tuch trug. Der hatte sie bereits mehrmals engagiert, während dazwischen jene beiden anderen, die im Park über sie gesprochen hatten, auch mit ihr verschiedene Tänzchen gewagt hatten. Alle drei hatten mit großem Respekt und sehr viel feiner Zurückhaltung bereits zarte Andeutungen gemacht, ob man nach dem Tanze nicht wieder nach Berlin zurückkehren und etwa in einem gemütlichen Restaurant noch zusammen ein schmackhaftes Nachtessen einnehmen könne. Wilhelmine hatte bisher weder Ja noch 51 Nein gesagt, sondern diese Fragen mit einem leichten, vielsagenden Lächeln ignoriert. Es schien ihr sehr verlockend, zu einem solchen Abendessen mitzugehen, aber sie war sich noch nicht recht klar darüber, welchem von den drei Herren man wohl sein Vertrauen schenken dürfe. Denn es kam öfters vor, daß junge Herren solche Einladungen an ihre Tänzerinnen nur deshalb richteten, um in Damengesellschaft zu sein und sich einen Abend fröhlich und lustig zu unterhalten, in Ermangelung von Schwestern und anderem weiblichen Umgang. Andere dagegen kamen dann mit Andeutungen und Anträgen, die Wilhelmine verletzten. Es war daher sehr schwierig, die richtige Männerkenntnis zu gewinnen und einem gleich äußerlich anzusehen, ob er nur eine fröhliche Abendgesellschaft mit erlaubten Neckereien wünschte, woraus sich ja unter Umständen sogar einmal eine nähere Bekanntschaft mit nachfolgender Verheiratung entwickeln konnte. Darauf ging ihr Trachten und auf die Selbstbildung, von der sie ihrer Mutter erzählt hatte, die man in solchen Herrenkreisen sich anzueignen Gelegenheit hatte.
Anfangs schienen ihr jene beiden jüngeren Leute vertrauenswürdig, schon weil sie zu zweien waren und augenscheinlich als Freunde zusammengehörten. In Gesellschaft zu zweien kommt ein Mädchen, besonders, wenn sie sich geschickt zu benehmen weiß, nicht so leicht in Gefahr, sich jenen ihr unangenehmen Mißverständnissen 52 auszusetzen. Einer von beiden hatte sogar gesagt im Tanzen:
»Na, Fräulein, von unserer Gesellschaft versprechen Sie sich wohl nicht viel Gutes, weil Sie immer noch nicht gesagt haben, ob Sie mit uns gehen wollen. Wahrscheinlich tanzen wir Ihnen zu schlecht.«
Sie dachte hin und her, ob das nur eine Maske für allerlei Verführungskünste sein sollte, oder ob sie sich von einer Unterhaltung zu dreien einen harmlosen Sonntagsabend mit diesen beiden versprechen könne. Sie dachte es, indem sie gerade mit dem eleganten, jungen Manne den Großvatertanz zu der berühmten Melodie: »Ich tanz' mit meiner Frau« ausführte und neben diesem im Rokokohüpfschritt in der dichten Masse der Tanzenden hinschlürfte. Da sagte auf einmal der junge Diplomat oder Jurist, denn so sah er aus:
»Sagen Sie einmal, mein Fräulein, essen Sie gern Kaviar? Ich meine von dem ganz teuren, großkörnigen?«
Wilhelmine empfand einen angenehmen Schreck. Sie schlug ihre Augen empor, die soeben noch auf ihre Fußspitzen herabgesehen hatten, und indem sie dies tat, empfand sie einen plötzlichen, großen Appetit auf großkörnigen Kaviar, den sie in den Delikatessenhandlungen so oft gesehen, aber noch niemals gegessen hatte. Sie hatte nur solche Sorten kennen gelernt, die ihr Vater als Heringsroogen gebrandmarkt hatte. Aber schon diese 53 hatten ihr sehr gemundet. Sie wußte noch nicht, ob die Frage eine tiefere Bedeutung haben sollte, als sie nun aber in das offene, rotwangige Gesicht dieses Tänzers schaute, hatte sich auf einmal ein großes, inneres Zutrauen zu ihm ihrer Seele bemächtigt. Denn sie sah, daß er weder süßlich noch verführerisch noch sonst wie erwartungsvoll lächelte, sondern durchaus nur von der Vorstellung großkörnigen Kaviars selbst erfüllt schien, indem er ganz große Augen machte und sogar etwas stier auf sie niederblickte. Sie sah mit dem Instinkt eines hellsehenden Gemüts, daß dieser wohlgekleidete Unbekannte in diesem Augenblick jedenfalls nur an den Kaviar und gar nichts anderes gedacht hatte, und darum sagte sie etwas rasch:
»Ich glaube, ich würde ihn für mein Leben gern essen, wenn es wirklich echter von der besten Sorte wäre, denn was man sonst in dem Punkte bekommt –«
»Na, dann erlauben Sie, mein Fräulein, daß ich Sie zu einem kleinen Abendessen unter vier Augen einlade, in dem auch zur Einleitung echter Belugakaviar vorkommt. Ich esse am liebsten zu zweien, zu dreien finde ich störend. Zu zweien schmeckt man alles besser durch. Vielleicht hören wir vorher noch einen Akt im Theater oder in der Oper.«
Wilhelmine war sich zwar nicht ganz sicher, ob sie sich mit völliger Arglosigkeit unter vier Augen der Begleitung dieses Mannes werde 54 überlassen können, aber sie dachte mit kühnem Entschluß, daß sie es jedenfalls wagen wolle, und sagte daher:
»Na, wenn Sie eine gute Quelle haben, so könnte man ja wohl mal probieren. Theaterspielen sehe ich auch für mein Leben gern!«
»Unter diesen Umständen könnten wir vielleicht sofort aufbrechen. Wir kommen gerade noch recht in ein Theater, wir nehmen dann eine Droschke. Um neun Uhr oder halb zehn pflege ich zu essen, das könnten wir ja dann auch tun. Es ist mir außerordentlich angenehm, daß ich eine so hübsche Gesellschaft haben werde. Es schmeckt gleich noch einmal so gut, wenn man in Begleitung einer schönen Erscheinung kommt.«
Das betonte der junge Mann mit der Miene eines Sachkenners, und so geschah es, daß Wilhelmine sich nach diesem Tanz langsam zurückzog und diesmal sogar ihre Freundin nicht einmal davon unterrichtete, daß sie fortging. Sie stand bald in der Garderobe, wo der galante Begleiter ihr beim Anziehen behilflich war. Und nach wenigen Minuten saßen sie auch schon im Vorortzuge, um nach einem Viertelstündchen in Berlin anzukommen.
Unterwegs hatte sich Herr von Schwielow mit einer gewissen wohlwollenden Herablassung mit diesem Namen ihr vorgestellt, während sie sich als Fräulein Wilhelmine Gabler benannte. Sie glaubte nämlich zu bemerken, daß er seinen wahren Namen nicht nannte, denn er hatte zufällig sein 55 Taschentuch hervorgezogen und mit dem Scharfblicke ihres Berufes, der für Monogramme auf Taschentücher besonders ausgebildet war, erkannte sie, daß in feinster Stickerei darauf die Buchstaben M. v. K. in wechselseitiger Verschlingung eingezeichnet waren. Da dies aber durchaus dem genannten Namen widersprach, so stellte sie sich rasch vor, daß sie auch nicht ihren wahren Namen sagen dürfe, sondern aus Löffler einen Gabler machen müsse. Sie tat das ganz unverlegen und keck; als echte Berlinerin dachte sie, daß sie sich auch nicht so leicht dumm machen ließe. Und nun war sie in der angenehmsten Spannung, was sich noch aus diesem wechselseitigen Inkognito entwickeln werde.
Schnell war man in der Stadt in eine Droschke gestiegen, der Kutscher stellte den Taxameter ein, warf seinen Radmantel zurück, da es schnell gehen sollte, und nach zehn Minuten waren sie auch schon vor dem Königlichen Schauspielhaus. Dort stand die Jungfrau von Orleans auf dem Zettel. Wie in einem Traum saß Minchen dann neben ihrem Begleiter im Parkett. Der Vorhang ging auf, man sah das Vorspiel, wo die Jungfrau als Hirtin auftritt und Helm und Rüstung erhält. Es war so schön, daß Wilhelminen die tiefste Dankbarkeit für den falschen Herrn von Schwielow faßte. Er hatte ihr schon einiges vorher erzählt über das Stück, und sie hatte aus der Volksschule auch noch einige Erinnerungen an den Dichter Schiller; es war eine ganz gebildete Unterhaltung. Nun war sie 56 äußerst gespannt, wie das Stück sich entwickeln werde; sie wußte, daß die einfache Bauerntochter und Hirtin später zu einer sehr einflußreichen politischen Persönlichkeit emporstieg, der verschiedene Ritter und Grafen huldigten, ja, sogar ihre Hand anboten. Sie sagte sich, daß diese Jungfrau ja auch eine große Heiratskarriere hätte machen können. Sie hatte an der feinen Wäsche, die der falsche Herr von Schwielow trug, an dem feinen Batisttaschentuch, an den zarten Hemdärmeln, die hinter den Manschetten zum Vorschein kamen, erkannt, daß er jedenfalls ein ganz vornehmer Herr war, der sich sogar einen minderen Rang beilegte, als er wirklich besaß. Denn seine Wäsche war die reine Grafenwäsche; sie wußte das, denn solche Sachen hatte sie unter ihrer heißen Plättwalze nur in ganz besonderen Fällen. Konnte es ihr denn nicht auch so gehen, daß man ihr wie der Jungfrau von Orleans eine solche Grafenhand anbot? Vielleicht hatte er sie nur deshalb mit in das Stück genommen, um solche Empfindungen in ihr wachzurufen?
Nach dem Vorspiel schlug indessen der Herr von Schwielow vor, nun auch rasch noch ein anderes Theater zu besuchen, da er nur habe sehen wollen, wie die erste Darstellerin die Rolle auffasse, ob sie die Jungfrau mehr als eine Seherin oder mehr als eine starkarmige Gewaltnatur gebe. Er erhob sich nach dem Vorspiel, was konnte sie anderes tun, als ihm folgen? Sie glaubte, ihr Hinausgehen 57 erregte einige Aufmerksamkeit unter den Zuschauern, da alle anderen sitzen blieben. Ein Blick von satter Genugtuung, den der Herr von Schwielow über die Zuschauer tat, verriet, daß er diesen Umstand sehr angenehm empfand. Er fühlte, daß er wegen seiner hübschen Begleiterin mit den künstlerisch gewellten Haaren Beachtung fand, und behandelte daher Wilhelmine mit einer besonderen Galanterie, indem er zwischen den Parkettbesuchern sie zum Ausgang geleitete.
Eine neue Droschke wurde genommen, und nach fünf Minuten hielt der Wagen, nachdem man den nächtlichen Strom der Fußgänger auf den Bürgersteigen hatte lang hinfluten sehen, vor dem Apollotheater.
Abermals wie im Traume saß nun Minchen Löffler neben ihrem Begleiter in einer Loge und bewunderte ein Ballett, welches schwebende Amoretten und Liebesgötter in der Luft mit fliegenden Reigengebärden schilderte, indem blondlockige Mädchen an Seilen hängend phantasievolle Luftgruppen bildeten. Es war ganz wie ein schöner, zauberischer Traum.
Indessen Minchen hatte gar nicht lange gestaunt und die geflügelten Gestalten mit den Schmetterlingsfittichen hin und her gaukeln gesehen, als der Herr von Schwielow unruhig wurde und öfters seine Uhr hervorzog. Endlich meinte er: »Es ist nun doch schon neun Uhr. Wie wäre es jetzt mit dem Kaviar? Es ißt sich nicht gut, 58 wenn man den besten Appetit übergeht. Und ich bin gerade jetzt vorzüglich disponiert.«
Da auch Wilhelmine sich allmählich zum Essen gestimmt fühlte, so erhob sie keinen Widerspruch, sondern folgte dem geheimnisvollen Herrn, der sie nun zu Fuße nach der Straße »Unter den Linden« geleitete, da er die Meinung äußerte, nach dieser kleinen Selbstbewegung in frischer Luft würde ihnen das Souper besonders gut munden.
Und nun saß Wilhelmine nach dem kleinen erfrischenden Spaziergang bald behaglich in einer Speiseecke des feinen Speisesalons ganz allein mit dem unbekannten, jungen Mann. Vor ihr auf dem Tische brannten die Lichter mit plissierten, roten Lichtschirmen, die das übermäßige Licht dämpften und einen traulichen, roten Schein verbreiteten. Scherwände an beiden Seiten machten die übrigen Besucher unsichtbar, ein Plüschvorhang, den nur der Kellner zur Seite zog, wenn er hereinschaute, machte die stille Ecke noch lauschiger. Zu ihren Füßen lagen Felldecken, an der Wand war ein Gemälde, welches eine Abundantia darstellte, wie Herr von Schwielow erklärte, eine schöne Mutter, umgeben von nackten Kindern, großen Haufen von Weintrauben, Melonen, Hummern, Schinken, bekränzten Weinfässern und Blumenkränzen, an welchen die Mutter mit den kleinen Mädchen und Knaben Blumen und Blätter einflocht.
Und nun kam der Kaviar. Und Herr von Schwielow schenkte einen ganz seinen 59 französischen Weißwein ein. Da mußte sie vor allem zuerst nun die Blume genießen, indem sie daran roch.
»Wie finden Sie diese Blume?« sagte der Kenner, indem er die Augenbrauen wie verzaubert in die Höhe zog und dann einen Schluck förmlich im Munde zerkaute.
Sie sagte: »Ach, so'ne Blume möchte man ja geradezu auf'm Hut tragen, so schön ist sie,« worauf sie, nachdem sie ihre Nase übers Glas gehalten hatte, ihrem Begleiter alles absah und auch an dem Wein kaute.
»Sie haben Verständnis,« rief er aus, indem er wieder ganz große Augen machte und ihr nun den Kaviar reichte, von dem sie sich nur ganz wenig nahm. Er aber fand dies nicht in der Ordnung, sondern legte ihr einen tüchtigen Speiselöffel davon vor und bediente sich selbst auch reichlich. Nun schielte sie von der Seite auf seine Hände, wie er sich auf geröstete Brötchen den Kaviar zurechtstrich, und machte auch das alles nach. Und dann sagte sie:
»Fürs Volk is det ja allens Kaviar, aber der Großkörnige ist ganz mein Fall. Er paßt auch sehr gut zu dieser Weinsorte!«
»Was sage ich?« entgegnete er triumphierend. »Das ist meine Kombination, Fräulein, ich glaube, wir werden öfters zusammen essen, denn Sie haben entschieden einen guten Geschmack.«
Und nun rief er den Kellner und komponierte mit diesem ein ganz besonders zusammengesuchtes, reichliches Souper, wobei er öfters seine 60 Bestellungen widerrief, um sie durch noch bessere Zusammenstellungen zu ersetzen. Dabei mußte Wilhelmine die beratende Stimme abgeben. Da sie verschiedene Gerichte noch gar nicht kannte und doch ihre Unwissenheit in feinschmeckerischen Genüssen dieser Art nicht verraten wollte, so überlegte sie mit gelehrter Miene und sagte dann Ja zu seiner Wahl, widerrief er sie, so fand sie es doch noch besser, sodaß er sehr zufrieden war mit ihrem Verständnis. Auch verschiedene passende Weinsorten kamen in seiner Bestellung vor. Und nun begann ein ziemlich wissenschaftliches, gemeinsames Speisen, wobei es ihm sichtlich den größten Genuß bereitete, ihr vorzulegen und sie nach allen Regeln der Kunst zu füttern. Nicht mit einer Silbe sprach er von Liebe und solchen Dingen, aber jede neue Zusammenstellung, die ihr mundete, bereitete ihm einen sichtlichen Triumph. Im Gespräche suchte sie herauszubekommen, was er wäre, frug ihn auch, warum er andere Buchstabeninitialen auf seiner Wäsche trüge, als sein Name vermuten ließ. Da lächelte er verbindlich, indem er mit seinem Glase an ihres anklang und sagte:
»Ach was, mein Fräulein, es ist ja viel interessanter, nicht zu wissen, wer man ist. Ich frage Sie ja auch nicht nach Ihrer Herkunft und sonstigen Tätigkeit, ob Sie in einem Geschäft oder eine Künstlerin, vielleicht Schauspielerin sind. Die Hauptsache ist, daß wir uns ausgezeichnet unterhalten. Ich für meine Person würde Sie für eine 61 Königliche Kammervirtuosin, eine berühmte Geigerin halten oder für eine Klavierspielerin – nach Ihren schönen Händen zu urteilen.«
Diese Galanterie bewirkte, daß sie nun ihre Hände heimlich betrachtete und sie dann gelassen auf ihre Serviette legte, um sie ab und zu wieder anzusehen, als seien ihre Hände gar nicht die ihren, sondern ein fremdes, bemerkenswertes Vermögensstück, das sie sich selbst und anderen gern zur Betrachtung überließ.
Bis gegen halb ein Uhr hatte das reizvolle Mahl gewährt, verschiedene teure Weinsorten waren mit Mäßigkeit, aber tiefem Genußbewußtsein durchgekostet worden, und dabei hatte Minchen erfahren, daß Herr von Schwielow ein Rheinländer war. Dies war für Wilhelmine ein Anlaß geworden, daß sie auch einiges von ihrer Männerkenntnis und Menschenkenntnis verriet, indem sie sagte:
»Ja, die Rheinländer, das sind bei uns in Berlin die lustigsten Herren. Sie können in einem fort reden und immer vergnügt. Die Westfalen sind wieder anders; sie sind mehr für den Schinken und tanzen immer auf einem Flecke, man kommt gar nicht vorwärts. Die Mecklenburger schwärmen alle für den jewissen Fritz Reuter, sie tanzen mehr geradeaus und tun, als wollten sie ihre Tänzerin umarmen. Die Ostpreußen halten wieder die Beine ganz steif, als hätten sie ihnen die Kniekehlen nach hinten verstaucht, während die Herren aus Sachsen immer mehr hüpfen, so wie die 62 Waschbären im zoologischen Garten. Aber aus jeder Provinz sind sie anders, und ein Mä'chen in Berlin muß alle diese anjeborenen Eigentümlichkeiten beachten, wenn sie vom Tanzen auch einen Genuß haben will. Was aber die Rheinländer anlangt, so tanzen sie, als wenn sie Sprungfedern in der Matratze hätten, mit denen geht's wie auf der Elektrischen!«
Herr von Schwielow hörte dieses Lob mit Genugtuung und versprach das nächste oder übernächste Mal wieder auf dem Tanzsaal zu erscheinen, um noch länger mit ihr zu tanzen, da sie ihn durch diese Anspielung für einen vortrefflichen Tänzer erklärt hatte. Dann atmete er angenehm gesättigt auf, bezahlte dem Kellner eine sehr stattliche Rechnung und frug, ob sie gestatte, daß er sie bis zur Tür ihres Hauses begleite. Er werde sie in einer Droschke bis in die nächste Nähe desselben bringen. Bald saßen sie im Wagen und fuhren davon, indem er in Gedanken die einzelnen Speisegänge vor seiner Phantasie vorbeiziehen ließ und erörterte, wie man in anderen Städten, Paris, London, Hamburg, Köln verwandte Speisen bereite. Auch ihr war das sehr interessant. – Als sie in die Nähe ihrer Straße gekommen waren, stiegen beide aus der Droschke aus. Es war ein kleiner Platz. Gerade, wo sie ausstiegen, stand, im Dunkeln schwer erkennbar, ein Mann mit einem Tragbrett vor dem Leib und frug:
»Warme Würstchen gefällig, mein Fräulein?« 63
Sie bekam einen Schreck. Warme Würstchen auf alle vorhergegangenen Genüsse schienen ihr wie eine Entweihung. Aber – die Stimme kam ihr so bekannt vor!
In diesem Augenblick drehte der Mann seine Laterne nach der Seite, sodaß er sowohl wie auch Wilhelmine beleuchtet war. Und sie erkannte den Hinkefritz, den Leiermann.
Sie fuhr ein wenig zurück und brachte nur das Wort hervor: »Ach Jotte doch!«
Der Herr von Schwielow besah sich die warmen Würstchen mit dem Wärmeapparat, den der Fritz Schaller zum Warmhalten der Würstchen bei sich führte, er betrachtete den Senfnapf, die Papierteller und die Semmeln, die dabei lagen, und meinte:
»Haben leider schon soupiert. Schade. Aber eine sehr interessante Einrichtung ist das.«
Er wollte sich Wilhelmine zuwenden, um sich zu verabschieden, diese aber war in einer sonderbaren Herzensangst, obwohl sie wußte, daß sie sich nicht das Geringste vorzuwerfen hatte, davon geeilt, um in ihre Straße hinein zu verschwinden mit einer raschen Biegung um die Ecke. Da der unbekannte Wohltäter sie nicht mehr sah, stieg er rasch in die Droschke zurück, schlug den Wagenschlag zu und fuhr davon.
Der Hinkefritz aber sah mit einem namenlosen Erstaunen diese Vorgänge. War sie's denn wirklich gewesen? War es denn wirklich die schmucke 64 Wäscherin aus der großen Anstalt, die so groß getan hatte? Die, an welche er heimlich gedacht hatte, und die sogar ihn innerlich ermutigt, daß er sich zu einem Millionär emporarbeiten wollte, ihr zuliebe?! – »Soupiert hat sie,« dachte er. »Und die wollte mir heiraten?! Wo unser eens sich nicht mal die Finger lecken kann, von wat sie allens gegessen hat? Und unser eens kann seine eigenen Würstchen nicht mal anrühren, um wat zu verdienen? Na, nu – erst recht!«
Damit griff er in verhaltenem Zorn in seine Würste, steckte eine tief in den Senftopf hinein und schob mit drei raschen Bissen die Wurst in seinen Mund, indem er seine sehr unklaren, neidvoll-unglücklichen Empfindungen tief in sich hinein zu fressen versuchte beim Scheine seiner trübe leuchtenden Laterne.