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I
Das Erzbild der Freiheit wurde puppig, schmächtig, winzig im Salzduft. Die Wolkenhäuser verschwebten. Ich stand auf demselben wunderschönen Fahrzeug, auf dem ich gekommen war. Auf dem Schiff »Resolute«. Es war der Abschied.
Das Schiff ging durch den Mai glatt und friedfertig. Die Menschen darauf machten in dem Brio-Satz des Lebens eine Fermate. Das Unterbrechen der Hast – in schwelgerischer Einsamkeit auf der grünen Weltsee.
(Hier traf ich Fritz Kreisler unterwegs; er zog, auf immer, nach Deutschland. Für eine Woche sank ihm die Last von den Schultern, der Erste seines Feldes zu sein … Es ist eine Last.)
II
Menschen wimmelten, schrieben Briefe, schmausten, tanzten, lachten, erörterten, aalten sich. Meist Amerikaner. Auch Kinder und Alte.
Oft im Sonnenrot scholl am frühen Abend holder, vorsommerlicher Lärm des Schiffes.
Alles das war beglückend und rätselhaft.
III
Newyork schwand. Ein Erdteil schwand, – welcher die Ablösung vollziehn wird. Ein Rudel von tief aufreizenden Tagen schwand. Ein Gipfel des Hierseins schwand.
Der Rest war Staunen.
Und ein neues Lebensgefühl.
IV
Was auf dem Schiff beim Einschlafen dämmert … ist es das Erinnern an ein Land »ohne Seele«? Seid still – das bleibt ein altes Unrecht; ein alter Unsinn; ein altes Nachsprechen; ein alter Hochmut. Die abgeleierte Walze: »Zivilisation … aber nicht Kultur«.
Als ich zum erstenmal hinüberging, war mein Eindruck: »Sie werden nicht eine Kultur kriegen, sondern eine noch größere Kultur kriegen«. Das wurde nun doppelt klar.
Ich weiß, was auszusetzen ist. Und wenn man es nicht wüßte – Amerikaner hätten's gesagt. Grenzenlos überwiegt aber Starkes, Niegesehenes, Einmaliges, Geniehaftes.
Lest so ein Buch, jetzt veröffentlicht, worin Dreißig von drüben kein gutes Haar an ihrem Land lassen. Sechshundert Seiten – und kein gutes Haar. »Civilization in the United States«. Junge, tapfere Köpfe darunter. Auch Henry Louis Mencken aus Baltimore, deutschen Stammes; der Großvater kam von Leipzig. Sein Genosse George Jean Nathan, in Fort Wayne geboren, Sohn eines Elsässers. In ihrer Zeitschrift »The Smart Set« durchlichten sie manches Grau.
Ich sehe die zwei noch in meinem Hotelzimmer. Mencken, ein flausenloser Mensch, fast eine Pflanzergestalt, unbekümmert, erquickend. Nathan, ein hübscher, kluger Kerl mit dunkel-gutherzigen Augen in dem wohlgeschnittenen Rundkopf. Die zwei wackren Wahrheitssager sind nicht unbeliebt, sondern beide geachtet – aber nicht volkstümlich.
V
Ich sagte zu Mencken lachend: »Sie sind in Amerika das enfant terrible«. Er sprach in gebrochenem Deutsch: »Fast schon der Greis terrible!« Er ist nur zweiundvierzig. Sein etwas jüngerer Gefährte macht in Newyork peitschende Theaterkritik – er sieht anders als die Eingeborenen. Mencken schrieb ein Buch über Nietzsche, eins über die Sprache der Amerikaner … und manches Tausend Sätze gegen herrschsüchtige Beschränktheit. Daneben der schon genannte Ludwig Lewisohn. Ihr Mittel zur Besserung ist: Schwaches beim Namen zu nennen.
(Mencken hofft auf das Anwachsen einer amerikanischen Geistesaristokratie – zwischen dem Schriftsteller und der Masse. Ludwig Lewisohn verwirft »the brutal romanticism of success«. Er urteilt hart über »eine Gesellschaft, die Edison stärker verehrt als Emerson«. Entschuldigen! Wenn ich die Wahl habe, ob es kein Telephon geben soll oder kein Buch von Emerson – ich streiche den Emerson. Der Kerl ist mir überhaupt zu salbig.)
Wollte sagen: diese drei wertvollen Vorreiter, jene Dreißig mitgezählt, haben recht – aber sie hausen den Dingen zu nah. Der neue Umriß in seiner Geniemacht entgeht ihnen … Das beweist nichts wider sie. Noch beweist es etwas für mich – wenn ich's besser sehe.
Denn alles ist relativ. Sie, als Amerikaner, tun gut, ihre Landsleute mit Schlägen zu fördern. Ich, als Europamensch, tue gut, meine Landsleute mit Hinweisen zu fördern.
Mein Vorteil ist, daß ich von anderswoher komme. Mit ausgeruhtem Blick für Unterschiede … Die Einzelheiten trüben jedes Bild. Ich hatte nicht Zeit, ärgerlich zu werden. Amerika ist für mich eine Leidenschaft.
Ergo: Ich betone, rechtens, die Wunder eines, zum Glück, noch jungen Erdteils. Sie betonen, rechtens, die Mängel eines, leider, noch jungen Erdteils.
Wir sind Freunde.
VI
Was reden die meisten in Europa? »Land ohne Seele?«
Soll ein Land ohne Seele sein, das Deutsche, Kelten, russische Juden, Lateiner, Slawen umschlingt – somit Europäer; Ostasiens Geblüte nebenbei?
»Ohne Seele!«
Der lebensgefährliche Schwachsinn des in Bausch und Bogen arbeitenden Schmusses, des Rassen- oder Hexenglaubens zeigt sich noch einmal hier in allem Jammer … wider den zukunftsvollsten Erdteil.
Es bleibt ein Hokuspokus von Schwindlern. Von Hassern aus Unterlegenheit.
Hat ein Volk, das die Sehnsucht nach einer Seele spürt, nicht eine Seele? Merkt ihr sie nicht bei jeder Begegnung hier hundertmal, in hundert Augen? Fühlt ihr sie nicht im Herzschlag dieser einzigen Stadt? Nicht in ihrer Hilfsfreude? Spricht Seele nicht in dem furchtlosen Handgriff, der für die Ärmsten das Tor zum Aufstieg öffnet? Spricht Seele nicht aus einer neuen Schönheit, hier in die Welt gesetzt? Aus einer neuen Art von Lachen und Wucht? Aus dem nie beirrten Mut zum Ungewohnten? Liegt nicht Seelenkultur in der schlagenden Kürze des Ausdrucks? Ist es nicht Seele, gegen Frauen lind zu sein, dennoch fern von Laffentum und Affentum? Ist eine Musikstadt hohen Ranges wie heute Newyork denkbar, wo Seele nicht herrscht? Begreift ihr denn Werdendes nicht – nur Glatt-Fertiges? Ist jene Mischung von Gefühl und Technik, welche dort sogar auf den Brettern winkt, nicht Seele? Ist es nicht Seele, wenn das Theater vom Effekt zur Echtheit geht? … Ein Bankrotteur, gleich Wilson, ist in Amerika unten durch. Wenn ein deutscher Bankrotteur weiterhin das große Maul haben darf – das ist Seele.
Wenn Raubtierstaaten Europas ein edles Land wie Deutschland im Frieden erdrosseln – das ist Seele.
VII
Amerikas Menschen sind Kinder. Im großen und ganzen: offenmütige Kinder. Ein Schriftsteller sagte mir drüben: »Ich zwang die amerikanische Zeitungswelt, mein Buch zu besprechen … denn ich schrieb in der Vorrede: Amerika wird es totschweigen.«
Ich sprach: »Bei uns, lieber Herr, würde das Buch trotzdem verschwiegen; – Ihr befindet Euch noch im Anfang!«
Kinder sind sie; haben alle Hände voll zu tun, um z'erscht amal den Reichtum des Landes irgend unterzubringen. Das andre kommt.
Kinder; heute noch adelshungrig, kastenlüstern – jawohl. Aber sonst? Zur Tat entschlossen; voll sommerlichen Übermuts; folgerecht; mitten im Aufstieg. Mitten im Glanz.
VIII
Ein Amerikaner lobt mir die Vortrefflichkeiten der deutschen Stewards. »Denn«, spricht er, »wenn ein Amerikaner Steward ist, will er gleich Obersteward werden; und ist er Obersteward, will er ein Hotel aufmachen. Die Deutschen aber, wenn die einmal Stewards sind, bleiben sie Stewards – und sind vorzügliche Stewards« … So dieser. (Ich weiß nicht, ob es stimmt.)
Lange Zeit in einer Stellung verharren, gilt dort kaum als Ehre. Nach dem Gesichtspunkt: Was kann an dem Kerl schon dran sein; immer in derselben Stellung! …
Der Organisator eines großen Blatts drüben war die längste Frist seines Lebens in der Standard Oil Company.
IX
Kinder, denen es gut geht. Morgens gibt es für einen geringen Preis (denn was sind ihnen sechzig cents) folgendes Frühstück: grape fruit – Saftkreuzung der Zitronenorange; Weizencream mit fettem Rahm; Eier auf Schinken; schwere Milch.
Auch das Essen wirkt auf die Seele …
Schwammigwerden droht aber nicht. Die Hast hindert die Mast.
Oder: um einen Dollar und fünfundzwanzig cents, also fünf Mark für sie, kriegt man folgenden Abendschmaus: Austerncocktail, dann frische Bohnen, dann wieder gebackene Austern, dann französisches Rostbeaf, Spaghetti, Weinkraut, Erdbeeren mit Schlagsahne – hinterdrein schwere Milch.
In manchem Gasthaus fand ich bei jedem Gericht die Zahl der Kalorien vermerkt.
Item, die Seele festigt sich, wo Austern Volksnahrung sind …
Nach einer Automobilfahrt am Hudson aß ich mit dem lieben Mr. Wardlow und seiner lichten Frau in einem fast altfränkischen Hotel, ältlich, behaglich, am Park – alles gestuft, von den clams an, also Muschelaustern, klein wie ein Markstück, bis zum Schluß mit dem whipped cream. Gestuft; nicht fresserisch-kulturlos. Verachtet mir die Atzung nicht …
(Sonst freilich ist in Amerika zwar der Eßstoff ersten Ranges; die Zubereitung aber mittel. Sie haben halt keine Zeit; Tempo, Tempo! … Wird noch.)
Das Trinkverbot steht auf dem Papier. In Gesellschaften bekam ich cocktails auf der Grundlage von Whisky, Gin, Rotwein, Wermut, Ananas. Mancher läßt sich von seinem Gärtner das Bier brauen.
Amerika ist also mitnichten »dry«. Immerhin: schon der Versuch zur Trockenlegung eines Hundertmillionenvolks zeigt Entschlußkraft stärksten Grads. (Grillparzer: »Das Unkraut, merk' ich, rottet man nicht aus, – Glück zu, wächst nur der Weizen etwas drüber.«)
X
Und die Presse? – In Deutschland ist mein Standpunkt so:
Die Ankläger der Zeitungswelt sind mir ein dümmeres Ärgernis als die Ärgernisse der Zeitungswelt …
Weil das Gute doch weit überwiegt.
Schafsdumm, wenn jemand Eisenbahnunfälle triumphierend aufpickt, – um zu rufen: »Ich bin gegen die Eisenbahn!« Das gibt es.
Was an Amerikas Presse zu tadeln ist, haben die Dreißig getadelt.
XI
Die Fahrt blieb still.
Alle Gier, sich zu betätigen, von dieser Stadt geweckt, schwang nach. Manchmal im Einschlummern, wenn das Geräusch durchfurchten Wassers mit einer gewissen Schwebelust Hochzeit hielt, dacht' ich an tausend Unvergeßlichkeiten. Etwas fiel mir auf.
Ich mußte lachen. Ich weiß exempelshalber, daß Geschäfte dort endlos offen sind; daß Lohnarbeiter kaum Urlaub kriegen … und dies und das. Ich zeigte schon, wie der Kapitalismus hier zum Gipfel klimmt. War alles in mir von Tatsachen und Leistungen übertäubt?
Nein.
Aber was ging innerlich vor? – Dies:
Ich sah Bäume mit ungeheuren Wipfeln … man denkt (in solchem Augenblick des Staunens) nicht daran, daß ihr Laub Gräsern die Sonne sperrt.
Ecco.
Ich sah die Dinge (nur in diesem Fall!) nicht als Ethiker. Sondern als Maler.
Seltsam. Oft wenn unsereins über den Rasen schreitet, dauern ihn die Halme. (Man fühlt Schmerz, daß man dabei Seligkeit fühlen kann.) Vergaß ich das?
Ein Vers, in der Schulzeit gedichtet, ging mir durch den Kopf; knabenhaft, grammatisch anfechtbar … doch voll innersten Ernstes:
Ich bin ein Mensch, der, wenn ich ruhevoll
Und froh zurückgelehnt im Wagen sitze,
Noch an den Schimmel denke, der ihn zieht.
War das weg? – Nein …
Es sprach leiser.
XII
Warum?
Weil auch die Ärmsten dort stark und hoffend sind. Weil ihr Herz nicht erwartungsfern ist. Weil sie zwar im Schmutz wohnen, aber nicht im Unglück. Weil Aufstieg vor ihnen dämmert. Weil noch im Dreck der Bowery das Bewußtsein fluschend-reicher Fülle dort ein Trost wird. Weil mancher seinen Teil davon morgen bezähmen kann.
Ich glaube: die Summe der Qual ist in Deutschland größer für den Einzelnen. Sie war es vor dem Krieg. Es gab in Deutschland (bei mehr Staatsfürsorge) mehr Demütigung.
Ich glaube: der Pennylose drüben atmet herzhafter als der Kleinbürger bei uns.
XIII
In Cuxhaven erfuhr ich Huldermanns Tod. Undenkbar! … Wir hatten vor der Abfahrt zuversichtlich geredet – im Hapag-Bau (von dessen Stirnseite der Spruch: »Mein Feld ist die Welt« nur vorübergehend geschwunden ist).
Da starb ein schweigsamer, prachtvoller Mensch, mir freundschaftlich seit einem Jahrzehnt verknüpft. Zwischendurch schrieb er mir von Plänen für die Zukunft. Einmal, als er in London, umschwirrt von Arbeit, zu William Turners Bildern schlich, kam er mir doppelt nah.
Derweil ich Lebensvollstes drüben erfuhr, ging unter dem Messer des Arztes sein Leben zu Ende.
Sie haben einen guten Mann begraben.
XIV
Jetzt, als das Schiff am Pier lag, fiel mir zum erstenmal auf, daß unsre Küste nicht aus Fels besteht …
Alles hier war – mehr traut. Hm.
Um Harburg lag die Heide fern im Frühlingslicht. Ich dachte traumdösig an Heideflecken, an Fallingbostel, Walsrode, Soltau – wo wir vor zwei Sommern (weißt du noch?), von der Nordsee kaum getrocknet, uns in der dünnen Sonne gefläzt …
Ich fuhr nach Hause.
XV
Noch einmal zog Entferntes herauf – das Gewimmel, die Dämmerung über Dächern, der Lichtrausch millionenfältig, die donnernd durchraste Stadt unter der Stadt, die Berge von Früchten und Waren, die tickenden Ferndrucker, die Mammuthallen von Wolkenhotels, die Schreibzimmer der Schiffsmagnaten, Börsenschaubilder mit Menschen davor, Eisenbahndome, jagend aufblitzende Lifts, marmorne Schächte des Billionenviertels sausend schwindlige Rapidheit von Zeitungsmaschinen in bläulichem Glanz, Heere von Autos, Mimen auf Brettern, Frauen in Duftkleidern, der stille campus einer Universität, der Friedhof – über allem ein schmeichelndes, klangtiefes, fast klagevolles Negergesumm.
XVI
Deutschland ist ein romantisches Land. Und Berlin (ich hatte das im Mai 1914 gespürt, wie jetzt) – Berlin ist ein Kurort. Ein lauschiges Plätzchen.
Wirkt bei uns das Dasein heute schleichend und klein: so liegt wenig daran, das zu buchen; und viel, es zu ändern – mit aller Kraft.
Glücklichere Tage werden kommen. Wir erleben sie noch.
XVII
Mittlerweile verlangt man aus diesem Gefängnis, das dem Herzen teuer ist, abermals hinaus – in windumwehte Striche, wo der Krieg nichts zertrampelt, der Friede nichts verrottet hat.
Adieu, Newyork.
*
Amerika-Postscriptum
Im Jahr 1914, beim ersten Besuch Newyorks, schrieb ich … Hymnisches.
Für meinen Erdengang war das alles damals, ja, nicht nur ein Eindruck: sondern ein Einschnitt – auf dem Grund einer neuen Entflammtheit oder Verzauberung.
Das damals Geschriebene steht in meinem Werk »Die Welt im Licht« (S. Fischer, 1920. Bd. I, S. 180).
Ich setze davon bloß etliche Stellen her.
Das Mal
Beim Hotel sah ich zuerst ein Wolkenhaus in der Nähe. Nur ein älteres.
Plötzlich stand es da. Ein Beben in den Hirngängen. Sehe dann das »Plätteisen«; Flat Iron. Beide sind nicht die höchsten (Woolworth building, das höchste, hat sechzig Stockwerke).
Eine neue Art von Schönheit; nicht bloß Zweckbauten mit Geprotz und Gehäuf und Massung, sondern: eine neue Art von Schönheit.
Ja, es gibt kein milderes Wort als das Wort Erschauern für diesen Eindruck. Habe vieles in der Alten Welt gesehn: nie so umkrempelnd war das Gefühl wie vor dem frechen Werk dieser Menschen.
Die Hagia Sophia in Ehren; Rom und Florenz in Ehren; die Pyramiden in Ehren; sie entdämmern … Ein Dreiecksbau, mit einem Fenster Front, schmal ins Unendliche wachsend; steilster Mangel an Ehrfurcht. Wie hingefetzt. Ein Steinschnitt, riesengroß.
Schwindel ist es, daß hier Emporkömmlinge prunken. Emporkommende satzen ein Muster.
Klassiker ohne es zu ahnen.
Flat Iron; Himmels-Triangel mit gerundeter Ecke. Steile Vermählung des Schlanksten mit unverrückbarer Kraft. Und hold in dieser Größe, daß man es in die Hand nehmen will. Spielen damit.
Lauter Schreibstuben. Ein Pronunciamento gegen Barbarenschaft. Ein steinernes Mal des »Ja-also!«
Schönheit! Schönheit! Schönheit!
Eine neue Liebe lebt in meinem Herzen; sie heißt: Newyork.
Broadway
Die Straße Broadway ist vier deutsche Meilen lang. Dreißig Kilometer.
Ich kenne den »Strand« von London; beging die Boulevards; zog in Kairo durch die Muski; träumte von Babylon: sie entdämmern. Das war eine Zierlichkeit. Hier kommt ein andrer Rhythmus.
Da ist es ja, endlich. Was man immer sah – und nie gesehn hat. Guten Tag!
Oben, unten, in der Mitte … ein gemeistertes Verkehrsrasen. Eine Genugtuung. Etwas Fliegendes, nicht Schwitzendes. Drei Bahnen übereinander in ewigem Bewerb; unter dem Boden, auf dem Boden, in der Luft. Die luftige gab es schon anno … 1873. Als müde Pferdchen bei uns trabschlichen. Und so lang ist die Straße, daß mir einer sagt: »Wenn ich von Ihrem Hotel zu meiner office rasch gehn soll, ist viereinehalbe Stunde nötig – beides liegt am Broadway.«
Die Mittel von Berlin wirken dermaßen langweilig, … daß man zur Ruhe nicht kommt. Ruhe fand ich hier: weil es rasend geht.
Wir Deutschen sind in der Mitte zwischen Orient und Amerika. Bei den Arabern spielt Zeit keine Rolle. Amerika lebt mit der Uhr in der Hand … Wir in der Mitte.
Will man unter der Straße Broadway dahinfahren, so steigt man, soll es eine kurze Strecke werden, in den Lokalzug. Eine große: in den Expreß.
Expreßzüge gibt es auch senkrecht in die Höhe dort, in den Wolkenhäusern. Expreßzug ist Ruhezug.
Expreß ist: ruhig. Ich öffne den Hahn meiner Wanne bei uns, – einmal wird sie voll. Ich öffne den Hahn im Hotel am Broadway – es gibt keine Unruhe, denn sie hat sich schon gefüllt.
Ich komme bei uns in ein Haus. Der Pförtner kriecht zagend, behäbig heran, zweifelt, ob er wirklich soll, öffnet schließlich den Schacht mit Gründlichkeit … und einmal fahren wir hinauf. Dort aber flog ich im Eil-Lift zum vierundfünfzigsten Stockwerk eines Hauses. O wundersame Ruhe. O Erwartetes! Ich sage nicht: »So steigst du denn … schönste Tochter des größten Vaters … und so … endlich zu mir nieder …« Nicht jambisch.
Aber ich liebe Bahnen, die eilen; Wannen, die sich füllen; und Lifts, die gehn.
Oben
Stand oben im größten Haus der Welt, zu dem das größte Schiff der Welt mich getragen.
Es ist Mai 1914, dacht' ich.
Sah hinab auf die Straße Broadway; sah auf die Bucht. Sah auf nie gesehne Brücken, welche zur Insel Manhattan Festland gliedern. Sah auf den Wirbelfluß mit schwimmenden Bahnzügen, auf tausend lange Dockschachteln, auf andre Wolkenhäuser, auf Rauch, Eisen, Gekribbel, auf Sommerglut, schattige Zyklopenstraßen, verdunstende Fernen. Sah Oien und Seeluft.
Es war im Mai 1914.
Sah Gold und Gestein im Hause selber; denn aus Gold und Gestein und Glück ist es erbaut. Überladen. Ein Kitsch. In der äußeren Gestalt schlimm, weil es Mailänder Dom spielt. Nichts von der geniehaften Sachschärfe des Flat Iron.
Das größte Haus der Welt ist nicht das beste Haus Amerikas. Doch ein zuversichtlicher Schein umfing es. Ein guter Schatten floß hinunter. Die Mittagsluft erklang.
(Es war im Mai 1914.)
Nähe
Was für ein Gefühl ist es, das in den Straßen flattert? Nicht zuvor empfunden …
Womit verbring' ich meine Zeit? Habe die besten Kritiken dieser Läufte gedichtet. Gab Möglichkeiten des Ausdrucks in einer schlafferen Menschheit. Habe für ein bestimmtes Gehölz gebaut, was keiner vor mir. Habe, die Zukunft im Geblüt, Extrakt aus Wassern geholt. Erglühungen geschenkt statt Bürgerlaternen.
Ein Quark ist es.
Man möchte hier einen Laden aufmachen – (weiß nicht, was für einen). Ich will am Broadway die Fron eines Geschäftsmannes ohne Scham … nicht auf mich nehmen, sondern schlucken, schlecken, saufen. Ich will kundmachen – einmal mehr –: daß Scham gleich ist mit Unkraft. Daß Takt gleich ist mit spanischer Blödheit. Daß verecundia gleich ist mit Furchtlüge, mit künstlicher Haltung, mit Vertuschen.
Ich gab Extrakt … und ihr gebt Extrakt.
Ich bin aufrichtig gewesen … und ihr tut euch keinen Zwang an.
Ich habe die Umschweife gehaßt … und ihr seid kurz.
Ich habe mit andrem Stoff gearbeitet: doch ich war Euer.
Ich möchte hier einen Laden aufmachen (weiß noch nicht welchen) – gebt mir die Hand.
Cocktails
In einem Zimmer, über dessen Glasdecke Menschen der Straße gehn. Einmal auch draußen am Fluß bei Ben Rileyé, wo ein betagter französischer Kellner im Exil haust.
Cocktail: immerhin eine Zusammendrängung. Keine Lorke. In einem folgendermaßen der Inhalt festgestellt: Gin, Orangensaft, Zitronensaft, französischer Wermut, italienischer Wermut, Eis.
Romantik
Schichten; Gewimmel, – wo sind Menschentiere so beieinander; so viel Arten aus Käfigen? Was für Pirschzüge könnte man tun. Wieviel Wechsel zwischen Irinnen, Asiatinnen, Sizilianerinnen, Schwedinnen, slawischen Töchtern, Griechinnen, Negerinnen … ich vergaß die dazugehörigen Männer. Also die auch.
Fahret mittags durch die Bowery, – das möchte man halten! Das Dunkle, noch schmutzig Geheimnisvolle derer, die morgen Amerikaner sein wollen, in drei Geschlechtern vielleicht Weltherrscher sind mit Öl, Kohle, Druck, Stahl. Durch solche Quartiere saust man, hinter Tünchwänden mögen sie noch hocken, junge Ahnherren, junge Ahnmädel, im Dreck, versonnen in der Windel-Epoche, in der klebrigen Umschicht heut Namenloser. Man saust hindurch, – verweile doch, du bist so häßlich!
Nicht Chinatown, das ist für Fremde (wie Montmartre, wie der Canalazzo): sondern die urneue Romantik einer jungen Stadt mit ihrem Haufen der Gattungen und Stämme von aller Zeit. Nicht Romantik aus dort heimischer Geschichte, nicht schmales Erinnern an holländische Familien. Sondern an das, was gestern erst von andren Sonnen her, vom Nichts kam, Abtrünnige der Heimaten, Hoffende, die einen Strich unter etwas gemacht, Neu-Seßhafte, Wohlige, Willensschwimmer ohne die bleiernen Stiefel des Zerdenkens …
Unzermalmte, welche die Stoßkraft hinübergerettet.
*
Wollte sagen: diese Romantiken zu verkosten, von ihrem Werdefieber gestreift zu sein, von ihrem Stank beglückt, – das möchte man; und als der verlorenste Lump ein Leben beginnen, auch hier einmal. Einen Streit auftun; einen Kamm wiederum erklettern … unter einem andren Mond, an einem andren Meer, mit andrer Menschheit. Von vorn – das Endgiltige vorbereiten.
Erst noch ein Lebewohl sprechen. Einen Trank trinken. Einen Quell fühlen. Dann die Stirn wenden. Alles noch einmal.
*
Meinen Samen in diese Furche.
Das Auge
Jaget über die Williamsboroughbrücke, nachts. Schlürfet Lichter, Tempo, diese Tausendfaltigkeit, diese Flut, diesen Wildnisgesang, diesen Stahl, diese Viertelsnester oben, unten, jenseits; diesen Chor einer Siedelung in Erde, Wasser, Himmel – schlürft es; mit allen Strahlwerfern, mit allen Toren und Gerüsten, mit allem Gestein erleuchteter Senkrechten, mit allen Sternen darüber, mit allen Seelen dahinter, mit allem Salzduft dazwischen: Magischeres gibt es auf der Erde nicht: Kunsthafteres nicht; Musikmächtigeres, Phantastischeres nicht: als diese Kaufgeniestadt ohne Vorväter, ohne Szepterschauten, ohne Greuel, ohne Kostüm, ohne Kratzfuß.
Im Nüchternsten steckt alle Romantik.
Ein Lunapark … Dieser Lunapark ist aber eine Stadt, liegt so fern wie Oranienburg von Berlin, heißt Coney Island. Lichtstadt; durch eine Titanenallee tost man vorher, die niemals endet. Weit am Himmel, kilometerfern, taumeln und glühen alle Strahlwunder, schwebend, witternd, funkend, ah, schon schreiend, schmelzend, surrend, fliegend, äugend.
Eine Traumkraft gewordene Vogelwiese.
Coney Island: Rummelmagie mit der Mammutkrone von Wolkenfeuer.
Niagara
Man spürt zwar, wie jämmerlich die Landschaft verhunzt ist. Irgendwo Fabriken hingesetzt, Turbinen, schnöde Nutzgerüste, knotige Zweckbrücken.
Verhunzt. Der Sinn für Landschaft geht ihnen kaum, die Zeit hierfür geht ihnen ab.
… Es ist ein Halbkreis von Fällen … Einmal steigt man in die Tiefe. Derart, daß man im Hohlraum unter, unter, unter den Fällen steht … Die Wasser donnern über einen hinweg. Und das ist …
Das ist von allem, was einer hier an Schauern und Gewalt und Glück und Furcht erleben kann, das Stärkste mit. Tief unten stehn, den Hufeisenfall über sich wegrauschen lassen: das ist es. Ölstiefel an, Ölhosen an, Ölhut auf, Ölmantel an. Der Fall stürzt tiefer, als mein Standpunkt ist. Verwehter Feinregen immerfort angepeitscht. Zwei Schritte nach vorn, das ist der Tod. Über mich schräg, rundlich, hohl, ein Weltwesen, eine geschossene Kraft. Und wenn sie allein wäre. Doch sie kreuzt sich unten in breiten, offenen, flachen Schlünden mit andren rasenden Ewigkeitstieren, weißlich, donnernd –, oben massig, unten tobsüchtig, sie gurgeln, peitschen, fetzen in einen Schlund, dieser Schlund ist wiederum Wasser, Felsgebirge zermürbt daraus hervorächzend. Vom Hufeisen oben stürzen sie alle trennungslos herab und zerfleischen sich dann, zerreißen sich, erbrüllen sich, – unter ihnen abermals Wasser. Eine nie gesehene Schlacht. Seit Jahrmillionen dies Gepeitsch. Dies Gesprüh'. Ohne Pause. Ohne Nachlassen. Dies Gebrüll. Dies Gekreisch. Dies Gepfeif. Dies Heulgezisch. Dieser wandergepustete Dunst. Seit Jahrmillionen dieser fegende Schaum. Dieser Rasetod. Dieser Kochwirbel. Es ist die Hölle.
Die nasse Hölle. (Die andre sah ich, als meine Augen in den Vesuvkrater blickten.)
*
»Kultur«
Um den Dreißigjährigen Krieg hat ein Franzmann die dumme Frage drucken lassen: »Kann ein Deutscher ein Schöngeist sein?«
Mit gleicher Dummheit fragen jetzt in Europa viele: »Kann Amerika – nicht nur eine Zivilisation haben, sondern eine Kultur?«
… Ließen sich die Menschen so gern verarbeiten von dieser werdenden Gewalt, hätte sie keine Seele? Seid ihr bei Trost?
Kürze zu haben im Ausdruck – ist es nicht Kultur? Begriffssparsam sein in allen Bekundungen des Lebens; als Entsender sich die Psyche des Aufnehmenden klar vorzustellen – ist das keine Kultur? Ein Inserat abzufassen wie ein Drama? Neue Schönheiten in die Welt gesetzt haben, neue Male der Wucht und Knappheit, neue Muster physiologisch guten Aussehens und der Freude und der trocken-spaßigen Zuversicht (allerdings neben Sektenschund), ein neues Glück in der Ehrlichkeit zu schaffen, womit endlich einer zugibt, Geld verdienen zu wollen … ist das nicht Kultur?
Sie sind keine plumpen Riesen. Sondern flinke Riesen. Sie sind vollends zarte Riesen – halten es für eine Schande, roh zu sein. Halten es für lächerlich, Soldatenschnauzton, Affenflitter, Livreeprunk auszuhängen. Hoch blüht … schwerlich die Vergötterung der Frau, doch Schutz der Frau.
Wer »Ja-also!« sagen kann, der hat Kultur.
Schönheit der Frauen; dies freundliche Bestecken eines werten Geschöpfs mit allem, was gut ist. Fünf Kinder zu machen und für sie zu schuften. Auch wenn Millionen gehäuft sind, den Sproß zu enterben, der sich drohnenhaft zeigt … Seid unbesorgt, das ist Kultur.
In den öffentlichen Blättern wird allerdings das geheime Leben des Einzelnen nicht geschont; dafür ist bei uns geheimer Verleumdungsklatsch – ohne Erörterungsmöglichkeit. Niemand kann ihn fassen.
Beginner sind sie. Noch dabei, ihr Haus zu decken. Sie werden … nicht eine Kultur kriegen, sondern eine noch größere Kultur kriegen.
Sie haben den Niagara verhunzt.
Doch wenn sie einmal anfangen, sich auf das Hätscheln der Geographie zu werfen: dann leisten sie Mammutwunder nie gekannter Art.
Dann wird ihre Naturpflege vergaurisankart sein, – und sie werden viel zu pflegen haben.
»Können Amerikaner Kultur bekommen?« – Habt ihr eine?
Dank
Rousseau warf das Tiefste seines Inneren auf ein Jungfräuliches, Leeres, Vorgeschichtliches. Ich warf es auf ein Jungfräuliches, im Umriß Erfülltes, Kommendes.
Herrlich in der Ungewordenheit; heilig im Geahnten.
Eine neue Liebe lebt in meinem Herzen.
Danke dir, Eli, Eli, daß ich dieses Land gesehen, bevor mich ein Ziegelstein traf.
So geschrieben und zuerst gedruckt am 1. Juli 1914.
*