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London nach dem Kampf

 

I

Ich kam aus Amerika – und ging nach England. Wieder eine angelsächsische Welt? Sind London und Newyork nicht sehr ähnlich?

Die stärksten Gegensätze.

Nach einem herrlich maßlosen Land … das besonnenste. Nach betäubender Jugendwildheit … strenge Form des Geschäfts. Nach dem Volk ohne Ferien … ein Volk mit week end.

Newyork ist voll Neu-Gier … London gesetzt.

Newyork farbenheiß … London ein Nordplatz.

Newyork ist nebenher die Stadt der vielen Autos; London die Stadt der vielen Busse … Londons Börsenviertel zeigt Andrang – doch nicht blutaufreizendes Rasegewimmel wie Wall Street und Broadway.

 … London: das Talent. Newyork: das Genie.

England hat eine Geschichte; Amerika eine Zukunft.

Vom Krieg ist Amerika kaum berührt. England gestreift. Frankreich verwundet. Deutschland zerfetzt.

 

II

London riecht, immer noch, nach drei Dingen: nach opiumsüßem Tobacco; nach Eiern auf Bratspeck; nach Lamm. (Während Frankreich stets nach petit caporal roch und nach Anis – vom Absynth.)

Immer noch hat London seine herrlichen Häuser aus dunkelndem Gestein … worüber was Weißes hinabrann. Wetterfest; gebändigt; erdüsternd. In Park Lane hinreißend. (Architektur der Geborgenheit.)

Fern hiervon die Häuserchen von Hampstead, aus dem Ei gepellt  … alle fast aus demselben Ei. Fern wiederum davon Whitechapel.

 … Abends Piccadilly, Coventry, Haymarket – gedrängter Glanz. Gesicherter Glanz.

Immer noch die zottigen Löwen unter Nelson. Immer noch die Wallwände der Towerburg, gruselig senkrecht – mit dem Schafottplatz, wo Ann' Boleyn ihre abgebrauchten Lippen samt Umgebung verlor.

Unter dem Harnisch des Gemahls hängt aus Eisendraht sein Jumper.

Der Wärterich in roter Maskentracht sagt, mit einer Pupille nach den Eintrittskarten, immer noch: – »'kyou«; nämlich »thank you«.

 

III

Das cab starb aus – der zweirädrige Wagen, wo der Kutscher hinten und hoch saß.

Neue Denkmäler … War Wilhelms Onkel, Edward der Siebente, schon vor dem Krieg errichtet? Jetzt reitet er zu Roß durch die Jahrhunderte – gleich bei der deutschen Botschaft.

Vor Exchange die Säule für die Gefallenen. Zwei Krieger lebensschlicht, mit Gewehr und Wickelstutzen. Nichts Hochtrabendes. Nur zum Erinnern. (Oben ein bescheidenes Löwchen mit etwas gesträubtem Schwanz – als wollte man von diesem traurigen Ruhm kein Aufhebens machen.)

Alles das zwischen Börse, Wellington, Bank von England. Geschäftsgegend gilt ja hier nicht als unheilig.

Für die Gefallenen setzt manche liebende Hand einen Blumentopf an den Fuß des nirgend umzäunten Sockels. Oft einen Feldstrauß. Immer stehn Leute davor. Sehr still. Meist Frauen …

 

IV

Hinter Trafalgar hebt sich, gemeißelt, eine Pflegerinnengestalt. Mit ruhigem Ausdruck in ihrem Schwesternkleid. Das ist Edith Cavell. Erschossen von der Leitung des deutschen Heers. Das Datum ihres Todes ist in die Säule gemetzt.

In Westminster, wo neben Dichtern und Maria Stuart und Darwin der Kopf des uns nicht freundlichen Joseph Chamberlain aus der Wand guckt, – in Westminster liegt heute der Grabstein des »unbekannten Kriegers« aus England: »unknown by name or rank«.

Mit der ewig penetranten Jahreszahl: 1914-1918.

 

V

Das Gewimmel ist stärker als vor dem Krieg. Theater, Brettl in der season für Wochen ausverkauft. Menschenschlangen vor den Kinos … Dabei viel Arbeitslosigkeit; sie kostet Geld. Sehr, sehr hohe Steuern. Ich nannte schon die Straßeninschrift: »Das englische Pfund ist nur noch elf Schillinge wert«. In Rotton Row reiten ein paar Leute weniger. Wer früher acht Dienstboten hielt, hat jetzt fünf. Weil die Zeiten schlecht sind … bloß fünf.

Was man Gesellschaftsleben nennt, ging zurück. Es schlüpft in Wohltätigkeitsfeste. Mancher schafft sein Auto ab – somit ein Zeichen sozialen Elends … Vieles kostet noch um die Hälfte mehr; vieles schon den alten Preis. O, hätten wir diese Not in Deutschland.

Seidne Hemden für Herren zwölf Schillinge. Seidne Schlafanzüge siebzehn (orangefarb und modegelb gemischt) … Mit einem Worte: Not.

Aber die Lebensmittel stehn hoch im Preis – ein Ei kostet in London zwei Kupfermünzen. Hätten wir um zwei Kupfermünzen ein Ei … statt einer Politik, die nicht zwei Kupfermünzen wert war.

 

VI

Frauenkleider in Gesellschaften sind manchmal entzückend schwarz. Tief ausgeschnitten (das Kleid ist eigentlich ein Schulterbandl) – mit schwarzem Umnehmetuch. In Paris gemacht.

Aber das bleibt ein besonderes Kapitel, für Maler.

Um etliche Schillinge gibt es folgendes Mittagsfrühstück: gebacknen Hummer mit Reis und indischer Sauce; dann Roastbeef; frisches Gemüse, junge Kartoffeln, samt pie oder Blätterteig; dann »Erdbeer-Montblanc« mit Eis und Sahne. So täglich. (Hummer ist der beste Koch) …

Stout, der schwere schwarze Trank, schmeckt nun etwas leichter. Immerhin geht er in die Füße.

 

VII

Was ist der Kern? – Zwar mißlichere Zeit … aber ein Land ohne Schuldknechtung. Der insulare Magen behielt den großen Zug.

Die Landschaft ist glücklich – wie zuvor. England bleibt nach dem Weltkampf der gleiche grüne, väterisch-herrliche Garten. Voll laubdicht schwerer Bäume, mit Saftästen, die fast wollpelzig sind. (Das macht die grüne See.) England ist eine einzige, zaubervolle Trift, immer noch. Nicht für Kartoffelbau … sondern für Schönheit. Nicht ein Zweck … sondern ein Anblick. Mit kennenswertem Getier.

Alles im Grunde wohlhabend und heimisch. Immer noch gibt es in England »nur Qualität« (wie der Neu-Märker sagt). Kein Geprotz.

Der Kirchenbesuch soll heut in London schwächer sein als vor dem Krieg. (Das wäre! …) Sonst alter Glanz der Hauptstadt. Flugdauer nach Paris: zwei Stunden. Mit einem Worte: Not.

 

VIII

Als Maler setz' ich noch ein paar Züge her.

Nach Tisch bei Gesellschaften (aber getanzt wird bloß noch öffentlich oder in Klubs) – nach Tisch sondert sich die Damenschaft von den Männern, geht hinauf, über Kleider, Sammlungen, Jungfern, Sport zu sprechen … der Hausherr aber sagt zum Gast: »Rücken Sie näher«. Die Männer bleiben, reden, rauchen.

Immer noch entzückende Häuser für Gäste; zumal am Hyde-Park-corner. Von unten bis oben mit leisem Geschmack betreut. Alles wohnlecker; unauffällig. Zwischendurch manches gute Stück ernsten Gedenkens. Die Damen sind ohne Alter – sie bleiben in der Zeit stehn: seltsam veränderungslos.

Es gibt in London kein häßliches Frauensbild – bei meinem Eid. (Oder doch: die dürre Provinzkreatur mit schmal-knochiger Nase; hinwäch!)

Wer Glück hat, trifft in Abendgesellschaften irgendeine noch junge Gouverneursfrau … von angelisch-komfortablem Reiz.

 

IX

Das Zeremoniell ist nach dem Krieg verringert. Viel weniger Förmlichkeit. Aber Dienstboten eines Hauses, auch ohne butler, verlangen für ihren Eßtisch besondere Blumen.

Der Zylinder schwand … Am Schluß eines dinners gibt es (ernste Sorgen!) statt des Käses heute Röstbrot mit zerschnitzeltem Räucherfisch. »A la Blenheim.« Oder mit gekräuseltem Lachs. Der Portwein wird am Schluß des Mahles gereicht. (Wundervoll war der beim deutschen Botschafter.)

Darin liegen von den englischen Umwälzungen die sichtbarsten; sie sind mit ehernem Griffel hier verzeichnet.

 

X

Vordem krochen Londons Männer aus der Tiefbahn, aus den Kutschen der city, und rannten dahin, oben schwarzglänzend, einer wie der andre. Wie Expressionismen, puppenhaft.

Solcherlei Uniformität ist nun weg – weil der Zylinder schwand. Mancher im blauen Jackenanzug trägt allenfalls diesen top-hat, mehr nach hinten. Wohlhabende kaum. Selbst abendliche Londoner im Frack hissen die Melone. Betagte Herren zwar doch den Seidenhut. Der graue Zylinder, mit schwarzem Streifen, blinkt nur manchmal im Parlament. Häufiger auf Sportgästen  … Alter Bestand. Gewesen. Vorbei. Um.

(Was vergangen, kehrt nicht wieder, aber ging es leuchtend nieder, leuchtet's lange noch zurück. Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und die Melone blüht aus den Ruinen. Selbst weichgekniffter Filz – das Schicksal will's.)

 

XI

Ein Künstler, der hier herumäugt, findet folgendes:

Die Londonerin ist heute nicht so angemalt wie vor dem Krieg. (Nur Gesichtscreme.) Das Haar trägt sie jetzt über die Ohren … Ganz junge kleinbürgerliche Bälger in schlichter Stadtgegend, siebzehn Jahre, haben kurze Kleidchen, kaum über den Popo.

Kellnerinnen im guten Gasthaus blicken wie Pflegerinnen. Weiße Stirnbinde; mittendrauf ein schwarzer Streif. Schwarze Gewandeln, weißer Schurz. Sind halt hübsche Menschen.

Wichtige Neuerung notleidender Völker: die Ladies haben ein cape genau von der Farbe des Kleides. (Das muß sehr kostspielig sein … Sehr kostspielig muß das sein.)

 

XII

Vorwärts, Maler! …

Regent Street. Was du willst. Zweigstellen vom Louvre. Auch Galeries Lafayette. Unweit: Peter Robinson. Dents Handschuhe. Liberty. Alles da.

Abends üppiger Geschmack. Manilatücher. Gelbe Spitzen … Violettes Kleid – mit ebenso violettem Mantel von Samt. Karminkleid … mit Karminmantel. Pelze! Zobel! Der Schuhabsatz aus nachgemachten Brillanten.

Spinnwebige Schals. Scharlachne Duftmäntel. Scarves für Weiber (das ist die Mehrzahl von scarf).

Und irgendwo Sommerhüte, violett, rosa, geschweift, nicht niedrige Form (o Zeitgenossen) mit tücherartiger Umwindung, stumpfbunt. Auferstandener Gainsborough? Solche Hüte zu vierzehn Schilling. Blaue, ganz durchbrochen, ohne Band, vastehste, sieben Schilling.

Ha, Brokathüte, rotgoldviolett, alles zackigstreifig durcheinanderschießend …

Ein Gewand von blaß-erdbeernem Seidenkrepp. Trug so was Ernest Cassels Enkelkind, Lady Mountbatten? jetzt mit dem Vetter des Königs getraut, – und »Queen kisses the bride« schrieben dick die taktvollen Blätter; »Königin küßt die Braut«  … »Richest girls wedding«.

 

XIII

»Schließt, Augen, euch« … Umhänge von fellartig bunter Seide, flausch-locker bestickt, rosagoldviolettgrün durcheinander; himmlisch. (Notstand) …

Und ein braunes Schleierkleid mit weich-metalligen Fäden in Gold-Grün-Brennendrot, diese Farben auf dem zarten Braun wie Flammen erglühend; ausgreifend; leuchtlodernd. Die Netzhaut singt.

Musik für Künstler.

Das hellgrüne Wams dort, mit Schmalgürtel, und vorn hängt einfach was breit runter, ein grüner Samtfleck – huch!  …

Lichtblau, handbemalt … Und hier (o Whistler!) ein still Ersterbendes in adligem Grau. Matte Silberspitzen …

Dann, hinwiederum, herzhafte Kimonos; kiek! Und Chinesenschals; exempelshalber der ganz schwarze, der stumpfschwarze, bedeckt mit seidnen, seidnen, seidnen Apfelblüten … Fest haltet's mich!

 

XIV

Die High Street von Whitechapel hat stärkeren Betrieb als vormals. Auch Cambridge road, nebenan. Oder Houndsditch, wo Bolschewistenvorläufer sich einst verschanzten … Whitechapel ist nun gradenwegs eine breit-helle Schmuckstraße. Mit frischer Luft; mit frischem Leben. Und halb so schlimm wie sein Ruf. (Bin früher manchmal im Abendanzug heil hindurchgegangen.)

In Whitechapel fand ich die englischen minstrels von ehedem wieder: Straßensänger – mit rotbemalten Nasen und Backen. Tanzen, singen zur Guitarre, zur Trompete.

 

XV

In Whitechapel geht das Blatt »The Comunist« um. Hoffnung für die Arbeiter in der Dritten Internationale. Sie lachen, weil alles auf Geld hinauskommt … Bilder gibt's hier, wo der Bergmann vom Sozialisten verlockt wird, dem Unternehmer »die Hand zu reichen« – bis der ihm Hand und Arm ausreißt.

In Whitechapel schmettern die economic slaves, Wirtschaftssklaven, ihr eignes höhnisches Lied, mit dem spottenden Schluß: »God save the king«.

Mittendrin eine Methodistenmission. Unweit Schauspielhäuser mit jüdischem Theaterzettel.

Namen: Silberstone; Deitsch; Freedman. (Gleich dem Müller, der sich sofort Miller; gleich dem Schmidt, der sich sofort Smith nennt.) Viel hebräische Schilder. Vor einer Brauerei die lange Tafel der Gefallenen. Wieder die Zahl: 1914-1918; uäh!

 

XVI

Marktgewühl … In Whitechapel wird besseres Gemüse, mehr Fischkreatur, mehr schieres Fleisch verkauft als auf dem Bauernmarkt von Halensee.

In Whitechapel sieht man zerdachte Gesichter. Auch grimm-energische; lebensvoll; mit ungeschwächtem Trieb; noch nicht vertreibhaust … Bildschöne Frauen darunter; blühgesund; schwerwandelnd.

Aber die jungen Mädels, die lachen. Manche mit kostbarem Antlitz über dem Umschlagetuch.

Kleine Kalle! Schicksel, holdes! die Königin wird dich küssen – wenn du viel Geld hast.


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