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Schottland

 

Erster Teil:
Edinburgh

I

In der Gegend von Carlisle (nicht zu verwechseln mit Thomas Carlyle, dem Heldenzeloten aus Schottland) sah ich das erste schottische Mädelchen. Zehn Jahr'; gefaltet schottisches Kurzröckchen; nackte Beine; rotes Haar. Sehr, sehr schottisch.

Das Wappen dieses Landes müßte sein: schottischer Stoff; Dudelsack; rotes Haar; nackte Beine.

Ich kam zuvörderst nach Edinburgh.

II

Edinburgh … Kreuzung von Kristiania, Prag, Lissabon. Auch ein bissel Genua. Mit Lissabon und Genua gemein hat es das Übereinandergebautsein der Häuser. Zwischendurch trachtet es (erfolglos) nach Verwandtschaft mit … mit … mit Athen.

In die Ecke, Besen, Besen!

Auf der wichtigsten Straße (Princes Street) erblickt man z'erscht amal Denkmäler für Geistliche; für Superintendenten; für reverends. Eoh! eoh! Das liegt mir so wenig wie die, oft spitze, Architektur. (Vieles der Architektur bleibt hier dennoch wunderbar; nämlich ernst und schwarzsteinern. Davon hernach.)

Alles düsterer, als ich geglaubt … Eine Norderstadt. Das ist es. Eine Norderstadt.

III

Mit Kristiania verwandt sind Seitenstraßen, die in leere Luft enden. Bei Kristiania auf den Fjord; hier auf den Firth of Forth – (nein, auf Schwebestraßen über ihm).

Die Mädchen gehn, wie zu Kristiania, im hellen Licht über Princes Street. (Wetterbericht: »Heute Sonnenuntergang 10.20«.)

IV

Es ist was Totes, Verschollenes, Verschlossenes, Hoffnungsloses über der Stadt. Selbst in der Heiterkeit was Spätes und Schlußnahes … Dabei griechische Säulen auf dem Felshügel? Hach, die Akropolis heißt hier Calton Hill.

Das Griechentum des Hügels wird noch entwest vom Kreuz, das drüber zwischendurch erscheint. Ich war zweimal im wirklichen Griechenland  …

Die Bevölkerung ist nicht so weltlich liebenswert wie unten im Themsereich. Die Schotten wirken bäurischer. Antlitze ländlich-schändlich. Wohl harte Pflichtmenschen; mangelhaft auftauend; reizloser. Ungelenk auch in der Sprache – doch, wie man sagt, herzenstreu. Ein Sohn Londons ist gegen diese Bevölkerung ein Wiener. (Dabei sind mir die Wiener unausstehlich.) Romanischer Einschlag scheint nicht hinaufgelangt. Das wird es sein.

V

Bei gutem Wetter ist Edinburgh (diese Enttäuschung) leidlich. Aber zu viel Rauch.

Eine fröstelnde Schönheit … noch im Sonnenglanz. Etwas an der Grenze nach Mitternacht zu. Bleich selbst im Ruß.

Ein Griechenland mit Bahnrauch und John Knox.

VI

Dazu sieht man Soldaten, nacktbeinig, ballettröckig. Sie sind regnerisch und kalt. Der Mensch friert beim Angucken. Diese Hochlandsschaut  …, wollte sagen: Hochlandsschotten gehn über Princes Street zwischen öden Bürgern, mißkleideten Unmädchen, – durch das bleiche Licht.

Ecco.

VII

Walter Scott hat ein Denkmal an der besten Straße. Weil er Heimat beschrieb.

Sein Denkmal ist … wie eine gotische Kirche, nur wandlos. So oben zusammenlaufende Kringel – mit Parochie-Charakter. Spitzgotischer Zuckerkrimskrams …

Die Burg steht herrlich-kühn hoch auf dem Fels – aber zwischen dem Fels und der Hauptstraße liegt bauchig-rauchig ein großer Eisenbahngraben. Sehr übel; obschon mit Bauten und allerhand Grün gefüllt. Item, die Akropolis hier starrt an einem … Nordseearm.

VIII

Edinburgh, trotz allem luftdurchlässigen Säulengereih', wirkt ja wie ein unterweltlicher Abschied von Hellas. Ein finster-spärliches Gegenhellas. Ein Vorhof der Mitternachtssonne. Beginn des Aufhörens. Anfang der Verlassenheit. Es liegt Verkniffenes, Letztes, Einsames in allem Gewimmel von Häusern, Kirchen, Burgmauern, Trotzwällen, Wuchtzinnen, Luftsäulen auf dem Fels. Nicht meine Stadt.

Was Fahleres-Kahleres.

Herrlich und kennenswert und nennenswert – aber nicht meine Stadt.

IX

Die schottischen Kirchen sind schön. Der durchbrochene Kronenturm wie eine steinern-luftige Bischofsmütze – auf St. Giles. (Auf manchem Kirchel noch im Hochland.)

Wunderbar, wenn sich in Edinburgh der steingraue Häuserzug von abendlichen Bergzügen abhebt …

Nur Alt-Edinburgh hat seinen Zauber. Mit phantastischen Durchgängen, Torwegen, gepflasterten Steilpfaden, Engpässen, Treppengäßlein, Talwinkeln, Gangsteigen.

Es wirkt an einem Punkte wie Innsbruck, gegenüber von der Frau Hitt.

Hier steht ein Tempel für Robert Burns (gesprochen: Rabby Barns). Ihn selber sah ich nicht. Er wurde gereinigt, vom Bahnqualm … Doch er guckt, wenn er sauber ist, auf Bergwände, weg über Edinburgh (nebst Eisenbahn).

Hier war ich nachts um elf, als die noch helle Bergstadt und Meerstadt (und Eisenbahnstadt) zu versinken begann.

X

Edinburgh ist im früheren Teil … ja, eine Ballade. Die High Street in der Altstadt; steil, mit schwarzgeschnittenen Kirchen. Die Straße düster, unbreit, steinern ansteigend – oben das Königsschloß der Schotten. (In dieser, wie auf Stichen verschollenen, schweren, steilen, dunkelnden Nordstraße liegt jener Dom, St. Giles, mit der durchbrochenen Wipfelkrone.)

Zwei Schlösser: eins oben auf dem Straßenberg; eins tief im Gassental. Oben hauste Mary, queen of Scotts; sonst Maria Stuart genannt. Ihre Schlafkammer ist erstaunlich klein – im Verhältnis zum Nachdruck ihres Wirkens.

XI

Ein Feldwebel-Falstaff führt mich. Blaurot. Jede Sekunde kann ein Schlag ihn treffen. Scotch whisky … Erzählt von einem Besucher vor dem Krieg, der sich deutschfeindliche Worte verbat. Es war (schwindelt er) Bethmann-Hollweg. Nach einem Bild hat er ihn erkannt. Scotch whisky … Platzt er jetzt? Hei lewet noch! Blaurot.

XII

Mary, queen of Scotts, ließ vom Schlafzimmer (das erklärt ein andrer Wärterich) ihr Kind nächtens an einer Schnur herab – damit es ja römisch-katholisch getauft werde …

Nein, über die verschiedenen Sorgen der Bevölkerungen! (Weltgeschichte.)

Maria Stuart sieht auf einem gedunkelten Bildnis, mit stumpfgerundeter Nase, hübsch und lecker aus. Immerhin: der Tod für sie bleibt ein mir unfaßbares Vergnügen. Das giebt's in jedem Nest von Österreich. Allerdings nicht mit der schottischen Krone … Aha!

Der Blick vom Schottenschloß erinnert an ein steinern-machtvolleres Prag – das über dem Meeresarm läge; Hochland dahinter. So das Oberschloß.

XIII

Das Unterschloß aber, am Schluß der Steilgasse, heißt Holyrood Palace … Ihr italienischer Privatsekretär, Signor David Rizzio, wurde hier abgekehlt. Sie kam von Frankreich als junge Witwe; hoffnungsvoll. Die Mörder drangen in das Eßzimmerle, wo sie mit ihm saß (und mit der Herzogin von Argyll, aus Anstand). Sie schubsten ihn zum Treppenflur, zerdolchten seine Bronchien, er brüllte gewiß: »Dio mio! che vuole?! Santa Madonna!« …

Mary, welche das Heiraten nicht lassen konnte, nahm darauf den Darnley, den Bothwell, – sie ähnelte der früheren Königin von Sachsen. Gerhart Hauptmann sagt: »Amal will jedes … auch de Frau.« Aber diese Frau wollte zu oft.

(Der Geschichtschreiber soll die Anziehung nicht in ihrem Gesicht oder sonstwo suchen; sondern in der für Offiziere lockenden Einkunft.)

Das Kätzchen kam hernach in die Krallen der königlichen Tugendkatze – die als Jungfrau, mit einem Mann für jede Woche, von Bürgern verehrt, in die Weltgeschichte hinüberstarb.

Mary, queen of Scotts, verlor nun ihre zwei Schlösser, das obere wie das untere.

XIV

Am Schlusse jedes Mahls, das ich in Edinburgh schluckte, gab es, weil die Entwicklung friedlich geworden ist, »croûte Norvège«; ein buttergebratnes Brot mit Spänen oder Mus von geräuchertem Fisch drauf. Statt des Käses. Für dieses Land gewiß eine Verworfenheit.

Oft in Edinburgh erblickt man (Geschichte hin, Geschichte her) himmlisches Kupferhaar. Auch leuchtend goldloderndes Brandhaar.

Und im Hafen Leith wittert nochmals ein seltsames Prag dahin, über ein nordisches Meer. Unweit von jener Stahlbrücke, gigantisch über den Firth of Forth gereckt. (Gigantisch? Wer am Hudson und auf Manhattan war, findet sie … immerhin sehenswert.)

Um jedoch der Architektur ein gerechtes Wort nachzurufen: sie ist stark auf der ganzen Insel. Gewuchtet-ruhig. Großgeartet. Stumm. Fern von Aufdringlichkeit … Auch fern von Begeisterndem.

XV

(Was jetzt kommt, ist – noch nicht Schottland. Ob es gleich in Schottland liegt: die Trossachs. Gewissermaßen Vor-Schottland. Die lochs oder Bergseen bei Glasgow und Edinburgh.

Hier muß ein neues Blatt beginnen – bis der Herzsaft quillt.)

 

Zweiter Teil:
Hochlande

I

Also dies Waldtal, die Trossachs, mit Loch Lomond und Loch Katrine und Inversnaid und Stronachlacher, unfern Glasgows und Edinburghs, – das alles ist, ob es schon in Schottland liegt, nicht Schottland. Reizend … aber noch nicht Schottland.

Gewiß, – Fingerhut, Margueriten, Baumschlag, Butterblumen, Farrenkräuter, Mohn, Lärchenwipfel … Auch Getier mit prachtvoll verschlungenem Hörnergewind; jawohl.

Triften und Ufergerank und Altbäume. (Die Einsamkeit gemildert von Cook.) Zugegeben.

Der Loch Katrine ist gewiß ein felsiger See; der Himmel darüber gewiß lichtblau; einverstanden; der Wind gewiß frisch. Über den Sattel weg sieht man einen andren loch. Gewiß; gewiß.

Aber das braucht nicht in Schottland zu liegen.

II

Zwischen zwei Seen in der coach galoppiert man mit vier Gäulen; hoch der Kutscher, rotröckig, mit grauem Zylinderhut.

Alles das ist einschmeichelnd, überraschend – aber fast wie bei Stockholm der nahe Fjord kleinen Wuchses. Immer noch nicht …

Die Seen von Edinburgh und Glasgow sind nur ein Gatter zu Schottland.

Das letzte Schottland liegt: in Nordschottland.

III

Erst wenn der Mensch gen Aviemore strebt, auf Mitternacht zu, nicht weit von Inverneß – da fängt es an.

Waldungen, Hänge mit Buschbäumen … zu Beginn lieblich, nur wie von Hans Thoma. Dann schroffer.

(Vorderhand noch Waldgründe; Steinflüsse breitbettig. Härteres.) Aber jetzt …

IV

Aber jetzt. Bergflächen rotblau behaidet. Mit einem Schlag zaubervoll.

Unnennbares Ineinander von Haideflieder, Haidekraut, Ginster, Moor, Möwen. Das ist es. Reglos; menschenscheu; beglückend.

Guck, den übergrünten Karst. Schimmerblau dunkle Rücken, blassere Steinzüge. Ja, zaubervoll! … Berghaide, flach anklimmend. Beharrsam verwurzelt. Ehern-fest. In sich gesondert; lärmvergessen. Darin manchmal dieser brennend gelbe Ginster!

V

Hochflächen mit lichtem Grün, schwarzem Grün, knorrdicht, voll Pelz und bockigem Niedergebüsch.

Was für Farben! Blaurot und grünfinster. Wieviel getrennter Stumpfglanz! Das Starrgrün und das Lichtbetupfte, beim felsigen Rot des Grundes, beim Grau des Steins. Jung umleuchtet und umfrischt.

Ah, – gewellter Dunkelteppich, wieder lachend mit Getupf. Wieder pelzdicht aufwärtsgereckt. Und alles, man wittert es, zwischen zwei Meerarmen.

VI

(Dieser Ginster-Gelbbrand wird ganz toll.) …

Dennoch: wo die Felshaide nur grün ist, bleibt sie für mich am schönsten.

Atmend-stumme, pelzige, klimmende, schleirige Welt. Einsamkeit.

VII

Hier liegt Schottland.

Kuppen und Ketten und Lämmer. Ernst-lieblich. Kesselhaide, fernhin. Etwas Großartig-Verschwiegenes, Schweres, Ruhendes … und Holdes.

Eigenständiger als irgend etwas. Das gibt es zum zweiten Male nicht.

VIII

Widder mit schwarzem Kopf, doch gelbhell leuchtendem Schwerbehang. (Bei so einem Schottenhammel denk' ich, komisch, an den münchener Gasthof zum Schottenhamel, mit einem »m« – wo ich so oft gewohnt; unten gibt es Franziskaner.)

 … Geröll; niedere Steinmauern endlos; vergessene Markungen. Fichten, Schroffen – am Haideteller; Seevögel drüberhin; schwarzköpfig auch sie; der Leib weiß; Möwen.

Verschollen ein Haideschloß, irgendwo. Langhin, irgendwo, dunkles Bergluchwasser; loch geheißen. Loch, lake, lac, Luch, Lache – ist es verwandt? Eine Pfütze nennt man in Schlesien heut noch »Luusche«, das »sch« weich gesprochen. Volkskinder verlangen ein Bier im Schweidnitzer Keller spaßhaft: »Noch ane Luusche!« (Man sagt, es komme vom polnischen »kaluza«, gleich »Pfütze«, nicht von »loch« – aber woher kommt kaluza?)

IX

Die lochs in der grünen Felssteppe sind großlinig von Blauhöhen eingekränzt.

Jäher Wechsel: pudelköpfige Birken; Fettgras; Lichtes; Laubiges; Wipfelungen – dann geholzter Schwarzwald. Die Stille wie geladen.

Verwehter Ginster. Verlorene Bergflüsse. Herbe Seligkeiten. Ab von der Welt.

(Schottland.)

X

Ich komme nach Aviemore …

Bei Aviemore ist's nördlich – noch nicht nordisch. Hier entfaltet sich das Genie der Sprödheit … am hinreißendsten; von allem, was ich sah. Man spürt's in Fingerspitzen und Nerven.

Braunviolett neben dem Grün. Haideglocken. Seevögel über dem Binnenland hausend, nistend, auf Pflöcken hockend … Schwalbenschrei, Möwenruf, Kleinvogelgepieps – alles am langgestreckten, dunklen Haidebergsee.

 … Ein Haus, von Höhen umeinsamt.

XI

Schottland ist die Verzehnfachung der deutschen fast ebenen Haide. Warum?

Der Mensch empfindet hier fern das Meer und nah die schweigenden Ketten.

Himmlisch, in der Luft, in dieser Wildfrische sich selber ganz still zu fühlen.

Alles ist starr – doch voll saftscharfer Lieblichkeit. Waldig-allein; mit vereinzelten Lärchen, Birken, Meervögeln. Oft wie verstorben-windruhig; gläsern. Die fliegenden Schreie weit von oben. Am Moor dunklere Wasservögel. Und hier …

XII

Wie schwarzschillernde Tinte blickt heut', am Morgen, der Haidebergsee. Ein lichtlos verbleichendes Vormittagsdüster auf bebuschtem Bergrand.

Wo sonst Schwarzgrün ist und Braunrot – da herrscht … Schwarz. Die Erde hält den Atem zurück.

Am Bug der Berghaide wittert was Dräuendes.

Schlafstille – bis auf etliches Einzelgeflöt … und ein fernes Hundchen.

XIII

Ja, alles wie verbleit. Benachtet. Schattenstreng.

Dabei frische Weichheit in der Luft. Am Wasserrand wilde Rosen.

(Abermals einsame Widder, schwarzköpfig, schwarzfüßig  … doch leuchtgelb schwerbehängt – mit Fransen bis auf die Erde.)

XIV

Was ist Schottland?

Schottland ist ein grübelnder Garten. Von lautlos geheimer Fülle. Verborgene Wildnis, Einsiedelung, in sich versenkt. Was Verstocktes, Blinzelndes, – Einziges.

Glanzlos, abgeschieden – mit Krumenhauch und Salz-Ahnung. Nicht barsch  … nur verschlossen. Mit Purpurschimmer. Mit Gesträuchen voll Minzeduft. Mit hängendem Reichtum. Das Wundersamste nach dem Meer.

Der Mensch kommt hier zur Rast … mit seinem Rätsel.

(Das ist Schottland.)

XV

Nicht weit von Aviemore ist Allt-na-Criche. (Die Schotten sprechen das »ch« wie wir.) … Dort liegt, im herbholdesten Teil des Hochlands, das abseitige Besitztum eines in Deutschland Geborenen – der siebenundzwanzigjährig nach England verpflanzt ward … und heut im dreiundsiebzigsten Jahre steht.

Sir George Henschel. Mit Brahms in lebenslanger Genossenschaft und Freundschaft verbunden. Der Sänger Georg Henschel haftet im deutschen Gedächtnis – mit seiner edlen, herrlich-dunklen Stimme. Mit gemeisterter Kunst.

Von Klara Schumann oft in Konzerten zu Schumanns Liedern begleitet. Mit ihm sang Amalie Joachim – in meiner Kinderzeit, als der Vetter was Sagenhaftes, jedoch sein Pudel Sever eine Bübchenwonne war.

Ja, in dem »dear, old picturesque Breslau«, – wie der Siebziger nach einem glückreichen Leben in dem Buch »Musings and Memories of a Musician« es lächelnd nennt.

XVI

(Er schildert nachdenklich den Engländern die alte Schuhbrücke, wo er schräg von unsrem Wohnhaus zur Welt kam.

Ich weiß noch: seine Schwester Hedwig war damals ein schönes, lindes Fräulein mit besänftigenden Augen. Er selbst ein fortreißender, mannsschöner Künstlermensch. So hat ihn Sargent gemalt; und in Lenbachs Bild von seiner Tochter, heut Frau Helen Claughton, gewahrt man die Züge dieser schönen Menschen wieder.)

Die schlesisch alte Singakademie steigt auf … Mit achtzehn Jahren singt er vor Konzerthörern in Leipzig bei Riedel den Hans Sachs, mit seiner adligen, tiefen Baritonstimme.

Wer ihn irgendwann mit seiner verstorbenen ersten Frau, der großen, zarten Künstlerin Lilian Henschel, einst Fräulein Bailey aus Boston, mit Entzücken gehört hat, der begreift, weshalb ihn die Briten zum Nachfolger der Jenny Lind am londoner Royal College of Music ernannten  … Die Briefe, die Brahms an ihn gerichtet, wurden früher schon deutsch veröffentlicht.

XVII

Ein begnadeter Mensch – auch wenn er nie ein Sänger von solcher maëstria gewesen wäre.

Drei Jahre lang hat er das berühmte, von ihm geschaffene Symphonieorchester in Boston geleitet, ging zurück nach England, war ein Freund von Whistler, der Alice von Hessen, Hans von Bülows. Fast mythisch: oft bat ihn Robert Browning, Händel zu singen … Edward VII. hat ihn verwöhnt; die alte Victoria ihn zum »Sir« gemacht. Burne-Jones war sein Freund. Und in die Frühzeit bis in den Abschnitt, wo er als Dirigent London für deutsche Musik reifer machte, blickt immer Johannes Brahms … ein Leben hindurch.

XVIII

In dem Dorfgasthof von Lynwilg am Loch Alvie nahm ich einen Wagen, fuhr durch einsame Schmalwege mit Hecken, rechts von dem Luchwasser, an Moor und Trift, im Abendschatten der Bergzüge, bis an sein Haus – und trat unangemeldet ein.

Das erste war eine nurse. Dann Helen Claughton, mir unbekannt; nie erblickt. Das Haus liegt in einer Fülle von Hochlandsschönheit. Ein ganzes Anwesen. Im Freien ist ein »Beethoven-seat«; eine Beethoven-Bank vor den Bergen.

XIX

Georg saß, als wir hereinschneiten, am Flügel in seinem Studio, einem besondern Bau. Er spielte seiner kleinen Tochter (von der zweiten, sympathisch-sorglichen Frau, das Kind ist zwölf Jahr) eine Sonate von Beethoven. Ich kann alles das kaum beschreiben.

Vor dreißig Jahren waren wir uns zuletzt einmal begegnet. Nichts mehr gehört. Alle Zwischenglieder längst verstorben … Ich sah nun einen Siebziger, mit dem alten, lockig-buschigen Haar. Aus ihm blickten verschollene Familienbilder – und er schien wahrhaftig nicht älter als wenige Vierzig; ganz noch in seiner gebändigt feurigen Kraft.

 … Er sprach: »You look like your mother.«

XX

In diesem Raum, wo der Flügel stand (und Höhen hineinblickten), waren auf großen Gemälden Phantasiegestalten mit Goldgrund. Rings eitel Schönheit.

In andren Räumen hingen Bilder, die Brahms, als er noch keinen Vollbart trug, ihm gesandt; ein den Heutigen fremdes Gesicht.

Andenken sonst – aus einem sonnenträchtigen Dasein.

Am nächsten Tag … Ist es möglich? Als er am Flügel saß; als die macht- und zaubervolle Stimme, die man dreißig Jahre lang im Gedächtnis behalten, wieder in jener tiefen Herrlichkeit erbrauste; wie aus entrückter Zeit; und wieder in die Seele drang … da kam einer der Augenblicke, wo man den Kopf senkt.

Ein Künstler bis in die Fingerspitzen saß hier – ungealtert. Ich werde das nie vergessen. Das Bewußtsein des Vergänglichen war wie ein süßer Schmerz.

XXI

Schön wie Gesang ist solche Lebenskraft … Auch Helen scheint vom gleichen Blut – Tochter dieses Vaters und ihrer unvergeßlichen Mutter.

Sie sang Debussy. Mit leuchtend-beherzter, glückjauchzender Kraft. Sie steht in den Dreißig. Ihr Schwiegervater ist der anglikanische Bischof Claughton.

XXII

Wir schritten durch die Zimmer. An der Wand hing der verjährte Stahlstich eines älteren Mannes … aus dem Zeitalter, wo es noch keine Photographie gab. Dies selbe Bild hängt bei mir im Grunewald: das lächelnd innige Gesicht, im väterischen Graurock, der Kopf voll dichter Locken. Das Bild seines Großvaters, – der mein Urgroßvater war; aus der Zeit um 1820.

Seltsam. Ich hatte von dieser britischen Reise manches erwartet, aber nicht, meinen Urgroßvater auf der Hochhaide wiederzufinden.

Noch weniger die durch nichts zu erschütternde Tatsache: daß ein Bischof mein Kusäng geworden war.

Die Welt hat für mich keine Wunder mehr.

XXIII

(Der Bischof wird es überstehn … Aber ich? –?)


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