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Der polnische Joseph fuhr eben mit seinem hochbeladenen Müll- und Aschenwagen in die große Sandgrube südlich von seinem Vorort ein. Zwei starke, gutgenährte Gäule zogen munter das Gefährt auf dem Wege hinab, der in die Grube führte. Man hatte eine Sanddünenböschung hier tief abgegraben, deren Wände an den Rückseiten haushoch abfielen, während der Weg selbst von vorn nur allmählich hinableitete. Unterhalb der 301 hohen Sandwände standen die Pferde still. Der Pole klappte die Rückplanken des Wagens auf und mit einer Staubwolke rutschte die Aschenmasse mit ihrem Abfall auf den Boden, der weithin rings umher mit anderen Aschenladungen bedeckt war. Mit der Schaufel arbeitete er seine neue Ladung vollends vom Wagen herunter, worauf er den Wagen herauslenkte und unter starken Peitschenhieben auf die Pferde die Räder aus dem Stadtschutt herauszuholen suchte.
Nachdem er den Wagen beim Eingang in die Grube an einem festen Platz gesichert und den Pferden die Heusäcke vorgebunden hatte, ergriff er selbst eine Eisenharke und ging nach dem Müllplatz zurück. Er sah heute lange nicht so sauber aus wie damals, als er seinen Besuch in dem Hause des Oberlehrers gemacht hatte. Seine Stiefel waren von oben bis unten in Aschenstaub getaucht, seine Hände grau und braun vom Abfall. Ein Schornsteinfeger, in seiner feierlich schwarzen Gesellschaftskleidung, mit der er in die Esse fährt, sieht entschieden weit standesgemäßer aus, besonders, wenn er einen Zylinder trägt.
Der Joseph spuckte in die Hände, faßte seine Harke fester an und begann in dem neugebrachten Abfallhaufen eine lange Weile zu graben und zu hacken. Ringsum sah man auch sonst die Müllhaufen nach allen Richtungen zerwühlt, als hätte eine Herde Büffel darin herumgestampft.
Mit der Gabel der Harke zog der Pole ab und 302 zu irgend einen Gegenstand aus dem Aschenhaufen, der ihn näher zu interessieren schien. Alte Sardinenbüchsen und Hummerbüchsen, vertretenes, zerfetztes, altes Schuhwerk, Frauenkorsets mit zerknickten Stahlschienen, Papierschnitzel, alte Briefe, faulig riechende Eierschalen, zerschlagene Lampenzylinder und Lampenteile, Tellerscherben und Schüsselteile, alte Messer und Gabeln, verwelkte Blumensträuße, verblichene Neujahrsgratulationskarten kamen unter dem Wühlen der Harke zum Vorschein. Der Pole aber schob das alles verächtlich beiseite und fluchte nur manchmal im stillen über die Liederlichkeit der Berliner und ihrer Dienstmädchen insbesondere, die Dinge in die Müllkästen warfen, die nach seiner Ansicht absolut nicht dahin gehörten. Er war ein sehr ordentlicher Mensch und kannte nur den Ehrgeiz, durch Sparsamkeit und Ordnungsliebe es in der Welt zu etwas zu bringen. Er ärgerte sich daher leicht über jede Liederlichkeit, ja, er lebte in einem Gefühle ewiger Kränkung, wenn er tagtäglich sah, was man im Westen Berlins alles gänzlich ungehöriger Weise nach seiner Ansicht wegwarf, statt es aufzuheben, auszubessern und zu bewahren.
Eben klirrte der Spaten an irgend etwas an. Der Pole bückte sich und hob es auf. Es war eine vollständig gut erhaltene Pilsener Bierflasche mit Verschlußstück, gut zugekorkt.
Der Pole schüttelte den Kopf, erhob sie und sah noch einen Bierrest darin. 303
»Ist sich nicht eine Liederlichkeit!« sagte er ganz laut vor sich hin. »Hat Dienstmädchen oder Diener in gutem Haus weggeschmissen! Und dann fehlt im Bierverkauf. Dann nie stimmt Rechnung. Lauter Dienstbotenschwindel die Folge!«
In polnischer Sprache folgte ein schauerlicher Fluch, womit die Flasche im Bogen über den Müllplatz hinflog. Zu seinem Ärger sah der Joseph, daß die Flasche dabei nicht zerbrach, sondern wohlerhalten in einen Haufen von brauner, weicher Asche von Preßkohle fiel. Er hatte sie vollends zerschlagen wollen, um dadurch eine Berechtigung für die Flasche zu schaffen, daß sie überhaupt im Müll lag. Als sie nun wohlerhalten niederfiel, reute es ihn, daß sie unbenutzt liegen bleiben sollte. Sein Pietätsgefühl, sein Erhaltungssinn sträubte sich gegen den Gedanken, daß eine ganze Bierflasche dem Untergange und der Nichtsnutzigkeit gewidmet sein sollte.
Joseph wollte über die Aschenhaufen wegspringen, um die Flasche zu holen und nochmals zu zerhauen. In diesem Augenblick, während er schon sprang, hörte er indessen eine Stimme, die ihm laut zurief: »Halbpart, Pole! Denn ick habe ihr ooch schon jesehn!«
Der Joseph hatte schon die Flasche in der Hand, wandte sich aber herum, denn er kannte die Stimme. Das war der alte Müll-Heinrich, der eben mit seinem einspännigen Müllwagen in die Grube 304 eingefahren war und jetzt hochaufgerichtet auf dem Kutscherbock dastand mit emporgehobener Peitsche. Dabei hingen die Fetzen seines Kittels von den Ärmeln herunter und seine Hosen, an allen Ecken zerlumpt, saßen knickerig über Knieen und Füßen. Den Wagen aber zog ein Gaul, der aus dem Grabe ausgestiegen schien, nachdem er selbst dem Schinder zu nichts mehr tauglich hatte gelten mögen. Denn die Vorderbeine der Mähre waren in den Knieen so wackelig und krumm, wie die Beine eines Dachses, der Hals so mager, daß man die Luftröhre lang nach der eingefallenen Brust hinunterlaufen sah wie ein Hanfseil. Von der einstigen Mähne hingen nur noch ein paar fadenscheinige Reste über den Halsrücken herab, das ganze zerschabte Fell schien mauserig, als hätten Kolonieen von Motten es zerfressen. Der Rücken war tief eingesunken, beinahe bogenförmig eingedrückt, und wie zwei Schaufeln standen infolgedessen die Beckenknochen über diesen Rücken heraus. Das Tier machte in seiner verhungerten Magerheit vollständig den Eindruck eines vorweltlichen Ungeheuers, zumal das eine Auge halb erblindet schien vom Star. In diesem Augenblicke, da es die stattlichen Pferde des Joseph sah, begann es zu wiehern, wobei es schrie, als wenn es eine Giraffe wäre. Und dabei zitterte es am ganzen Leibe und seine zerfressenen Bauchwände bebten.
Diese Gespenstererscheinung bewirkte, daß der Joseph seine Pilsener Bierflasche nicht zerhaute, 305 sondern wartete, bis der weißköpfige alte Heinrich von seinem Bocke heruntergeklettert war.
»Na, was willst du denn mit der Flasche?« fragte er den Alten.
»Ick habe ihr gleichzeitig mit dir ooch schon jesehn!« wiederholte der Alte. »Und wat man denn so jemeinsam zuerst sieht, davon muß immer der eine dem anderen die Hälfte herausgeben. Denn det ist nun 'mal Müllräumers Recht in die janze Jegend von Balin! Und wenn noch wat drin ist, denn will ick ooch meine Hälfte!«
»Kannst ganze Flasche haben. Brauch ich nicht zu zerschmeißen,« sagte der Pole gelassen, indem er sie dem Alten reichte.
Der Müll-Heinrich klappte den Porzellankork in die Höhe, roch an der Flasche, hielt sie gegen den Himmel, um zu sehen, ob der Rest noch klar war, wischte den Rand ab mit seinem staubigen, zerfetzten Ärmel und trank dann rasch den schalen Rest hinunter. Dann hielt er die Flasche wieder gegen das Licht und meinte: »Na, et is nur 'ne Wohltat, det immer mal wat für unsereins abfallt ins jroße Balin und daß unsereins von all dem jroßen Überfluß von die reichen und armen Leute ooch wat hat.«
»Ist sich nur Liederlichkeit von Dienstboten,« sagte der Pole ingrimmig, der noch einen anderen Kummer zu haben schien, der heimlich an ihm nagte. »Ist sich nur allgemeine große Verschwendung von Herrschaften und Dienstboten. Keine Ordnung, 306 keine Sparsamkeit. Denn wer Pfennig nicht ehrt, Taler nicht wert. Ist sich schon recht!« fuhr er etwas aufgeregter fort. »Denn wenn alles so verschwenden, muß deutsche Reich zugrunde gehn! Mir ganz recht! Muß Polen wieder groß werden!«
Der Müll-Heinrich steckte die Flasche sorgfältig in seine Rocktasche, wobei er dem anderen die Hand schwer auf die Schulter legte und mit der Miene des greisen Weltkenners sprach: »Is schon jut, mein Sohn! Ick habe ooch det Meinige erlebt. Ick kann ooch mitreden. Aber det muß ich dir sagen, auf't Müll verstehst du dir noch nicht. Jotte doch, Jotte, die Jugend! Wenn man so die Jugend hört! Aber hier in det Müll, da liegt der Hund begraben! In't Müll, da liegt 'n janz andrer Standpunkt drinn. Ick habe hier schon seit dreißig Jahren die Baliner Verhältnisse durchschaut! Faul, manchmal faul! Wie die faulen Eier, die sie mir da hineinschmeißen und keener macht sich 'n Jewissen daraus, det ick denn det allens zuletzt auch riechen muß! Aber dabei lernst de, wie 't in der Welt zujeht! Denn in 't Müll schmeißen sie allens, wat se gern los werden möchten und wat kein anderer sehn soll. Na, und wenn ick denn meine Fuhre ufjeladen habe und von Westen und Charlottenburg hier heraus kutschiere, denn fahr ick auch alle Heimlichkeiten und Verbrechen und Liebesgeschichten und schlechten Angewohnheiten von so 'ne Millionenstadt hier heraus. Na, und hier wird et denn abgeladen!« 307
Er wendete sich seinem Wagen zu, stemmte das Hebeeisen unter die Wagenwand, drückte und hob die Wand, indem er sagte: »Na, nun 'mal Achtung! Jetzt rutscht de ganze Millionenstadt mit ihre Heimlichkeiten vor deine Stiebeln herunter! Immer herunter mit die großstädtische Entwickelung!«
Rauschend und stäubend fiel die Müllasche mit ihren Herrlichkeiten unter der Wagenplanke heraus. Der Müll-Heinrich kreuzte die Arme über der Brust und blickte nach Berlin hin, von dem er aber weiter nichts sah, als ganz in der Ferne einen runden Ziegelturm, der wohl mehr als zwei Stunden weit entfernt sein mochte und etwas wie eine dunkle, lange Wand am fernen Horizont, vor der bald eine kahle Ackerdüne, bald ein Eisenbahndamm, bald ein kleiner Kiefernbestand vorgelagert war. Auf ganz weite Entfernungen voneinander sah man auch wohl die Umrisse eines Kirchturmes. Aber es war gerade so gut, als ob man die Millionenstadt eigentlich gar nicht sähe, ein unbestimmtes vor sich selbst verborgenes Etwas am Horizont.
Der Müll-Heinrich aber sagte: »Na, und hier kommt der innerste Gehalt von't janze Berlin für unsereins an't Tageslicht!«
Der Pole verschränkte die Arme und sah trübsinnig in die aufgestaute neue Abfallsmasse.
»Hast gut reden!« sagte er zu dem Alten. »Möcht ich ganze Stadt zerschmeißen oder in eignen Müll 308 zuschütten, was hier für Zustände sind! Wenn so mit unsereins verfahren?«
Der Alte ahnte wohl, daß der Pole ihm etwas anvertrauen wollte, aber, um ihn noch mehr zu reizen, ließ er sich nichts merken. Statt dessen fuhr er mit der Harke im Müll herum und zog ein Blatt Papier heraus, den Rest eines Briefes. Er war augenscheinlich vom Empfänger zerrissen worden, aber nicht genügend. Zum Teil war die Tinte verwischt; an anderen Stellen aber konnte der Müll-Heinrich folgende Worte ganz gut entziffern, die er laut vorlas:
»Geliebter. Morgen Abend . . . Tiergarten . . . Nähe Hippodroms . . . gefährlich . . . ungestillte Leidenschaft . . . leider nicht anders möglich. – Heiß umarmte . . . . roline.«
»Na, wie viele von die Sorte habe ick schon jefunden. Von die vornehme Damenswelt weniger, die sind vorsichtiger, aber manchmal kommen sie doch auch aus Versehen in't Müll. Die hier is nicht von die obere Zehntausend! Und: Roline heißt sie, weil sie in der Mitte von ihren Liebhaber entzwei jerissen ist! Ne Jrausamkeit! Wat meinst de, Pole?«
Er grub weiter und brachte einen langen Strumpf zum Vorschein. Nachdenklich fuhr er mit der Hand oben in die Wade hinein, bis seine Finger unten durch ein mächtiges Fersenloch wieder herausfuhren. 309
»In meiner Jugend war det ooch anders, Pole! Da strickte jede sich ihre weißen Strümpfe janz alleen und stopfte ihnen und wusch ihnen und zog sie ooch wieder an und ick habe die jungen Mä'chens ooch uf die Strümpe geguckt, denn ick war'n schöner Kerl bei'm Militär! Und nun sieh dir mal heutzutage so'n Berliner Mä'chen an. 's Dutzend für 'ne Mark uf alle Jassen und wenn sie so'n paar Strümpe für acht Pfennig det Paar einmal anjehabt haben und se haben mit de jroße Fußzehe aus lauter Neujierde vorn ein Loch durchgefahren, denn werfen sie ihre Strümpe einfach weg und ick kriege sie denn hier im Müll. Die hier hat sehr schlanke Beenekens, nur wenig Wade. Ich habe aber auch schon Strümpfe jefunden, wo du durch die Wade ganz bequem deinen Kopp durchstecken kannst.«
Er zog den Strumpf wieder ab von der Hand und sah nach dem oberen Rande.
»Nicht 'mal 'n Telejramm drin, woran man ihren Namen erraten kann mit Hilfe von't neue Adreßbuch. Natürlich, wenn ick meinen Strumpf nach 'n ersten Loch gleich wegschmeiße, wo soll dann noch 'n Telejramm nötig sind! Ja, ja, Berlin hat sich seit fünfundzwanzig Jahren entwickelt!«
Er hielt dem Polen den Strumpf hin und sagte: »Da, Pole, hast de was für deine Braut, wenn se stoppen kann. Wenn ick den anderen Strumpf finde, is det Paar beisammen. Ick werde ihr als Hochzeitsgeschenk 'n janzes Dutzend schenken, in alle 310 Farben, einer immer jrüner als der andere rot ist! Ja, die Mä'chens, die Mä'chens!«
Der Joseph hatte bisher alles ruhig angehört, als ihm aber der Alte den Strumpf dicht vor die Nase hielt, fluchte er ingrimmig, riß ihm den Strumpf aus der Hand, warf ihn zu Boden und trat wild mit den Füßen darauf herum.
»Ist sich Gemeinheit! Ist sich Gemeinheit!« rief er einmal über das andere. »Schlag ich dir Harke gleich über Kopf! Ist Elise doch meine Braut und braves Mädchen! Hat selber ihre eigenen gestrickten Strümpfe! Schmeißt nicht weg! Und großbrodige Herrin entlassen! Und sitzt nun da, kein Dienst, und soll auch nicht, ehe wir heiraten. Und alles nur, weil lumpige paar silberne Löffel und Ring hat von mir! Ist sich eine Gemeinheit!«
Endlich war das Eis gebrochen und die Sache heraus. Jetzt gab auch der Müll-Heinrich genauer acht und ließ den Polen seine Leidensgeschichte vollends erzählen. Unter immer neuen Verwünschungen erzählte dieser, daß die Herrin seiner Braut diese – allerdings unter voller Auszahlung ihres Gehalts – plötzlich entlassen habe, daß die Elise nun eine Schlafstelle habe mieten müssen und daß er, weil er nicht wollte, daß sie wieder in Dienst trete, jetzt viel eher heiraten müsse, ehe er noch so viel gespart, um sich selbst ein Pferd kaufen zu können und sich selbst als Müllunternehmer zu etablieren. Die Elise sitze nun von früh bis abend auf ihrer Schlafstelle, richte ihre Ausstattung her 311 und flicke ihre Hemden und weine, weil sie um das Hochzeitsgeschenk gekommen sei, das sie von dem Herrn Oberlehrer wegen der vielen, schönen Blumen und von der Frau Oberlehrerin wegen allgemeinen guten Verhaltens erhofft hatten. Er schilderte in ununterbrochenem Radebrechen, was für einen schönen Lebensplan sie sich zusammen ersonnen hatten. Die Elise sollte noch ein Jahr beim Oberlehrer bleiben und noch einiges sparen und womöglich sich auch ein Hochzeitsgeschenk verdienen. Er hatte sich ausgerechnet, daß er von seinem Arbeits- und Fuhrlohn bei sparsamer Wirtschaft gerade so viel noch erzielt haben würde, um einem Kutscher sein Pferd abzukaufen. Es sei ein sehr gutes Pferd, fahre in Berlin erster Klasse Taxameter und da der Kutscher nach jener Zeit auch neue Pferde brauchte, so hatte er es ihm schon halb und halb zugesagt. Er hätte sich schon in einem neuen Stadtteil hinter Schöneberg überall die Müllabfuhrgelegenheiten angesehen, und wenn er erst das Pferd gehabt hätte, so würde er auch gleich eine hübsche Kundschaft dazu haben. Und es sollte eine großartige Hochzeit mit so einem sauberen Mädel, wie die Elise, werden, und der ganze Polenverein, zu dem er gehörte, wollte ein Ständchen bringen. Und nun sei alles ins Wasser gefallen, weil das Mißtrauen und die schlechte Laune der Frau Oberlehrerin durch die rasche Entlassung alles verdorben habe. Und alles nur um ein paar silberne Löffel! Jetzt müßten sie nun auf gut Glück heiraten und 312 es würde wohl viel länger dauern, bis er das Pferd kaufen könne. Und wenn er wüßte, wie er sich eine exemplarische Rache an der hochmütigen Frau nehmen könnte, so würde er's gleich auf der Stelle tun.
Der Müll-Heinrich hatte diese Eröffnungen mit schlauem Augenblinzeln angehört. Als der Pole geendet hatte, fragte er, indem er sich hinter den Ohren kratzte: »Det is nu allens ja recht schön und gut, Pole! Aber wie kann man ooch silberne Löffel und Ringe haben! Wo hast de se denn her, oller Aschinger?«
Der Pole sah sich den Mann ganz verwundert an. Da fuhr er mit seinem Zeigefinger nach der Stirn und sagte mit Überlegenheit, indem er auf die Stirn tippte: »Werd' ich dir sagen, Müll-Heinrich! Weißt doch!«
»Ach so? Det is ja Natur!« entgegnete nach einer Weile der Angeredete, nachdem er den Polen fixiert hatte. »Det konntest du mir aber auch gleich sagen. Ja, denn werden wir wohl eine ganz gehörige Rache nehmen müssen!«
»Rache will ich! Handelt sich um ganzes Lebensglück!«
Der Alte hatte eine Weile im Müll herumgestöbert, ehe er wieder etwas sagte. Er hatte ein paar Zigarrenstummel gesucht und auch richtig gefunden. Er putzte diese etwas an seinem Rockärmel ab, worauf er aus seiner Brusttasche eine kurze Tabakpfeife herausnahm. Mit seinem Nickfänger 313 schnitt er sich das beste Stück von seinen Stummeln heraus, schnitt sie klein und stopfte sich die Pfeife damit. Ein Streichhölzchen, das er an seiner Kehrseite anzündete, indem er sich etwas nach vorn bückte. brachte die Pfeife sehr schnell zum Rauchen. Und nachdem er die zwei ersten Züge getan hatte, sagte er mit einer schlauen Miene: »Wie wär's mit nem kleenen Einbruch aus Rache, Pole? – Feine Havannah! Großes Banquierhaus aus der Tierjartenstraße drinnen. Schon seit'n paar Jahren meine beste Quelle. Import, alles echt. Und die rauchen höchstens zwei Drittel, det andere finde ick im Müll. Man muß sich nur mit de Köchin gut stehn, denn im übrigen ist die Dienerschaft der unlautere Wettbewerb. – 'n kleener Einbruch, Pole, wird dir Genugtuung verschaffen, so viel du willst.«
Der Joseph war mit dem Ausdruck tiefer Entfremdung zurückgetreten.
»Bin ich Gauner? Meine Braut ist anständiges Mädchen! Und ich gehe jeden Sonntag in katholische Kirche! Und meine Braut geht jede Woche zu katholisches Priester, um wahre Glaube kennen zu lernen. Vielleicht tritt noch über, wenn erst verheiratet. Aber macht nix, wenn auch nicht. Hat doch wenigstens Glauben kennen gelernt. Hau ich dir Harke in Hirn, wo noch mal von Einbruch spricht's.«
Bei den letzten Worten war er wieder sehr aufgeregt. Der Müll-Heinrich aber ließ sich nicht 314 aus der Fassung bringen. Er sah den Mann noch verschmitzter an, paffte stark an seinem Havannahimport von der Tiergartenstraße und sagte:
»Man braucht doch nicht immer einzubrechen, Pole, um die Leute wat zu stehlen. Man kann doch auch mal 'nen Einbruch machen, um ihnen wat zu schenken! Hast de Verstand, Pole?«
Der Joseph sah ihn verdutzt an.
»Na, beruhige dir nur, Männeken! Hast de Bildung? Denn Bildung mußt de haben, um so wat zu verstehn. Wenn solche jroße Leute 'nen armen Müllräumer für'n faulen Kopp halten, als ob der stiehlt und solche Jeschichten macht, wie sie in die Unterhaltungsbeilagen von de großen Tagesjournale stehn, denn hat er det Recht der Selbstverteidigung. Wer mir nachsagt, det ich stehle, dem schenke ich wat! Zum Beispiel so wat!« Er stocherte mit den Füßen im Müll herum, bis er einen dunklen Gegenstand zwischen Kartoffelschalen und leeren Hummerbüchsen herausgestöbert hatte. Er hob ihn auf und hielt ihn vor den Polen hin. Es war ein alter Damenhandschuh, sehr zerledert, einige Finger oben an der Spitze aufgedröselt.
»Hast de Bildung, Pole? Wenn de gnädige Frau etwa Bedarf nach Handschuhen hat? Ick will ihr den janzen Handschuhkasten voll machen mit diesen Jebrauchsgegenstand nach der neusten Mode! Dieses Frauenzimmer, wo in diesem Handschuh gesteckt hat, muß ihren Jeliebten mit solche Leidenschaft die Hand jedrückt haben, daß ihr gleich oben die 315 Fingerspitzen durchjeplatzt sind. Denn die feinen Damen jeben jetzt auch die Hand so von oben herunter und denn schütteln sie wie'n oller Seemann. Ick habe det mehre Mal schon im Tierjarten jesehn.«
Jetzt machte auf einmal auch der Pole ein ganz. spitzbübisches Gesicht, das sehr sonderbar zu der funkelnden Rachsucht in seinen Augen stand. Auf einmal bückte auch er sich und hob aus dem Müllschutt ein verwelktes Blumenbukett mit einer zerrissenen Papiermanschette heraus. Er hob es hoch in die Höhe, schüttelte es und rief: »Hat sie meine Braut meine Blumen vor das Fuß geworfen, hat sie! Will ich ihr das Blumenstrauß dafür in ihre Vase vor ihr Bett stecken und wenn ich mit Dietrich einbrechen müßte! Soll sie Hochzeitsausstattung haben. Denkt sie, ich stehle, will ich ihr schenken! Will ich ihr ganze Berlin schenken mit all seine innerste Heimlichkeiten!«
»Denn et stehet jeschrieben: Tut wohl denen, die euch hassen!« sagte der Alte behaglich, der sich außerordentlich innerlich erlabte an der flackernden Rachsucht und Leidenschaft des Polen. Denn ihm war im Grunde diese ganze Angelegenheit sehr gleichgültig, aber er hatte, wie viele Berliner Arbeiter zu den Zeiten, da diese völlig lebenswahre Geschichte sich ereignete, eine diebische Lust, gerade einen Polen zu sticheln und in seine heftigen Leidenschaften hineinzuhetzen. Denn da er die Solidität und Philisterhaftigkeit des Fremdlings kannte, so bereitete es ihm doppeltes Vergnügen, wenn er 316 den Mann in seinen sinnlosen Zorn und seine drolligen Wutanfälle verfallen sah. Außerdem mußte sich diese Geschichte auch im übrigen hübsch entwickeln, wenn der Pole in seiner rachsüchtigen Ritterlichkeit wirklich der feinen Dame diese Angebinde in ihre Kasten und Vasen schmuggelte. Und er erklärte, daß er sogar bereit sei, die richtigen Gelegenheiten dazu auszubaldowern. Und wenn es bei Nacht sein muß, werde ick dir zuliebe sogar Schmiere stehn, edler Pole!
Der Pole schüttelte seinen verfaulten Strauß noch immer, sah sich die einzelnen Blumen an und sagte: »Feine Zentifolie, feine! Und hier ehemalige La France! Lauter Veilchen! Haben sehr gute Geruch! Riechen nach alte Eier schon auf drei Stunde!«
Auf einmal aber ließ er die Blumen sinken. Er blickte beinahe bekümmert vor sich hin und fragte ziemlich schüchtern: »Aber wie ist deutsches Gesetz? Wenn einbrech und nicht stehl, sondern schenke? Geht am Ende doch nicht!«
Der Alte klopfte seine Pfeife aus und steckte sie wieder ein. »Nur keine Sorge, lieber Mann. Wenn se dir erwischen, so is det nur 'n sogenannter jrober Unfugsparagraph, vorausgesetzt, det se überhaupt 'n Paragraphen darin finden. Denn wenn et keen richtiger Paragraph ist, denn is et überhaupt erlaubte und edle Handlungsweise.«
»Also nix Zuchthaus und Gefängnis?!«
»I, wo wird et denn! Een Tag Haft, wenn 317 der Paragraph drin steckt, und für die gnädige Frau 'ne Empfehlung in alle Blätter von Berlin. Denn wat die Zeitungen anlangt, die sind unparteiisch. Die bringen alles, ob de nun Friedmann oder bloß Kuhlicke im Adreßbuch heißt. Wie ick mal Haft hatte wegen Radau infolge von Spiritus, da wollte ick mal so'n Redaktör bestechen mit meinen rührenden Augen; aber selbst wenn ick ihm 'ne Mark jeboten hätte, er hätte nischt jenommen, um mir zu verheimlichen. Ick kam ooch in alle Blätter, aber et macht nischt in Berlin, wenn ee'n alle gelesen haben, denn verzeihn se ooch in ihrer Entrüstung über eenen allens, wat man ausjefressen hat. Aber ick sage dir ja, ein richtiger Parajraph is det nun nicht, wenn du andern schenkst aus der allgemeinen Gütergemeinschaft.«
Auf einmal wurde der Alte tiefsinnig. Er faßte den Polen am Ärmel, wies mit dem Finger auf die umliegenden Müllhaufen und sagte vertraulich:
»In Politik mische ich mir nämlich nicht jern, Pole, un wat den sozialen Staat anlangt, so sind eben Ansichten Ansichtssachen! Aber die allgemeine Gütergemeinschaft, die is nun doch mal in't Müll ooch schon einjeführt. Denn wat wir hier herausfahren, det is allens gemeinsames Eigentum von die janze Mülljerechtigkeit, und wenn der Kaiser kommt und will wat haben von hier, denn kann er et auch nehmen. Also det is nun mal hier det jemeinsame Nationalvermögen und wenn du dir 'n olles Strumpfband mit noch gute Schnallen 318 'raussuchst und aus dem alljemeinen weiblichen Nationalvermögen an die gnädige Frau von deine Braut schenkst, so is det 'ne Jalanterie wie die Jalanterie von 'n englischen Hosenbandorden, wenn de Bildung hast! Darin schützt dir der Sozialstaat und det alljemeine Rechtsbewußtsein!«
Wahrend dieser gedankenvollen Erörterung waren allmählich hinter dem Rücken der Sandböschung, unter der die Müllgrube liegt, ein paar kleine, bunte Sonnenschirme aufgetaucht. Die Schirme vermehrten sich und man konnte von unten bald eine ganze Reihe von solchen Schirmen zu zwei und zwei hintereinander hinter der Böschung herwandeln sehen, wobei sich einige wie Kreisel um ihre Achse drehten, während andere mehr durcheinander zu wogen schienen. Zuletzt tauchte über den kleinen Schirmen ein Mannskopf mit einem Hut darüber auf. Die Schirme kamen höher und höher, kleine, blonde Mädchengesichterchen kamen über dem Rand der Grube empor, allmählich stand die ganze Klasse einer höheren Töchterschule neugierig oben am Rand des Sandhanges. Würdevoll inmitten seiner Schülerinnen stand Herr Alfred Stern da und versammelte die netten Bürgerstöchterchen um sich. Alle waren hübsch und sauber geputzt, denn es war gemeinsamer Frühlings- oder vielmehr Frühsommerausflug. Zur Bereicherung der geologischen und geographischen Begriffe seiner holdseligen, kleinen Berlinerinnen hatte der Herr Doktor diesmal seine Schar, statt in den 319 Grunewald oder an die Havelseen, ins südliche Flachland geführt. Als sie nun alle oben versammelt waren, begann er:
»Also von hier aus, meine kleinen Fräuleins, wo man eigentlich gar nichts sieht, könnt ihr ganz ganz genau sehen, daß wir eigentlich am Fuße eines mächtigen Gebirgslandes uns befinden. Und was von den Gletschern abgerutscht ist, das hat diese weiten Landlehnen geschaffen und die wallförmigen Landringe, über welche dann später durch Seenbildungen noch Sanddünen angeschwemmt worden sind. Und auf einer solchen Gletscherdüne stehen wir soeben alle miteinander.«
Die Schülerinnen sahen sich verwundert um. Im Grunde sahen sie nichts, als eine langsame, weithin gedehnte Hebung der Ebene, aber wenn sie dem beschreibenden Finger des Oberlehrers folgten und an die Spaziergänge dachten, die sie auch schon hinter Lichterfelde mit ihm gemacht hatten, sahen sie, daß der Sandrücken eine ganz bestimmte Form hatte und die kahle Ebene eigentümliche Ringwälle bildete.
»Aber wo sind denn jetzt die Gletscher?« fragte die kleine Franziska.
»Die sind in Schweden und haben von der Ostsee bis hier herüber gereicht!« rief hinten aus der Mädchenschar ein kleines Ding mit sehr hellen Augen.
»Ich hab' es auch gewußt!« rief eine andere, indem sie die Hand emporhob. »Denn wir Mädchen 320 wissen heutzutage alles, weil wir zur Frauenbewegung gehören!«
Der Oberlehrer lächelte.
»Das sollt ihr auch. Denn ein Mädchen, das nichts weiß und nichts gelernt hat, das langweilt sich. Was wäre denn eine Berlinerin, die nichts von den schwedischen Gletschern weiß? Sie müßte doch ganz trostlos werden, wenn sie hier diese kahlen Flächen von Lehm und Sand und verhungerten Kiefern für ihre natürliche Umgebung halten müßte. Aber wir, Kätchen, wir befinden uns soeben auf einer Gletscherpartie in einer ganz großartigen Umgebung, und wenn wir von der Sanddüne hinuntergehen, so wissen wir, daß wir über altes Gletschergeröll der fernen schwedischen Alpen herabsteigen. Und dort drüben der Teltower See ist ein richtiger, alter Gebirgssee und der Schwielowsee hat sogar noch den Bergring seiner alten Moräne um sich und sieht genau so aus wie ein Alpensee, wenn man ihn richtig betrachtet.«
»Ach, wie schön ist das!« rief die kleine Franziska, indem sie auf beiden Füßchen in die Höhe hüpfte und sich an den Arm ihres Lehrers einhing. »Mir ist es auch gerade, als wäre ich in den Alpen! Ach, es ist so romantisch!«
Das Wort »romantisch« gefiel auch den anderen kleinen Dingern und einige sagten im Chore: »Ach ja, wie romantisch!« Die kleine Auguste aber sagte gelassen: »Berlin ist überhaupt die romantischste Stadt der Welt!« 321
Dabei schweiften ihre Augen über den Müllplatz hin, auf dem soeben der Müll-Heinrich einen alten Schminktopf, in dem noch Schminke klebte, aufwühlte. Er reichte ihn dem Polen und sagte: »Hier, ein feinet Anjebinde für deine Gnädige. Wenn sie an Bleichsucht leidet, kann se sich mit demselben wat auflegen. Denn entweder ist der Topf von einer Primadonna oder von 'ne janz feine Dame von die höchste Aristokratie! Ick schenke dir diese Verschönerung.«
Der Joseph griff gierig nach dem alten Schminktopf und wollte ihn eben in seine Tasche stecken, als er oben auf einmal den Oberlehrer erkannte. Unwillkürlich, während er den Schminktopf in der linken Hand hielt, griff er an seine Mütze, nahm sie grüßend ab und verneigte sich.
Der Oberlehrer, da er selbst diesem Manne gegenüber ein reines Gewissen hatte, winkte ihm jovial zu und rief von der Böschung herunter: »Na, Joseph, was machen Sie denn da unten? Wie geht die Arbeit?! Freut mich, Sie zu sehen!«
»Danke, Herr, geht gut. Mach ich hier gar nichts weiter . . .«
Er stockte etwas verlegen. Der Müll-Heinrich kam ihm zu Hilfe. »Er sucht nämlich hier Veilchen und Verjißmeinnicht für 'ne anjebetete Schönheit.«
»Ach, Veilchen und Vergißmeinnicht!« rief laut eines von den höhern Töchterchen. »Die müssen 322 wir auch pflücken! Gretchen, da unten wachsen Veilchen!«
Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich der Mädchenschar. Sie liefen wie eine Ameisenherde durcheinander, umringten mit bittenden Handbewegungen den Oberlehrer und fragten, ob sie hinunterlaufen dürften in die Grube, um Veilchen und Vergißmeinnicht zu suchen.
»Aber Kinder, das ist ja unmöglich!« rief der Oberlehrer. »Wie sollen denn Veilchen unten in dem Schutt wachsen können!«
Es half aber nichts, denn eine große Schar lief schon längs der Sandgrube nach abwärts, um den Eingang der Grube zu suchen.
Der Oberlehrer mußte notgedrungen hinunter folgen und, unten angelangt, belehrte er die Vorwitzigsten, die schon enttäuscht zurückkamen: »Der Mann hat ja nur einen Spaß gemacht. Er meint ja nicht wirkliche Vergißmeinnicht. Sondern er drückt sich nur bildlich aus. Mit Vergißmeinnicht will er sagen, daß man hier im Müll sehr vieles findet, was Erinnerungen an Berlin erweckt!« Er wandte sich an den Joseph und setzte hinzu: »Es freut mich wirklich aufrichtig, Sie zu sehen. Wie geht es denn Ihrer Elise?«
Diese Frage hielt der Pole für den ausgesprochensten Hohn nach all den Empfindungen, die soeben sein Herz bewegt hatten. Er sagte, indem er den Schminktopf mit einer höhnischen Miene in seine Rocktasche gleiten ließ: »Recht gut, sehr 323 gut geht meine Braut. Und wie befinden gnädige Frau Oberlehrer?!«
Bevor der Oberlehrer seine Antwort darauf gab, konnte es der alte Müll-Heinrich nicht lassen, mit einer sehr spitzbübischen Miene aus dem Müllhaufen zu seinen Füßen eine alte Zahnbürste herauszubuddeln, die er dem Polen mit den Worten reichte: »Hier, Pole, wenn eene zuviel Haare auf die Zähne hat, so soll det ooch jut sein zum Herunterbürsten. Ick schenke sie dir zu det Bewußte!«
»Meine Frau ist leider nicht so ganz wohl!« sagte der Oberlehrer etwas kleinlaut. Er konnte ja nicht gestehen, daß Laura von der größten Launenhaftigkeit und Verstimmtheit war und ihm das Leben auf alle erdenkliche Weise sauer machte, seit er in ihren Augen kein Zeug mehr hatte zum großen Redner oder berühmten Mann. Er suchte sich über diese Umstände hinwegzutäuschen mit der Annahme, Laura sei leidend und nervös. Er hatte sie daher mit großer Nachsicht behandelt und duldete mit schonendsten Mienen und Reden jede Anzüglichkeit und schlechte Laune, war aber doch sehr froh, wenn er der schwülen Atmosphäre seines Hauses entronnen war und unbefangen mit seinen Schülerinnen seinem Lieblingsberufe leben konnte. »Leider ist meine Frau nicht ganz wohl!« wiederholte er noch einmal gedrückt.
»Na, dann wünsch ich gutes Besserung!« sagte der Pole, indem er die alte, ausgescheuerte Zahnbürste in seine Westentasche schob. 324
»Pfui! Die abscheuliche, alte Zahnbürste!« rief jetzt auf einmal die kleine Franziska. »Überhaupt ist es hier gar nicht hübsch!«
»Da habt ihr freilich recht, Kinder,« sagte der Oberlehrer. »Aber man soll doch keinen Gegenstand verachten, selbst wenn er im Müll liegt. Denn man weiß nie, wozu er noch gut sein kann. Selbst so eine alte, häßliche Zahnbürste, mein liebes Fränzchen, die schon weggeworfen worden ist, kann noch ihren Zweck in der Welt erfüllen. Und nächstens werden wir sicher einen Aufsatz schreiben entweder über die Wanderung einer Zahnbürste im Müll oder über die Geschichte eines verlorenen Manschettenknopfes, der in die Aschengrube geriet. Daran werden wir lernen, wie eine gute Hausfrau und ein tüchtiges Mädchen auch in den unscheinbarsten Gegenständen noch Poesie und einen Sinn finden kann.«
Dieser Vorschlag des Frauenpädagogen fand stürmischen Beifall unter seinen Schülerinnen. Sie sprangen und hüpften vor Freude. Der Müll-Heinrich warf dem Polen einen äußerst pfiffigen Blick zu.
»Wat hab ick dir jesagt, Pole?! Wat hab ick dir jesagt? In't Müll, da liegt der Hund bejraben! Und jetzt schreiben se ooch schon in die höhere Töchterschulen darüber. Denn et heißt ja jetzt in alle Blätter von Berlin nur die Frauenemanzipation! Und die finde ick ooch schon im Müll, denn vorjestern fand ick eene janz zerrissene 325 Radfahrerinnenhose in't Müll. Sie war im Kreuz jeplatzt, weil sie wahrscheinlich von 't Rad in Straßengraben jekugelt war.«
Diese letzteren Worte vernahm der Oberlehrer mit seiner Mädchenklasse nicht mehr. Sie wanderten schon in Reih und Glied mit sittsam aufgespannten Schirmchen über die Grasebene zwischen den Ginsterbüschen hin und Doktor Alfred Stern sagte lächelnd:
»Kommt, Kinder, jetzt wollen wir unsere schwedische Gletscherpartie wieder aufnehmen.«