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Englands neue Seele

 

I

England ist ein Triftenland; ein Grünland; ein Buschbaumland; ein Heckenland; ein wohnliches Land. (Mit rußigen Strichen) … Was für eine Menschenart haust hier?

 

II

Ich zeigte: welcher Art sie nach dem Krieg leben. Was für Kleider sie heute tragen; was für Denkmäler sie setzen; was sie kauen; wann sie trinken; was auf Märkten knackfrisch, noch in Whitechapel, prangt. Ich zeigte sie beim Polo. Bei Regatten. Im Theater. Ich zeigte sie dann in Oxford. In Schlössern. In Domen. In Shakespeares Gau. Ich zeigte sie am linden Seegebirg' und im Hochland. In Hammerwerken. Ich zeigte die Gesinnung: wie sie nichts mehr gegen uns haben … aber noch nichts für uns. Ich zeigte den Seelenbau von englischen Politikern. Zuvor die Abweichung des herdenlos denkenden Shaw (oder doch mit der künftigen, also besseren Herde denkend).

Und ich frage: Was für eine Menschenart haust hier?

 

III

Doppelt rätselhafte Blutmischung. (Denn alle Blutmischungen sind rätselhaft.) Ich grüble; schürfe; folgere …

Seltsam diese Hochzeit von altem Kulturblut mit jüngerem Rohlingsblut.

Von Besonnenheit mit rüder Frische. Von vornehmer Art und Raffgier. Von Hilfswillen und Protzenschaft. Von Weltbändigung und Läpperspiel. Von Freundlichkeit und Gewalt. Von Takt und Dünkel  … Von Räubertum und Wohnlichem. Von Selbstsucht und Erziehersinn. Von Bequemheit und Kriegskraft.

Was für eine Menschenart haust hier?

 

IV

Manches wirkt spaßig auf uns. Ich denke mir: vielleicht stammt aus der Mischung von normannischer, also französischer Ziergeckerei mit bäurischer Sachsenschwere jener Zug von begütertem Narrentum: im geckfeierlichen Wichtignehmen jeder Sportwinzigkeit – bei stilleforderndem Ernst … Die andächtige Vorschrift für eine Reithose. Kurz: das Emporkömmliche … (Was romanische Völker nicht haben.)

Ich wittere da den inneren Ringkampf zwischen dem lässigen Franzosenkavalier … und dem klobigreichen Schiffer.

Kreuzung von Höfling und Dörfling.

(Ein oft kindisches Formdasein. Vorgeschrieben-Äußerliches. Erfindung willkürlicher Umgangsregeln. Erfindung einer strengstens vorgeschriebenen Mahlzeitstracht. Albern-ernste Freuden eines zu Wohlstand Gekommenen … Ja, ich denke mir: das stammt aus jener Mischung von zierhaftem Blut mit dickem Blut.)

 

V

Das Bild der alten Sachsen (bloß nach germano-keltischem Urteil) ist fürchterlich. Ich teile die Bewunderung für Völkerwanderungsmenschen keineswegs. Sicherlich lieferten sie frisches Blut. Bleibt jedoch fraglich, ob sie damals mehr neuen Wert gebracht … oder mehr alten Wert zertrampelt haben. Die Entwicklung scheint mir zurückgeschubst.

Weltgeschichte soll einer nicht als Schmeichler der Gegenwart sehn.

Wie schildert sie das Zeugnis der Ihren? – Freundlich so: als Gierschlünge, Menschenjäger, Fleischerhunde, Blutbestien, grausam-heitere Sadisten, Mordlächler, Plünderer … Sie gelten ihrer Zeit als widerliches Schrecknis für die vergewaltigte Welt höherer (oft klerikaler) Sassen – so viel Jahrhunderte nach einer menschlicheren Ethik. So viel Jahrhunderte nach gestufteren Geistern, wie Hamurabi, Mose, Platon. (Zu schweigen von jenem Josua aus Nazareth, den sie bald für ihre Schlächterei mit ungeschickter Lüge blutroh nutzten.)

Ihr Volk schildert sie als Verräter gegen die Eignen. Als Meuchelgeier – sie schlachten sich untereinander ab. Als gierige Sklavenhändler: sie verkaufen ihre Kinder für Geld …

Aber dann wieder sind sie keusch, tapfer, gefolgstreu, nicht nur hart gegen sich, sondern frauenfromm – also was man aus dem Tacitus weiß.

 

VI

Diese Wölfe wurden in England Haushunde? …

Ich sehe fast, wie. Mit wem paarten sie sich? Die Ureinwohner denk' ich mir, müssen schwach gewesen sein, – denn sie holten gegen heimische Bedränger … auswärtige Bedränger zu Hilfe: die sächsischen Wanderratten. Schön.

Aber zuvor? Zuvor hatten die Britannier doch vierhundert Jahre lang Römer bei sich; also muß lateinisches Blut in die Kelten geträufelt sein – oder was sie sonst waren. Und dann?

Dann jene kelto-lateinische Mischung plus Mischung der sächsisch-raubsüchtigen »Helfer« mit Franzosen, lies: französierten Normannen. Es ist nur achthundert Jahre her.

Hier also steckt zum zweiten Male die Hochzeit mit lateinischem Zähmungsblut.

Das wird es sein.

 

VII

Diese Mischung hat (wenn man das stark angelsächsische Amerika hinzunimmt) in den letzten Erdkrämpfen mehr Endkraft gezeigt als die deutschredende Slawenmischung, die uns umgibt.

Gezähmteres Blut scheint also die Vorhand zu haben? Nein; bloß politisch! Dies ist ja das Merkwürdigste … Denn unabhängig von der Politik blüht in Deutschland eine weit höhere Geisteswelt; weit gestuftere Zwischenformen des Gefühls; weit losere Schwingungen der Seele. Nicht nur allerhand Musikgenie … Der Einzelne bei uns, mag er politisch wirr sein, hat ein minderes Maß britischen, bloß tatbereiten Engsinns.

Der wahre Historiker muß ohne Rücksicht sprechen. Darauf kommt es an.

(Am Schlusse steht er dennoch vor einem halbdunklen Tor.)

 

VIII

Mir dämmern die Windungen der englischen Seele.

Sie treiben Sport nicht nur, weil sie wollen: sondern weil sie müssen – wegen des Klimas.

Zweckmenschen. Bloß in einem Punkt Verstiegenheitsmenschen: sie halten sich für das auserwählte Volk.

Sie denken arglos etwa so: »Wir Engländer haben die besten Pferde, die besten Hunde, haben vieles als erste sonst gezüchtet – warum sollten wir nicht auch der beste Schlag selber sein?!« Mit dem stillen Beigedanken: »Alle Völker kommen ja zu uns, haben uns was nachgemacht, die Neue Welt sogar stammt von dieser Insel, wir sind Vorbild, Regulator – well, da stecken Merkmale für ein auserwähltes Volk.«

(Sie könnten zufügen: »Unsre Herrschaft über die Welt währt bekanntlich so lange, wie kein Rom es je vermocht.«)

 

IX

Sie horsten auf dem Fels des Rohstoffs. Baumwolle; Gold; was du willst.

Sie lassen die Leine locker, wo sie Gewalt üben. Nie verrannt.

Haben wenig zersetzende Elemente … Will sagen: keine schwachsinnig wütenden Schädlinge, die ihr Vaterland mit zweckleerem Schneid und brutalem Mord ochsendumm in den Schmutz wirtschaften.

(Zersetzung stammt ja von Solchen, die eifernd starr, aber wenig klug sind.)

 

X

England ist eine Republik mit dem König an der Spitze. Heut erst recht … Sehr spaßhaft ihre Stellung zum Herrscherhaus – nein, zum Königshaus. (Nicht dasselbe!) Wie erklärt sie sich?

Weil England auswärtige Filialen hat, könnte leicht eines üblen Tags jemand aus Kanada Präsident sein wollen – falls auch amtlich das Ding Republik hieße. Das darf nicht geschehn … Darum halten sie sich, heute noch, einen Monarchen.

Dieser Behang für einen Mittelpunkt (ich wechsle die Gleichnisse fortwährend) wird nach dem Krieg doppelt gut behandelt. Georg ist … ein lieber Gast. Sie hätscheln das gesamte Haus. Schanzen ihm allerhand Eigenschaften (sogar Taten!) zu, die nicht Wirklichkeit sind. Sie erlauben ihm sonst allerdings nichts. Sie schaffen halt ein liebes Zentrum – das sie verwöhnen, aber an Betätigung hindern.

Der Kanari im Königsbauer ist wiederum sehr nett zu ihnen. Keine Kafferndistanz! Hausgenosse! Sie freuen sich, wenn er zufrieden piepst.

 

XI

Jedes Tingeltangel in England schließt heute mit »God save the king«; jeder Ball; jeder Kientopp. Nur so, wie wir sagen: »Und jetzt, zum Schluß …« Oder wie man sagt: »Kehraus!« – so sagen sie: »God save the king.«

Der Kronprinz erscheint in jedem Groschenfilm auf seiner halbgeglückten Indienfahrt. Niemand ulkt … Sportliebend muß er auch noch sein.

 

XII

Daneben ist schwerer Begreifliches in den jetzigen Sitten. Widerspruch zwischen altem Takt … und neuer Taktschwäche.

Wenn etwa die nationale Schauspielerin Patrick-Campbell heut Liebesbriefe Shaws an sie gegen Honorar veröffentlicht … Sie hätte bei uns moralisch ausgespielt.

Als ich frage: »Ist sie noch möglich?« bejaht es ein englischer Freund – mit dem Beisatz: »Curious world!«

Dieser Zug ist nach dem Krieg stärker als zuvor: Die Gründe  …

Wirtschaftliche Gründe! Was Frau Asquith an Peinlichem zu Papier bringt, tut sie für Geld. Zeit der schweren Not.

Engländer, im Verkehr so diskret, sind heut in ihren Blättern das Indiskreteste.

Nicht nur wird jedes Hochzeitskleid beschrieben. Schon zuvor wird festgestellt, was eine tragen will.

Der Bürgerling ist an snobbiger Neugier für Geadeltes unüberbietbar.

(Neugier auch sonst – bei Todesfällen wird ja die Hinterlassenschaft selbst mittlerer, wenig bekannter Leute nach Pfund und Schilling in den Blättern mitgeteilt. Nur aus Neugier. Ungefähr wie man bei uns liest: »Der in weiteren Kreisen bekannte Landgerichtsrat Müller beging seine silberne Hochzeit«.)

 

XIII

Jeden Tag Notizen über die Aussteuer eines Gesellschaftsmädels, bis auf das Linnen. Sie wird bei der Trauung eine Brüsseler Spitze tragen, so ihr die Großmutter, Lady Stansfeld, pumpt. Das steht jeden Tag drin. Man liest, was der Bräutigam geschenkt  … kriegen wird.

Sind es nicht Bauernzüge? Sind es nicht Sitten historisch Reichgewordener?

Klatsch über Klatsch. In jeder Zeitung stand jetzt, wie Lady Russel ihren Mann, den Sohn des Lord Amphthill, betrog; mit Einzelheiten. So allemal. Der Grund ist simpel.

Was nämlich vor Gericht verhandelt wird, darf in den Blättern erscheinen. Kitzlige Behauptungen würden sonst mit schwerem Geld gebüßt. Also drucken alle newspapers die Scheidungsprozesse haarklein. Gefahrlos; nur mit Stenogrammkosten … So war es vor dem Krieg. Jetzt ist es doppelt schlimm.

Ein Engländer, den man vormals etwa fragte: »Welchen Beruf üben Sie?« oder: »Haben Sie Kinder?« hätte darin Unzulässiges erblickt. Das gibt es nicht mehr. Zeremoniendämmerung.

Eine bestimmte Form wurde vom Weltkrieg zur Strecke gebracht.

 

XIV

Und nach alledem …

Es ist ein wohnliches Volk. England bedeutet eine Gegend, wo der Mensch gut aufgehoben ist.

Ein sittigendes Volk. Ein pflegliches Volk.

Jeder Aufenthalt in England gab mir den Eindruck einer Reife; einer Anständigkeit; einer Ordnung; einer Sachlichkeit. Bewundernswert.

 

XV

Wieder jetzt war ich dankbar und voll Achtung. Wieder findet man Englands Menschen freundlich, vornehm, geschickt, zuchtvoll, ernst. Ohne krähwinklige Spottgier.

Vergaß ich den Mangel an Musik? Diese Tatgehirne schrieben schlechtere Noten; jawohl. Auch Blümlein besangen sie weniger. Doch sie schufen eine Poesie der Hausung … und machten eine Musik aus ihrer Insel.

(Jenseits von Birmingham.)

 

XVI

In Europa sind sie … kaum das für einen Deutschen beneidenswerteste Volk. Denn wir haben unsren durch nichts überstrahlten, hohen, inneren Sonderbesitz.

Aber sie sind das geordnetste Volk. Das komfortabel-gediegenste. Das altersgefestigtste.

England ist eine Burg der Nützlichkeit – (während »Gott« die romanischen Völker und mich mehr zu Vergnügungszwecken schuf).

 

XVII

Ich sah diese seit Jahrhunderten wesentliche Macht für die Außengestaltung der Welt jetzt in ihrem Wendepunkt.

Das »Rule, Britannia!« wird heute zweifelhaft.

In Europas Nöten bleibt ja der Unterschied zwischen England und Amerika so: Amerika will (vorläufig) nicht helfen – England kann's nicht.

Ecco.

 

XVIII

Das geordnetste Volk? … Das zukunftsvollste sitzt nach wie vor um die Hudsonmündung. Da, da, da geschieht einstens die Nachfolge.

Sie hat in diesem Augenblick begonnen.

 

XIX

Doch es ist der Sohn – der die Mutter ablöst.

*


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