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In dem Universitätsgebäude am Denkmal des »Alten Fritz« Unter den Linden drängten sich auf den Korridoren Tausende von Studenten so dicht hintereinander, daß die einzelnen nur mit Mühe und langsam in ihre Hörsäle gelangen konnten. Es war Pause nach einer Vortragsstunde, aus allen Türen quollen enggedrängt die Geistesbeflissenen heraus, durchs ganze Haus schien eine Völkerwanderung unter schweren Stauungen sich zu vollziehen. Waren doch einige Tausende in dem alten Palaste angesammelt, um ihre Kollegien zu wechseln. 112
August Mochow, der vielseitige Studiosus, schob sich langsam mit durch das Gewühl. Mit ihm drängte sich ein jüngerer Studiosus, den der ältere zu einem Stadtbummel eingeladen hatte, um von der vielseitigen Gelehrsamkeit dieses großen Palastes sich zu erholen.
August Mochow liebte eine Besonderheit von städtischer Unterhaltung, die er den schönsten Ausflügen in der freien Natur, in den Harz, ja, in die Alpen und in die Schweiz vorzuziehen behauptete. Er nannte dies die »Kellerschau« und hatte seinen jüngeren Kumpan Dietrich Klee eingeladen, auch einmal mit ihm auf die Kellerschau zu gehen. Denn in der Reichshauptstadt sind in den meisten älteren Stadtteilen Kellerwohnungen und Kellergeschäfte, in die man auf Stufen von der Straße hinabsteigt; in vielen Fällen vermag man von oben in die Stuben oder durch die Türen hinunter zu sehen. August Mochow liebte es, langsam in verschiedenen Stadtteilen spazieren zu gehen, und besonders des Abends, wenn unten in den Wohnungen und Läden Licht war, unter allerhand Vorwänden, soweit man nicht die Vorhänge zugezogen hatte, in die Werkstätten, Stuben und Läden hinunter zu schauen. Er behauptete, das sei ebenso behaglich wie unterhaltend und lehrreich. Denn, indem man alle Dinge von oben sähe, erhielte Berlin und damit die ganze Welt ein anderes Aussehen. Man tue nicht nur ganz lehrreiche Blicke in das Leben so vieler kleinbürgerlicher Klassen, sondern sammle 113 auch ästhetischen Genuß. Dieser ästhetische Genuß gipfle aber in den unzähligen Plättstuben, die man bald zu ebener Erde, bald im Kellergeschoß auf allen Gassen finde. Denn da unten sehe man die hübschesten und saubersten Mädchen von Berlin in weißen Häubchen und spitzenbesetzten Schürzen das Bügeleisen führen, im Sommer oder in sehr warmen Stuben mit bloßen Armen, weiß wie die Arme der Nausikaa in Homers Odyssee. Und zwar gäbe der Blick von oben auf diese Arme und die wohlgewachsenen Gestalten der Jungfrauen einen besonders plastischen Anblick, der die Anmut der Schönheitsschau mit einer gewissen Gedrungenheit verbinde, welche das Gefühl der Gesundheit nähre. Und der Student fand zum Preise dieses Anblickes die erhabensten Vergleiche aus Gottes Natur.
Er meinte, dieser Anblick sei viel erfrischender als ein Aufstieg ins Gletschereis, denn da unten sei es ebenso weiß und schneerein; die Plätterinnen seien aber dazu noch die weißen Gletscherseen, und ihre rosigen Wangen seien viel zarter als die Morgenröte vor Sonnenaufgang im Hochgebirge. Eben deshalb sei er ein großer Feind der immer mehr überhand nehmenden großen Dampfwasch- und Plättanstalten, weil sie die Schönheiten Berlins in großen Fabrikräumen konzentrierten, in die kein Mensch hineinsehen und ohne besondere Erlaubnis hinein kommen könne, während die alten Plättstuben unendliche Augenwonnen verbreiteten.
Die beiden Kumpane waren schon in die nächste 114 Straße hineinspaziert, wo ihnen solche Genüsse winkten. Dietrich Klee folgte den Beobachtungen seines Führers mit entschiedenem Gefallen. Er hatte von diesem schon verschiedene nützliche Ratschläge empfangen, besonders in Bezug auf billige Lebensweise, wenn der elterliche Wechsel nur knapp und schmal wäre und das Geld nicht mehr reiche. Er war eingeweiht worden in die Tatsache, daß in allen Kutscherstuben und den kleinen Bierstuben, die an Stelle der alten Stehseidelstuben getreten seien, wohlwollende Männer, Rentner und emporgekommene Spekulations-Hausbesitzer, Fleischermeister und Bäckermeister verkehrten, die ohne Gegenforderungen, wenn man sie nur gut zu unterhalten wisse, Studenten und junge Techniker der Hochschulen, sowie andere geistig freisinnige Freunde der Wissenschaft freihielten in Bier, Schnaps, Zigarren und auch allerhand Essen. Er hatte durch Mochow einen Droschkenbesitzer kennen gelernt, der in einem solchen Bierlokal verkehrte. Der Mann war noch nicht einmal sehr alt, hatte noch nicht Fünfzig erreicht und kannte keine größere Leidenschaft, als richtige Studenten unter den Tisch zu trinken. Er hatte es ja, er konnte etwas darauf gehen lassen. Mochow war sehr bereit dazu, sich unter den Tisch trinken zu lassen, und hatte auch seinen Schützling mit dem Manne bekannt gemacht. Gegen Bezahlung der Zeche von seiten des Herrn Droschkenbesitzers, wobei auch für Essen gesorgt sein müsse, erklärte man sich zum Wetttrinken 115 bereit. Der Herr Droschkenbesitzer aber nahm einen sehr starken Anlauf, trank wohl zwanzig Glas Bier, während Mochow seinem Schützling die weise Maßregel gab, von Zeit zu Zeit einmal eine halbe Stunde zu pausieren, und lieber heftige Debatten hervorzurufen. Auf diese Weise trank der Droschkenbesitzer sich selbst unter den Tisch, bezahlte die ganze Zeche, und es bestand dann nur noch das Abkommen, daß die Studenten ihn auf die Straße hinausführen und mit dem Gesicht ihn in der Richtung aufstellen mußten, in der seine Wohnung war. Dann setzte sich der Herr Droschkenbesitzer schwankend in Bewegung und zählte fünfzehn Fenster zu seiner Linken an den Häusern ab. Wenn er bis fünfzehn gezählt hatte, so fand er seine Haustür. Aus dieser Liebhaberei hatte sich ein regelmäßiger Kneipverkehr entwickelt, der immer in gleicher Weise verlief, wobei die Studenten gut sparten. Da Mochow auch seine sonstigen Beziehungen verwandter Art, wie den Verkehr mit den Leierkastenverleihern, aufrecht erhielt, so lebte er manchmal ohne alles Geld, und da er über alles reden konnte, so galt er bei seinen Beschützern als ein junger Mann, der sicher einer großen Zukunft entgegenging. Da Freund Dietrich auch auf diese Weise ein genußreiches Studentenleben zu führen angefangen hatte, so folgte er nun auch bei der Kellerschau vertrauensvoll den ästhetischen Winken seines gewiegten Kommilitonen.
Sie standen auf der Straße und sahen von 116 oben in eine erleuchtete Schusterwerkstatt hinab. Der Meister saß auf seinem Schemel beim Fenster, handhabte Pfriem und Ahle und zog die Leder über den Leisten. Zwei Lehrjungen saßen bei ihm und klopften und hämmerten an Stiefeln herum. Heimlich machten sie aber hinter dem Rücken des Meisters, wenn dieser auf seine Arbeit sah, lange Nasen und steckten die Zungen heraus. Der Meister erhob sich und ging hinten aus dem Zimmer. Die Tür schloß sich. Im selben Augenblick sprangen die Jungen auf, und dann sah man nur noch vier Beine durcheinander geworfen und gen Himmel klaffende Fußsohlen in Pantoffeln; man sah einen Menschenrücken sich steil emporbäumen und vier Fäuste durcheinander regnen wie Bälle, die man sich zuwirft. Kurz und präzis fiel dieser Vorgang aus. Plötzlich stutzte einer der Köpfe empor. Darauf ein kurzes Emporschnellen, eine Umkehr der Fußsohlen, sodaß sie auf der Diele standen, mit doppeltem Satz auf die Schemel. Und dann harmloses Hämmern auf Stiefeln. Der Meister trat ein und setzte sich ahnungslos wieder an seine Arbeit.
»Du siehst, Dietrich,« sagte August Mochow, der mit pietätvoller Aufmerksamkeit diese Bilder sich entwickeln sah, »daß die Obensicht in das Kellergeschoß alle menschlichen Dinge von einer ganz anderen Seite zeigt. Es ist das die sogenannte Vogelperspektive, bei der man den Menschen von oben auf den Kopf schaut, um bei senkrechter Stellung unter diesem Kopf nur ein Paar Achseln 117 quer hinausliegen zu sehen, unter diesen aber nichts, als noch ein Paar Stiefel, in denen die Füße stecken. Hier hatten wir mehr Schrägsicht, aber sie erlaubte doch eine viel phantasievollere Einsicht in das, was eben vorging, als jede andere Ansicht. Die Sache war mehr in sich konzentriert.«
Sie gingen weiter. Bei einer anderen Kellerstube sahen sie die Vorhänge noch offen und freuten sich über die Blumen, die auf dem Fensterbrett aufgereiht waren. Sie sahen in eine Portierstube hinein, wo die ganze Familie beim Kaffee saß, von der Lampe beleuchtet, die auf dem Tisch stand. Mutter schälte Kartoffeln, Vater las in der Zeitung, eine Tochter nähte, eine andere stopfte Strümpfe und eine dritte rührte einen Teig mit Mohnpielen ein, wie es schien.
»Auch dieses Idyll ist konzentriertes Leben, wenn man es in Obensicht ansieht,« meinte Dietrich Klee. »Es ist ein Bild, wie es in abertausend Häusern wiederkehrt, es ist immer traulich und doch auch immer wieder anders arrangiert. Manchmal machen die Kinder auch Schularbeiten und die Mutter flickt ihnen die Hosen, aber immer ist es ein Blick in die Tiefen des Lebens. Wie weit freilich die selben moralischen und soziologischen Auffassungen innerhalb eines solchen ähnlichen Bildes herrschen, ist eine andere Frage.«
Während sie an einem kleinen Sargmagazin vorüber kamen, in dem man schwarze und versilberte Kindersärge versammelt sah, und darauf 118 ihren Blick hinuntergleiten ließen in ein kellerlochartiges Gelaß, in dem beim trüben Scheine funzelnden Petroleumlichtes Ballen von allerhand Lumpen aufgestapelt lagen, zwischen denen der nicht minder zerlumpte Händler herumzukriechen schien, begann August Mochow dem Genossen seine soziologischen Beobachtungen klar zu machen.
»Das ist sicher,« sagte er, »daß hier in den Tiefen wie auch in den Höhen der obersten Geschosse unter den Dächern ganz verschiedene Auffassungen von Gut und Böse, von Sittlichkeit und von Liebe, von Treu und Glauben herrschen, als sie zum Beispiel im ersten, zweiten und dritten Stockwerk bekannt werden. Alle haben die zehn Gebote und die christlichen Wahrheiten auswendig gelernt, aber im einzelnen schattiert sich das sittliche Bewußtsein doch ganz anders. Während dem bürgerlichen Manne die Unbescholtenheit der jungen Dame über alles geht, spricht man in weiten Kreisen unterirdischer und himmelnaher Bewohner von diesem Punkte nicht gern, sondern überläßt es dem Ermessen der einzelnen, wie sie sich in dieser Hinsicht behaupten. Aber auch die ganze Empfindungsweise ist eine andere. Wenn kleine Kinder sterben, was im ersten und zweiten Stock trostlos macht, ist es hier unten und vielfach auch ganz oben eine erleichternde und zwar ernste, unabweisbare Sache, die man einfach in sich zu Recht bestehen läßt. Stehlen gilt zwar allgemein als Verletzung eines bekannten Verbots, aber wenn man unvermerkt 119 im Keller, ohne Verdacht zu erregen, kleinere Bestandteile vom Besitz der Reichen in mittleren Stockwerken, als Kohlen, Kartoffeln, eingemachte Gurken und dergleichen mitzunutzen und mitzugenießen versteht, so erwartet man, daß von oben im Interesse des allgemeinen Vertrauens auch ein Auge zugedrückt wird, wenn die Anzahl der Gurkentöpfe nicht mehr stimmt; man erwartet, daß das vor allem nicht mit dem harten Worte Diebstahl bezeichnet wird, weil das die Gemütlichkeit des häuslichen Zusammenseins stören würde. So ergeben sich auch sonst ganz verschiedene soziologische Gesichtskreise und eine besondere Volksethik je nach den Räumen, die der Mensch in so einer Millionenstadt bewohnt. Ein Leiermann hat eine ganz andere Moral mit ihren Schattierungen, als ein Plättermädchen; ich habe das selbst kennen zu lernen Gelegenheit gehabt. Gemeinsam ist fast allen diesen Menschen unten, oben und in der Mitte nur das Interesse an elektrischen Bahnen, Hochbahnen und Stromleitungen mit ihren Zwischenfällen, nebst einer fabelhaften Offenheit über alle intimsten und vertraulichsten Lebensbeziehungen zwischen Freunden, Liebenden, Verwandten, Eheleuten. In dieser Stadt ist das allgemeine Vertrauen so groß, daß man die vertraulichsten Dinge sofort jedermann erzählt und es am anderen Tage regelmäßig auch wieder vergessen hat, daß man sich selbst sozusagen moralisch ohne weiteres vollständig dekollettiert hat. Aber siehe da, welch bezauberndes Bild!« 120
Überrascht blieben die Studenten vor einer Reihe erleuchteter Fenster stehen, durch die man in saubere Stuben hineinsah. Auf Tischen und Wandgestellen sah man große Ansammlungen von steifen Hemdenkragen und Manschetten: Frauenhemden mit zierlichen Spitzeneinsätzen, ärmellos, Häubchen, weiße Spitzenhosen, wiederum steife Vorleger für Herren und andere reinliche Sachen waren stoßweise aufgelegt. Weiter vorn in der ersten Stube lag in einzelnen Körben und Haufen die frische, noch ungesteifte Wäsche, an den Plätttischen aber standen die sauberen, hübschen Mädchen mit bloßen Armen, selbst angetan mit schönen, weißen Latzschürzen. Sie machten am Munde die Fingerspitze naß und prüften die Hitze des Bügeleisens, sie fuhren mit dem heißen Stahlschuh über die frischen Wäschestücke weg, gingen den Falten und Falbeln nach und schienen den Spitzeneinsätzen phantasievolle Linien mit der Spitze ihrer Eisenschuhe einzuzeichnen. Mochow sah mit wachsender Zuneigung und ästhetischem Wohlgeschmack, wie dabei die Arme der plättenden Mädchen leise Schwellungen unter der rosigen, weißen Haut zeigten, wie um den Ellenbogen kleine Grübchen in den Armen sich vertieften und wieder verengten, wie die Hände in den Handgelenken sich weich umlegten und zierliche, weiche Hautfalten wie kleine Bachwellen bildeten. Von den drei Mädchen war eine kleiner gewachsen und hatte schwarze Haare, einen dicken Lockenkopf, die beiden anderen waren Blondinen. Die größere 121 von beiden trug die blonden Haare etwas über die Stirn hereingewellt; sie sah fast aus wie eine Künstlerin. Ihre Formen waren schlanker, der Arm nicht so voll wie bei der Kleinen, dafür aber auch sehr wohlgebildet. Ein Weilchen sahen die Studenten zu, wie unten die Arme harmonisch hin und her gingen. August Mochow bemerkte:
»Siehst du, Dietrich, das ist die notwendige Ergänzung zum Studium der Antike. Bei meinem archäologischen Studium im Museum und an den Pergamonskulpturen vermisse ich regelmäßig an den altgriechischen Werken die Arme, sogar die berühmte Venus von Milo ist ohne Arme. Es ist äußerst störend. Man kommt nie zum Begriff der ganzen Antike, weil das Wesentliche am Weibe, die Arme, fast immer fehlen, oder falsch und schlecht ergänzt sind. An diesen Berliner Plättermädchen ist nun das Bemerkenswerte und Echte, daß ihre Arme niemals ergänzt sind. Sie haben den Vorzug, daß die Tätigkeit des Plättens ihre Muskeln regelmäßig und doch nie zu stark ausbildet; daher haben fast alle wirklich schöne Arme, an denen man das Schönheitsgefühl und den Begriff von antiker Schönheit ergänzen kann. Es ist klar, daß auch diejenigen Töchter in Deutschland, welche zu Hause noch der Sitte frönen, daß sie gut plätten lernen, die schönsten Arme bekommen; es ist weit besser als rudern, welches die Schönheit verdirbt durch zu starke Muskelbildung. Sollte ich einmal heiraten, so nehme ich jedenfalls eine 122 Professorentochter, die auch plätten kann. Die Große da unten muß ich übrigens kennen, entweder habe ich irgendwo schon einmal mit ihr getanzt oder sie ist mir sonst wo vorgekommen! Ich bin dafür, daß wir versuchen, die nähere Bekanntschaft dieser drei Grazien zu machen.«
Dietrich Klee, der noch wenig erfahren war im Verkehr mit Mädchen überhaupt und Berliner Mädchen insbesondere, frug beklommen, wieso es möglich wäre, die Bekanntschaft mit den unterirdischen Grazien zu machen.
»Ach was! Das ist ganz einfach!« erklärte der Ältere entschlossen. »Man geht einfach zu ihnen hinunter. Ich werde sie bitten, mir meinen Hemdkragen frisch aufzuplätten. Das ist immer eine Einleitung. Das andere gibt sich.«
»Aber geht denn das?« frug Studiosus Klee. »Ist denn das erlaubt?« Der andere schritt gelassen zur Tür, wo er die Kellertreppe hinabging. Der Jüngere traute sich nicht zu folgen, sondern wollte lieber abwarten, wie unten die Sache sich entwickeln werde. August Mochow aber stieg vertrauensvoll hinunter.
Er kam unten in die Plättstube, rückte seinen Hut und sagte: »Guten Abend, schöne Fräuleins! Guten Abend! Mit Ihrer Erlaubnis!« Die drei Fräuleins schauten von ihrer Arbeit auf, eine ließ das Plätteisen zu lange auf einem Hemde stehen, sodaß Gefahr entstand, daß ein Fleck hinein gebrannt wurde. Stumm sah man den ungewohnten 123 Besuch an; als die zweite Blondine bemerkte, daß es höchste Zeit war, ihr Bügeleisen wieder zu bewegen, sprach sie im Namen aller das rasche Fragewort: »Nanu?«
»Ich bin Student, meine Damen, und wollte Sie bitten, ob Sie mir nicht in der Eile meinen Kragen neu aufplätten könnten! Ich soll nämlich nachher in einem Tanzlokal sein, und erst nach Hause fahren, um mir einen frischen Kragen zu holen, das wäre zu weit, ich würde da etwas versäumen, eine sehr hübsche Tänzerin, die mich erwartet. Und da habe ich mir gedacht, ob Sie nicht etwa –?!«
»Student ist er?« frug die kleine Schwarze. »Na, drum auch!«
»Auf so'ne Idee kann nur 'n Student kommen!« sagte die mittlere Blonde und lachte die Kleine an, die nun wieder lachte, wobei sie aber gelassen in ihrer Arbeit fortfuhr. Die Große aber frug:
»Was studieren Sie denn, Herr?«
»Ach, sehr vieles, Fräulein! Sprachwissenschaften und Archäologie –«
»Ach so,« sagte die Große, »da sind Sie mehr Philologiker! Ja, die Philologiker kenne ich auch gut. Sie tanzen zwar nicht so schön, wie die Juristen, aber sie haben so viel zu erzählen, was bildend ist. Die Juristen tun oft so fein, ist aber nicht viel dahinter. Die Theologen, die sind zu wild, aber die Philologiker, besonders, wenn sie Philosophie im Nebenfach haben und sich mit der 124 Soziologie abgeben, die sind die gemütlichsten. Na, Sie sind wohl auch so'n Gemütlicher?«
»Wenn Sie mir näher kennen würden, mein Fräulein, denn würden Sie bald erfahren, daß Sie richtig geraten haben. Vor allem habe ich 'ne gewisse Vorliebe fürs Volk! Und dann wissen Sie: alle schöne Mä'chens! Wissen Sie, wie ich vorhin hier herankam, und Sie alle drei hier unten stehen sah, so sauber und so appetitlich, eine immer hübscher als die andere, da dachte ich: Wenn du mal 'nen frischen Kragen brauchst, hier gehst du rin, hier und nirgend anders!«
Jetzt sahen sich die Frauenzimmerchen verständnisinnig an und taten mit ihren Augen furchtbar schlau.
»Ja, da is er nun einmal,« sagte die kleine Blonde lakonisch.
Jetzt hatte die Größere, die wie eine Künstlerin aussah, sämtliche Umstände überlegt und sagte:
»Na, nehmen Sie mal 'n Augenblick Platz, Herr Student. Wir wollen Sie in Ihrem Jlück nicht behindern, wenn Sie denn noch so schnell zu Tanze müssen. Wir tanzen auch gern. Aber Wäscherei sind wir nicht, wir sind nur feinet Plättjeschäft. Aber das wissen Sie als Philologiker natürlich nicht, daß ein Kragen gewaschen und dann gestärkt werden muß und dann erst plätten! Na, aber vielleicht können wir es auch fertig machen. Mit Naßmachen jeht ja auch, denn nehmen Sie mal gefälligst Ihren Kragen ab.« 125
Triumphierend schaute Mochow hinaus nach der Kellertüre, wo er seinen Freund vermutete, obwohl er ihn nicht sah. Er knöpfte seinen Kragen vom Halse und reichte ihn dem schlanken, netten Fräulein. Unterdessen aber hielt es die kleine Schwarze, da sie oben jemanden glaubte vor den Fenstern spazieren zu sehen, für richtig, an die Fenster zu schreiten und die weißen Leinenvorhänge zuzuziehen. Sie sagte: »Es braucht auch nicht jeder meine Wäsche zu inspizieren und zu zählen, wieviel Kragen ich am Tage gemacht habe.« Diese Empfindung schienen auch die anderen Mädchen zu teilen, denn mit gehaltener Miene ging nun auch die größere ans Fenster und zog die andere Gardine zu. Und jetzt hatten die drei Mädchen und Mochow das Gefühl, daß es nun erst unterhaltsam und traulich in der Plättstube war. Die Besitzerin, eine schon ältere Frau, war krank und lag auf der anderen Seite des Kellergeschosses in ihrem Bette, sie konnte nicht stören. Die Bügeleisen versprachen noch einmal so gut hin und her zu gehen, da nun niemand von der Straße mehr sehen konnte, daß man zur Abwechselung auch einmal Studentenbesuch hatte.
Als Dietrich Klee oben auf der Straße sah, wie die Vorhänge zusammengingen und für ihn nun der Einblick in die weißleuchtende Welt verschwunden war, fühlte er sich auf der Straße vereinsamt und, da ihn ein Gefühl der Schüchternheit erfaßte darüber, daß der andere da unten sich 126 augenscheinlich gut angefreundet hatte, während er keinen Mut gefunden, nachzusteigen, hielt er es für diskreter, den Freund allein in der Gesellschaft der drei Grazien zu lassen und mit einer fluchtartigen Bewegung um die nächste Straßenecke herum sich allen Abenteuern zu entziehen, die möglicherweise aus einer Herablockung seiner Person in dies unterirdische Paradies hätten entstehen können. Er dachte sich, daß er im nächsten Kolleg ja doch das Nähere erfahren würde. Da seine Barschaft dürftig war, fürchtete er, es könnten ihm Kosten erwachsen aus einer näheren Bekanntschaft mit den schönen Schürzenträgerinnen. Er hielt es für weiser, den Rückzug anzutreten.
Mochow aber vergaß in der Gesellschaft der drei Jungfräulein seinen Genossen vollständig. Während die Älteste seinen Kragen vornahm und durch einige kleine Kunstgriffe, wie Besprengen, wieder plättfähig zu machen suchte, weidete er sich nun in nächster Nähe an den schönen Armen der Anmutigen und sagte allen dreien in der Reihe herum große Artigkeiten über diese körperliche Eigenschaft. Dann begann er zu philosophieren darüber, was für ein angenehmer Beruf es denn doch sei, eine Plätterin zu sein. Denn alle Menschen seien beglückt, wenn ihre Werke erst vor ihnen lägen; ein frischgeplättetes Hemd anzuziehen, sei für jeden Menschen, Mann und Weib, zweifellos ein festliches Gefühl, wie denn auch ein frischer Kragen zumeist angelegt werde, ehe man in 127 Gesellschaft, zu Besuch, zu Tanze, ins Theater, ins Konzert gehe. Die festliche Empfindung, die bei allen Großstadtmenschen mit dem Anlegen frischer Wäsche verbunden sei, übertrage sich denn auch unwillkürlich auf diejenigen, welchen man diese Festtagsempfindung des Lebens danke, auf die Plättmädchen, daher es denn auch nichts Appetitlicheres und Reizenderes gebe, als mit Vertreterinnen dieses Standes zu Tanze zu gehen.
»Na, reden kann er!« sagte die zweite Blonde mit Genugtuung. Sie hatte ihr Leben bisher nie in solcher Beleuchtung gesehen, fand aber, daß es etwas Angenehmes hatte, die eigene Tätigkeit so zu betrachten, und daß es auch richtig sei.
»Na ja, wat habe ick gesagt?! Die Philologiker sind doch die verständigsten!« sagte die Große. »Kinder, habt ihr noch 'n Täßchen Kaffee für den Herrn Studenten? Oder trinken wir alle zusammen 'ne Weiße?«
August Mochow war auf schönstem Wege, sich hier unten ebenso einzuschmeicheln, wie er es bei den Drehorgelverleihern verstand und bei seinem Freunde Droschkenbesitzer. Er war einer Tasse Kaffee nicht abgeneigt, und er hatte nur Ja gesagt, so ließen sie alle drei ihr Bügeleisen stehen, die eine holte vom Ofen die Kaffeekanne, die andere die Tasse, die große holte den Zucker, und so wurde er zu dreien bewirtet. Als er dann die Tasse in der Hand hielt und kostete, sagte die kleine Schwarze:
»Na, nun erzählen Sie aber noch mehr von 128 die Art, das hört man ja gern! Kinder, laßt die Bügeleisen nicht kalt werden!«
Mochow war nicht faul und begann nun, indem er sich als Soziologen bezeichnete, seine Betrachtungen über die mutmaßlichen Besitzer der Wäsche anzustellen. Die Kragen gehörten vielleicht einem jungen Assessor und jene einem Baron, diese Hemden seien wohl einer Vorstadtschauspielerin zugehörig und jene Beinkleider einer Frau Kommerzienrätin. Er würzte diese Betrachtungen mit allerhand natürlichen Anspielungen, welche den Mädchen sehr gut gefielen, sodaß die Kleine sagte:
»Na, Sie werden doch auch wiederkommen? Ja, Sie verstehen's.«
Unterdessen wurden die Mädchen nun auch witzig. »Na, sehen Sie nur mal diese Halsweite,« sagte die kleine Blonde, indem sie einen Kragen vorzeigte, den sie eben bearbeitet hatte, »sollte man's denken. Den kann ick ja als Taillengürtel tragen! Solche Dickhälse jibt's! Aber denn wieder hier den Damenstehkragen! Natürlich Reform! Die muß 'n Hals haben wie 'ne Latte, man kann Rosenstöcke dran ziehen!«
»Na ja, und so sehen Sie, meine Damen, daß man aus der Wäsche die janze Bevölkerung von Berlin sozusagen herauserkennen kann, wie sie in Wirklichkeit beschaffen ist. Denn haben sie feine Leinwand, denn weiß man schon, daß sie zu den Feineren gehören, und wer bloß grobe hat, na, da sieht man auch, was bei ihm zu holen ist. Und 129 am Hosenbund können Sie genau sehen, wie schlank eine ist, und an der Beinlänge können Sie denn auch gleich erkennen, wie lang sie sein muß, nach den künstlerischen Verhältnissen zum Ganzen. Na, und dann die Blusen, Sommerblusen, Schürzen und was sonst noch unter Ihre Hände kommt: was an einer oder einem ist, das sehen Sie, während alle anderen Menschen das voneinander meist gar nicht wissen, ganz genau! Und wenn keiner es weiß, Sie wissen es!«
Während dieser letzten Betrachtungen hatte Mochow sich nun aber das große Mädchen mit den künstlerisch gescheitelten Haaren immer wieder angesehen, und seine Erinnerung schien sich zu verschärfen. Er frug sie endlich, ob sie sich nicht schon einmal gesehen hätten irgendwo. Die schlanke Plätterin, die absichtlich die Wiederherstellung seines Kragens verzögerte, um heraus zu bekommen, ob er es wirklich mit seinem Gange zum Tanze so eilig habe oder ob das nur ein Vorwand gewesen sei, sagte jetzt auch überrascht: »Ja, ick habe es auch schon gedacht. Wir müssen schon mal zusammen getanzt haben. Aber wo! Man tanzt mit so vielen Herren, und sie verwechseln sich dann so leicht.«
»Na, mein Name ist Mochow,« sagte der Student. »Vielleicht besinne ich mich, wenn ich Ihren Namen wieder höre.«
»Na, ich bin die Wilhelmine Löffler!« sagte nun die Blonde gelassen, denn sie war es in der Tat. 130
»Wilhelmine!« – Mochow war wieder in seinem Gedächtnis beirrt, auf diesen Namen konnte er sich doch nicht besinnen. Es war also doch eine Verwechselung. Man hörte dem Tone seiner Stimme an, daß ihm der Gedächtnisfaden plötzlich wieder abgerissen war. Wilhelmine wollte ihn nun aber auf die richtige Spur bringen und sagte:
»Na ja, Wilhelmine oder Mine. Vielleicht besinnen Sie sich, daß ich bis vor acht Tagen in der Großwaschanstalt Borussia war! Wenn Sie mich danach gefragt haben, werde ich's Ihnen doch auch gesagt haben. Na ja, und da mußte ich doch gehen, es war eine ganz dumme Geschichte. Na, so dumm. Aber fort bin ich doch!«
Mochow hatte zwar keine Ahnung, wovon sie sprach, wollte aber ihren Mitteilungen nicht hinderlich sein und hörte nun gedankenvoll zu, wie Wilhelmine ihr Schicksal berichtete. Sie sei also in der Großwaschanstalt sehr beliebt gewesen bei allen, bis sie eines Tages für einen Leiermann, der ohne Orgel gekommen sei, eine Sammlung auf Vorschuß veranstaltet habe, wozu alle beigesteuert hätten. Und der Leiermann, der noch ein junger Mensch sei, der etwas hinke, hätte versprochen, das nächstemal wiederzukommen mit einer ganz neuen Orgel, um seinen Vorschuß abzuverdienen durch besonders schöne Musik, die er zu machen versprach. An den nächsten Leiertagen habe nun die ganze Waschanstalt gewartet, daß er wiederkommen werde, aber sie hätten sich alle, über hundert Mädchen, in 131 ihm getäuscht, er habe sich nicht wieder sehen lassen, sondern sei mit dem Gelde einfach davon gegangen. Seit dieser Zeit aber hatten alle Mädchen angefangen, sie zu verhöhnen, weil sie die Sammlung veranstaltet und auch früher immer für den Leiermann unter ihnen gesammelt habe. Denn sie hätte auf aller Wunsch dem Menschen auch noch zwei junge Hundchen geschenkt, und nun hätten die Spötterinnen im ganzen Hause ein Gerede aufgebracht, sie, die Wilhelmine Löffler, sei den jungen Hundchen ihre Mutter und, um die armen Kinderchen aus der Welt zu schaffen, habe sie dieselben dem Schallerfritz gegeben, damit er sie in der Spree ertränke. Und man habe ihn auch nachts gesehen, wie er im Begriff gewesen sei, sie ins Wasser zu werfen, denn eine von den Mädchen sei mit ihrer Bekanntschaft gerade vorübergegangen. Es wäre nun aber klar, daß sie das Geld für den Leiermann nur gesammelt habe, um ihn für seine Gefälligkeit zu bezahlen, und da sei es kein Wunder, daß er nicht wiederkomme und seinen Vorschuß abspiele.
»Na, denken Sie mal, ick sollte die Mutter von den jungen Hundchen sein!« schloß Wilhelmine ihre Mitteilung mit innerer Entrüstung. »Und der Storch sollte sie auch noch gebracht haben!«
»Na, so was!« sagte die Kleine, die jetzt auch zum erstenmal erfuhr, wie es der neuen Kollegin ergangen war.
»Erst dachte ich, es wäre alles nur Verutzung!« 132 fuhr Wilhelmine fort, »aber jeden Morgen, wenn ich ins Geschäft kam, fing die Sache wieder an. Und dann sprengten sie aus, ich ginge manchmal mit vornehmen Herren nach dem Tanze auf Souper, aber es war doch nur wegen der Heiratsaussichten! Kann man denn wissen, was einer im Sinne hat? Und wenn mir einer nimmt, der mir 'ne sorgenfreie Existenz verschafft – na, warum nicht? Denn immer anständig! Es will doch jeder mal emporkommen!«
Mochow hatte mit Staunen diese Geschichte angehört. Sie gefiel ihm ungeheuer. Sie schien ihm so ganz aus dem innersten Wesen der verehrten, viel durchwanderten Reichshauptstadt zu kommen, daß er beschloß, diese Wilhelmine Löffler näher kennen zu lernen. Nicht, daß er etwa von Amors Fittigpfeilen sich getroffen fühlte, es schien ihm nur äußerst interessant, so ein weibliches Menschenkind, wie diese Wilhelmine, die mit dem Storch in einen so seltsamen Ruf gekommen war, öfters zur Unterhaltung und zur Beobachtung soziologischer und psychologischer Züge in seinen sonstigen volkstümlichen Umgang einzubeziehen. Außerdem dachte er darüber nach, daß er besagten Fritz Schaller ja auch kenne, daß er mit ihm auf der Stubendiele gelegen hatte in ernsthafter Walkerei und daß man sich dann so hübsch versöhnt hatte. Er fühlte, daß er infolgedessen eine innere Sympathie gefaßt hatte für den Leierjüngling, der nach der Szene in Gegenwart des 133 entrüsteten Herrn Pullrich aus seinem Gesichtskreise entschwunden war. Und indem er diese Sympathie fühlte, wunderte er sich mit einiger Genugtuung über sich selbst, daß er durch diese Gefühle selbst einen Beitrag zur Sozialpsychologie darstellte, der bemerkenswert erschien in jeder Hinsicht. Er beschloß daher, Fräulein Wilhelmine erst ausreden zu lassen, ehe er einige Gesichtspunkte zur Sache geben wollte. Er warf nur ein:
»Na, wegen dem Gerede von den jungen Hundchen brauchten Sie aber doch nicht Ihre Stellung aufzugeben?!«
»Doch, Herr Student, das mußte ich,« sagte Wilhelmine stolz. »Denn, wenn es auch ein Unsinn war, so mußte ick doch deshalb gehn, weil der Leierkastenmensch mich so schnöde im Stich gelassen hatte. Wie stand ick denn da vor allen! Ick hatte von allen das Geld gesammelt, und er ließ mir sitzen! Und dazu noch die jungen Hunde! Ick war ja blamiert! Und es würde meiner Karriere geschadet haben von wegen die Heiratsaussichten, wenn die feinen Herren von mir gehört hätten, det ick in so 'nem Rufe stand! Also denn jing ick eben! Kurze Kündigung hatte ick und so viel habe ick mir gespart, Herr Student, det ick die Sache ansehen kann, wenn's drauf ankommt, en janzes Jahr. Sparkassenbuch habe ick auch – warum sollte ick mir jeden Tag sagen lassen, er habe meine jungen Hundchen in der Spree ertränkt? Ja, so bin ick!«
»Na, fühlen Sie sich denn nun hier unten auch 134 wohl? Früher in der großen Dampfwaschanstalt war doch wohl alles großartiger?«
»Na, einmal ist man oben, einmal unten!« meinte sie. »Heutzutage ist das der Kampf ums Dasein. In Berlin wenigstens is et mal so! Lesen Sie man die Blätter, wo von unsere jroßen Theaterdichter geschrieben ist und von de Premieren, und die Überbrettl, und die jroße Bankiers und Spekulanten und die berühmten Sängerinnen und die Parlamentarier und allens, wat für die Zeitungen da ist. Heute oben, morgen unten, heute berühmt und reich und so groß, dat sie genau berichten, ob enen der Hemdenknopp abjeplatzt ist, und morgen war et denn wieder mit die janze Herrlichkeit nischt! Na ja, ick bin denn mal in so 'ne Periode, wo ick mehr unten bin, denn hier sieht man den janzen Tag von alle Menschen nur det Schuhwerk mit de Füße drin und von's Frauenzimmer die Schleppen und aufjerafften Unterröcke, die jehn den janzen Tag über unsrer Nase vorbei. Aber vom Kopp siehste de nischt, sondern nur in de Nasenlöcher 'rin. Na, man muß sich an alles gewöhnen und immer wieder nach oben streben, denn erreicht man am Ende doch sein Ziel!«
Mochow warf einen Blick voll gedankenvoller Sympathie auf Wilhelmine Löffler. Denn wie interessant ergänzten ihre Betrachtungen seine Beobachtungen über den Blick von oben herab, den er in die Erdgeschosse zu tun pflegte. Hier war nun wieder eine Weltanschauung von unten herauf zu 135 registrieren, welche abermals das Bild der Stadt Berlin von einer ganz neuen Seite zeigte. Er fühlte eine geistige Wahlverwandtschaft und dachte sich, mit diesem weiblichen Wesen spazieren zu gehen, müsse auch besondere geistige Anregungen bringen. Er sagte:
»Sie haben da eine sehr richtige, man könnte sagen, geistreiche Bemerkung gemacht, mein Fräulein. Mit solchen Anschauungen werden Sie gewiß auch wieder nach oben kommen, besonders mit Hilfe Ihres Sparkassenbuches. Den Fritz Schaller kenne ich übrigens; ich machte vor einiger Zeit seine Bekanntschaft, und da schien er mir ein Mann von viel musikalischem Talent. Leider hat die Konkurrenz, die er anderen machte, dazu geführt, daß er keine Orgeln mehr geliehen bekommt, und daher wird sich erklären, daß er seinen Vorschuß nicht abspielen konnte. Irre ich nicht, so habe ich ihn einmal irgendwo als Wursthändler gesehen!«
Das Wort »Wursthändler« bewirkte, daß Wilhelmines Wangen unwillkürlich ein leises, feines Erröten überzog. Mochow wußte nicht, warum es geschah, aber er fand, daß das schlanke Fräulein dabei sehr reizend aussah. Die beiden anderen Mädchen hatten mit starrem Erstaunen die fabelhaften Geschichten gehört, welche da unwillkürlich ans Tageslicht gekommen waren, einen Vers vermochten sie nicht sich darauf zu machen, es klang alles rätselhaft, traumhaft, wunderbar. 136
Wilhelmine aber schwieg eine Weile. Sie empfand nun ihrerseits wieder eine gesteigerte Sympathie für den Studenten, daß er den treulosen Leiermann kannte. Denn wenn dieser auch schuld war an ihrem gesellschaftlichen Fall, der sie aus einem großen Betriebe in diese kleine Kellerplättanstalt hinunter genötigt hatte, so war es doch schon tröstlich, daß überhaupt einer, und vollends so ein gelehrter Student, den Schallerfritz kannte. Schon das erhöhte das Gefühl ihrer eigenen inneren Würde. Denn ein Mann, der so gute Bekanntschaften hatte, wie dieser Fritz Schaller, durfte daher auch eher ihren Verkehr mit dem falschen Herrn von Schwielow kennen gelernt haben. Dieser Verkehr hatte sich ganz in der selben speiselustigen Weise erneuert. Wilhelmine war schon zweimal wieder mit dem Herrn in Theatern und Speisehäusern gewesen, dieser hatte sie in gleicher kulinarischer Weise bewirtet und sie dann in respektvoller Weise nach Hause gebracht, sodaß sie ernstlich den Gedanken gefaßt hatte, er habe Absichten, nach einiger Zeit ihr seine Hand anzubieten. Eben deshalb hatte sie so rasch entschlossen wegen der jungen Hundchen ihre Stellung gekündigt, um solchen guten Aussichten nicht selbst im Wege zu sein. Daß Fritz Schaller Zeuge ihres Verhältnisses geworden war, schien nun weniger kompromittierend, da er ja von so einem gebildeten Studenten gekannt war. Daß dieser aber nun gar die Richtigkeit der Angaben des Schallerfritz in Bezug 137 auf die Vorenthaltung von Orgeln bestätigt hatte, zeigte, daß sie nicht das Opfer eines bloßen plumpen Betrugs sein konnte, sondern daß jedenfalls triftige Hinderungsgründe bestanden, die den Leiermann abhielten, seinen Vorschuß abzuspielen. Die Summe all dieser Empfindungen aber war, daß ihre gesamte Sympathie sich dem Herrn Mochow zuwendete. Sie reichte diesem den unterdessen fertig gewordenen Kragen und sagte:
»Na, Herr Student, es wird ja wohl ein bißchen spät geworden sein für Ihr Tanzvergnügen, und ob Sie zu Ihrer Tänzerin noch zur rechten Zeit kommen, det müssen Sie wissen. Wat mir aber anlangt, so können Sie, wenn Sie wieder einmal Kragen brauchen oder Ihre Wäsche gereinigt und geplättet haben wollen, sie immer zu mir bringen. Ick mache sie Ihnen denn so in einem mit hin und werde mir freuen!«
Sie warf ihm dabei einen so verheißungsvollen Blick zu, daß er unwillkürlich von seinem Stuhle sich erhob, den Kragen nahm und das Geständnis ablegte:
»Mein Fräulein, Sie verbinden mich so, daß ich Ihnen freimütig bekenne: die ganze Geschichte mit dem Tanzvergnügen ist nur erfunden. Vielmehr war es Ihr Anblick zunächst in der Oberschau von der Straße hier unten bei freundlicher Lampenbeleuchtung, der mir den Mut gab, hier einzudringen, um Ihre Bekanntschaft zu machen und die Schönheit Ihrer Arme nicht nur von oben, 138 sondern auch in der normalen Seitenansicht zu bewundern. Deshalb erfand ich die kleine Historie von der Tänzerin, die ich erwartete. Aber diese Dame existiert gar nicht: statt dessen habe ich nicht nur Ihre Schönheit aus der Nähe kennen, sondern auch Ihre geistige Persönlichkeit sozusagen aufs höchste schätzen gelernt. Wenn ich mich nun mit einem erneuten Hemdenkragen empfehle, so hoffe ich, daß unsere Bekanntschaft eine dauernde sein wird. Denn von Ihrem gütigen Anerbieten, mir meine Wäsche gratis zu besorgen, mache ich selbstverständlich Gebrauch, nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern um Gelegenheit zu haben, Ihre Unterhaltung recht oft zu genießen. Die Plättkosten sind ja ziemlich beträchtlich, und mein häuslicher Wechsel macht mir derartige Ersparnisse erwünscht. Im übrigen jederzeit zu Gegenleistungen bereit.«
Während dieser Rede hatte er den Kragen wieder um den Hals geknöpft und den Schlips angelegt. Wilhelmine sah, daß er schief saß, faßte daher mit ihren schlanken Händen den Schlips und band ihn zurecht, sodaß Mochow still halten mußte, und sagte:
»So muß er sitzen, Herr Student. Denn wir können Sie doch nicht mit 'ner schiefen Halsbinde wieder auf die Straße hinauslassen mitten mang die vielen Menschen. So! Aber jetzt sehen Sie sehr gut aus! – Na, und wie is denn nun nächsten Sonntag mit's Tanzvergnügen?«
»Aber mit Vergnügen, mein Fräulein. Ich bin 139 zwar nur ein mittelmäßiger Tänzer, da werden Sie wenig Staat mit mir machen, aber ich halte gut aus! Jede Tour, wenn Sie wollen.«
»Na, denn is schon jut! Bei 'nem Studenten sieht man nicht so drauf, wie er tanzt, wenn er nur leistungsfähig ist. Denn ick tanze jede Tour durch, und müde – is nich! Na, denn lade ick Sie also ganz ergebenst ein!«
Sie bemerkte nicht, daß ein leicht sorgenvoller Zug über Mochows Antlitz ging. Er war nämlich durchaus nicht so leistungsfähig, wie er geprahlt hatte, sondern kam beim Tanzen leicht außer Atem, da er zuviel Bier trank. Er fürchtete, daß er für so eine ausdauernde Tänzerin sich besonders werde trainieren müssen. Aber die Aussicht auf die kostenfreie Besorgung seiner Wäsche zusammen mit einer anderen angenehmen wirtschaftlichen Aussicht, die er mit Sicherheit erwarten durfte und worin er sich auch nicht täuschen sollte, ließ ihn mit einer gewissen Verachtung von Gefahr sagen:
»Na, mein Fräulein, da passen wir ja fürs Tanzen ganz ausgezeichnet zusammen. Und nun also, mein Fräulein, wann und wo?«
Wilhelmine bestimmte das Tanzlokal, in dem sie sich treffen sollten. Die Sache wurde festgemacht, Mochow gab jeder von den drei Plätterinnen die Hand und sagte: »Die beiden anderen Fräulein kommen doch auch mit?!«
»Vielleicht,« sagte die kleine Schwarze, »wenn 140 ich nicht in 'n anderes Vergnügen gehe, Wintergarten, Zirkus und wo man so hat!«
Darauf stieg Mochow wieder die Kellertreppe hinauf und schlenderte in der angenehmsten Stimmung nach Hause. Er fand, daß es ihm zur Hauptsache in dieser Welt doch recht gut gehe. –