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Die vier kleinen Dörfer, etwas südlich vom nördlichen Polarkreis gelegen, welche unter dem Gesamtnamen Anadyrsk bekannt sind, bilden das letzte Glied der großen Kette von Niederlassungen, welche sich vom Ural bis zur Behringsstraße erstreckt. Dank ihrer isolierten Lage und der Reiseschwierigkeiten in der einzigen Jahreszeit, während welcher dieselben zugänglich sind, waren sie vor unserer Ankunft erst einmal von einem Fremden besucht worden, und zwar im Winter 1859/60 von einem schwedischen Offizier in russischen Diensten, der eine Erforschungsreise von Anadyrsk nach der Behringsstraße machte. Während der Hälfte des Jahres von der ganzen übrigen Welt abgeschnitten und nur in langen Zwischenräumen von einigen halbcivilisierten Händlern besucht, war dieses vierfache Dorf so unabhängig und auf sich selbst angewiesen, als ob es mitten im offenen Polarmeere liege. Selbst sein Vorhandensein war denen fraglich, die keine direkten Beziehungen zu demselben hatten. Es wurde im achtzehnten Jahrhundert von einer Bande herumziehender Kosakenabenteurer gegründet, die, nachdem sie fast ganz Sibirien erobert, durch die Berge von dem Kolyma nach dem Anadyr vordrangen, die Tschutschken, welche ihnen Widerstand leisteten, vertrieben und am Fluß einige Werst oberhalb der jetzigen Niederlassung einen 238 Militärposten errichteten. Es folgte dann zwischen den Tschutschken und den russischen Eindringlingen ein planloser Krieg, der mit abwechselndem Erfolge viele Jahre dauerte. Während geraumer Zeit war Anadyrsk von einer Streitmacht von sechshundert Mann und einer Artillerie-Batterie besetzt; nach der Entdeckung und Ansiedelung Kamtschatkas versank es in verhältnismäßige Bedeutungslosigkeit; die Truppen wurden meist zurückgezogen, und schließlich wurde es von den Tschutschken erobert und eingeäschert. Während des Krieges, der die Zerstörung Anadyrsks zur Folge hatte, wurden zwei Stämme von Eingeborenen, die Tschuansen und Jukaghiren, welche sich auf die Seite der Russen gestellt, fast vollständig von den Tschutschken vernichtet und konnten ihre Stammesindividualität seitdem nie mehr zur Geltung bringen. Die wenigen, welche übrig blieben, verloren ihre Renntiere und ihr Lagergerät, mußten sich bei ihren russischen Verbündeten niederlassen und mit Jagd und Fischfang ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie haben allmählich russische Sitten und Gebräuche angenommen und alle unterscheidenden Charakterzüge verloren; in einigen Jahren wird keine lebende Seele mehr die Sprache dieser einst so mächtigen Stämme reden. Anadyrsk, endlich von den Russen, Tschuansen und Jukaghiren wieder aufgebaut, wurde mit der Zeit ein Handelsplatz von großer Bedeutung. Der Tabak, den die Russen eingeführt, gelangte bei den Tschutschken zu großer Beliebtheit, und um sich diesen hochgeschätzten Luxusartikel zu verschaffen, stellten sie die Feindseligkeiten ein und statteten Anadyrsk zu Handelszwecken jährliche Besuche ab. Sie verloren jedoch nie ganz ein gewisses feindliches Gefühl gegen die Russen, die in ihr Gebiet eingefallen waren, und wollten jahrelang nichts mit ihnen zu schaffen haben, außer vermittelst der Spitze des Speeres. Sie pflegten ein Bündel Pelze oder einen schönen Walroßzahn an die Klinge einer langen Tschutschkenlanze zu hängen, und wenn ein russischer Händler dies wegnahm und als Ersatz eine entsprechende Menge Tabak daran hing, dann war alles gut und schön: 239 wenn nicht, dann gab es keinen Handel. Dies Verfahren bot absolute Sicherheit gegen Betrug, denn in ganz Sibirien war kein Russe, der einen dieser grimmigen Wilden zu übervorteilen wagte, wenn dessen Lanzenspitze zehn Zoll von seiner Brust entfernt war. Ehrlichkeit war die beste Politik, und die moralische Überzeugungskraft eines Tschutschkenspeeres entwickelte das uneigennützigste Wohlwollen in der Brust des Mannes, auf den die Spitze gerichtet war. Der auf diese Weise gegründete Handel ist noch heute die Quelle großen Vorteiles für die Bewohner von Anadyrsk und die russischen Kaufleute, die jedes Jahr von Gischiginsk dorthin kommen.
Die vier kleinen Dörfer, welche die Niederlassung bilden und als »Pokorukof,« »Psolkin,« »Markowa« und »der Crepast« bekannt sind, haben zusammen eine Bevölkerung von vielleicht zweihundert Seelen. Das mittlere Dorf, Markowa, ist die Residenz des Popen und besitzt eine kunstlos gebaute Kirche, ist aber im Winter ein trostloses Nest. Die kleinen Blockhäuser haben an Stelle der Fenster dicke Eisplatten, die dem Fluß entnommen werden; viele stecken der größeren Wärme wegen halb in der Erde, und alle liegen mehr oder weniger im Schnee begraben. Ein dichter Lärchen-, Pappel- und Espenwald umgiebt das Dorf, so daß der von Gischiginsk kommende Reisende manchmal einen ganzen Tag nach demselben sucht, und wenn er mit dem Kanalnetz, in welches der Anadyr sich hier verteilt, nicht vertraut ist, findet er es vielleicht gar nicht. Die Bewohner der vier Niederlassungen teilen im Sommer ihre Zeit zwischen dem Fischfang und der Jagd auf wilde Renntiere, welche jährlich in ungeheuern Herden über den Fluß wandern. Im Winter sind sie gewöhnlich mit ihren Schlitten abwesend, treiben Handel mit den nomadischen Tschutschken, begeben sich mit Waren auf die jährliche, große Messe nach Kolymsk und treten in Dienst bei den russischen Händlern von Gischiginsk. Der Anadyr ist in der Nähe des Dorfes und fünfundsiebzig Meilen oberhalb desselben dicht bewaldet mit 240 Bäumen, die achtzehn bis vierundzwanzig Zoll im Durchmesser haben, obgleich der Oberlauf desselben sich bis zum sechsundsechzigsten Grad nördlicher Breite erstreckt. Das Klima ist sehr streng; meteorologischen Beobachtungen zufolge, die wir im Februar 1867 zu Markowa anstellten, zeigte das Thermometer während sechzehn Tagen in jenem Monat -40°, an acht Tagen -50°, an fünf Tagen -60° und einmal -68°. – Dar war die niedrigste Temperatur, die wir in Sibirien kennen lernten. Der Wechsel zwischen intensiver Kälte und verhältnismäßiger Wärme ist oft sehr rasch. Am 18. Februar um neun Uhr morgens stand das Thermometer auf -52°, siebenundzwanzig Stunden später war es dreiundsiebzig Grad gestiegen und stand auf +21°. Am einundzwanzigsten zeigte es +30°, am zweiundzwanzigsten -49°, ein ebenso rascher Umschlag in entgegengesetzter Richtung. Trotz des Klimas ist jedoch Anadyrsk ein ebenso angenehmer Aufenthalt wie neun Zehntel der russischen Niederlassungen in Nordostsibirien und die neuen Erfahrungen, die wir daselbst im Winter 1866 machten, verschafften uns so viel Vergnügen und Befriedigung, wie nur irgend ein Abschnitt unserer sibirischen Reise.
Am Tage nach unserer Ankunft ruhten wir uns aus und versuchten uns so schön zu machen, wie es unsere beschränkten Reiseeffekten erlaubten.
Donnerstag den 6. Januar war das russische Weihnachtsfest, und wir alle standen vier Stunden vor Tagesanbruch auf, um dem Frühgottesdienste beizuwohnen. Jeder im Hause war bei der Hand; im Kamin brannte ein loderndes Feuer, vor allen Heiligenbildern und Schreinen in unserem Zimmer waren vergoldete Wachskerzen angezündet, und die Luft war von Weihrauch erfüllt. Draußen herrschte noch vollkommene Dunkelheit. Die Plejaden standen tief am westlichen Himmel, der Orion war schon teilweise untergegangen, und ein schwaches Nordlicht zuckte über den Baumwipfeln nördlich vom Dorfe. Aus jedem Schornstein in der Nähe stiegen Rauchwolken auf und sprühten Funken, was bewies, daß 241 schon alles munter war. Wir eilten in die kleine Holzkirche, wo der Gottesdienst bereits begonnen, und gesellten uns leise zu der Menge der Andächtigen. Die Wände waren mit Bildern von Patriarchen und russischen Heiligen bedeckt, vor denen lange Wachskerzen brannten, die spiralförmig mit Streifen von Goldpapier umwickelt waren. Blaue Weihrauchwolken stiegen aus schwingenden Rauchfässern zur Decke empor, und die tiefe Intonation des kostbar gekleideten Popen bildete zum hohen Sopran des Chores einen eigentümlichen Gegensatz. Der Gottesdienst der griechischen Kirche ist eindrucksvoller als der der römischen, aber da er in der alten slavonischen Sprache gehalten wird, ist er fast ganz unverständlich. Der Priester plappert mit großer Zungenfertigkeit Gebete her, die niemand versteht; schwingt das Rauchfaß, verbeugt und bekreuzt sich und küßt eine große Bibel, die wenigstens dreißig Pfund wiegt. Die Spendung des Sakramentes und die Ceremonieen bei der Wandlung des Brotes und Weines sind sehr wirksam. Das Schönste im ganzen griechisch-russischen Gottesdienste ist die Musik. Niemand kann sie ohne Rührung hören, selbst in einer kleinen Holzkapelle im fernen Sibirien. Wie mangelhaft auch ihre Ausführung sein mag, sie stimmt andächtig, und ich habe oft zwei bis drei Stunden während eines langen Gottesdienstes gestanden, nur um einige Psalmen und Gebete singen zu hören. Selbst das langweilige Geplapper des Priesters wird in kurzen Zwischenräumen von dem mannigfaltigen und prächtig modulierten »Gospodi pamilni« (Gott sei uns gnädig) und »Padai Gospodin« (Gewähre es, o Herr!) des Chores unterbrochen. Die Menge der Gläubigen wohnt selbst dem längsten Gottesdienst stehend bei und scheint ganz in Andacht versunken. Unaufhörlich verbeugen und bekreuzigen sie sich als Erwiderung auf die Worte des Priesters, und nicht selten werfen sie sich nieder und pressen Stirne und Lippen ehrerbietig an den Boden. Einem Zuschauer kommt dies sehr merkwürdig vor. Einen Augenblick ist man von einer Menge in Pelz gekleideter Eingeborener 242 und Kosaken umgeben, welche dem Gottesdienste ruhig zu folgen scheinen, dann wirft sich plötzlich die ganze Versammlung auf den Boden, wie eine Rotte Infanterie unter dem Feuer einer maskierten Batterie, und er steht allein unter hundert hingestreckten Gestalten aufrecht. Zum Schluß des Weihnachtsgottesdienstes stimmte der Chor eine Jubelhymne an, um der Freude der Engel über die Geburt des Erlösers Ausdruck zu geben; und unter dem unharmonischen Geläute der Glocken, welche in einem kleinen, hölzernen Turme hingen, verließen Dodd und ich die Kirche, um zu Hause Thee zu trinken. Ich hatte gerade meine letzte Tasse geschlürft und eine Cigarette angezündet, als die Thüre sich plötzlich öffnete, ein halbes Dutzend Männer mit ernsten, bewegten Gesichtern in einer Reihe eintraten, einige Schritte vor den Heiligenbildern in der Ecke still standen, sich zu gleicher Zeit inbrünstiglich bekreuzten und eine einfache, süße, russische Melodie anstimmten, welche mit den Worten begann »Christ ist geboren.« Da ich nicht erwartet, in einer kleinen, sibirischen Niederlassung am Polarkreise Weihnachtslieder zu hören, war ich vollständig überrascht und konnte nur staunen; erst starrte ich Dodd an, um zu sehen, was er davon halte, und dann die Sänger. Letztere schienen in ihrer musikalischen Ekstase unsere Gegenwart ganz zu vergessen, und erst als sie fertig waren, wandten sie sich uns zu, schüttelten uns die Hände und wünschten uns fröhliche Weihnachten. Dodd gab jedem einige Kopeken, und indem sie wiederholt den erhabenen Excellenzen ein vergnügtes Fest, langes Leben und viel Glück wünschten, zogen sie sich zurück, um der Reihe nach in den anderen Häusern des Dorfes vorzusprechen. Eine Sängergesellschaft folgte der andern; bis zum Tagesanbruch hatte der ganze jüngere Teil der Bewohner unser Haus besucht und Kopeken empfangen. Einige der kleineren Knaben, denen es mehr auf das Geld als die Feierlichkeit der Ceremonie ankam, verdarben die Wirkung, indem sie ihre Hymne damit abschlossen: »Christ ist geboren; schenken Sie mir etwas!« Aber die meisten betrugen sich sehr anständig und ließen 243 uns an der schönen und angemessenen Sitte großen Gefallen finden. Bei Sonnenaufgang wurden alle Kerzen ausgelöscht, die Leute zogen ihre besten Kleider an, und das ganze Dorf überließ sich dem uneingeschränktesten Genuß eines großen Feiertages. Die Kirchenglocken läuteten unaufhörlich; Hundeschlitten, mit jungen Mädchen besetzt, sausten durch die Straßen, luden ihre Insassen in den Schnee ab und rasten unter lautem Gelächter den Hügel hinab; Frauen in buntgeblümten Kattunkleidern, ihr Haar in rot seidene Tücher gebunden, gingen von Haus zu Haus, machten Gratulationsvisiten und sprachen von der Ankunft der vornehmen amerikanischen Offiziere; viele Männer spielten Schlagball auf dem Schnee, und die ganze Niederlassung war in ausgelassenster Stimmung.
Am Abend des dritten Tages nach Weihnachten gab der Priester uns zu Ehren einen großartigen, sibirischen Ball, zu dem alle Bewohner der vier Niederlassungen geladen und die sorgfältigsten Vorbereitungen gemacht wurden. Daß ein Geistlicher an einem Sonntagabend einen Ball geben wollte, erschien mir sehr unpassend und ich zögerte, eine so offenbare Verletzung des vierten Gebotes gut zu heißen. Dodd jedoch bewies mir in der bündigsten Weise, daß infolge des Zeitunterschiedes es in Amerika gar nicht Sonntag, sondern Samstag sei, daß unsere Freunde in diesem Augenblicke entweder ihren Geschäften oder dem Vergnügen nachgingen, und daß er nicht einsähe, warum wir, weil wir uns zufällig auf der anderen Halbkugel aufhielten, nicht dasselbe thun könnten wie unsere antipodischen Freunde. Ich war mir vollkommen seiner Sophisterei bewußt, aber er verwirrte mich so mit Längegraden, Zeit von Greenwich, Bowditschs Seefahrern, russischen Sonntagen und amerikanischen Sonntagen, daß ich um die Welt nicht hätte sagen können, ob es in Amerika heute oder gestern sei, und wann ein sibirischer Sonntag anfange. Ich kam schließlich zu der Ansicht, daß, da die Russen den Samstagabend heilig halten und bei Sonnenuntergang am Sonntag eine neue Woche anfange, ein Tanz an diesem 244 Abend doch etwas Unschuldiges sei. Sibirischen Begriffen von Anstand entsprach es sicherlich.
In unserem Hause wurde eine Scheidewand herausgenommen, der Teppich entfernt, das Zimmer mit Lampen, die mit geschmolzenem Fett gefüllt waren, glänzend beleuchtet; an drei Seiten des Hauses wurden Bänke für die Damen aufgestellt, und gegen fünf Uhr fingen die Gäste an, sich zu versammeln. Eine frühe Stunde für einen Ball, aber es war schon so lange dunkel. Es erschienen ungefähr vierzig Geladene; die Männer trugen alle schwere Pelzkukhlankas, Pelzhosen und Pelzstiefel, die Damen weißen Muslin und geblümten Kattun. Die Kostüme der verschiedenen Geschlechter paßten wenig zusammen; die einen waren leicht und luftig genug für einen afrikanischen Sommer, die andern eigneten sich für eine Nordpolexpedition, um Sir John Franklin aufzusuchen. Die allgemeine Wirkung war jedoch sehr malerisch. Das Orchester bestand aus zwei kunstlosen Geigen, zwei »Bellalikas« oder dreieckigen, zweisaitigen Guitarren und einem großen, mit einem Stück Papier überzogenen Kamm. Ich war natürlich neugierig, wie eine derartige Festlichkeit nach sibirischer Etikette verlaufen würde, und setzte mich in eine geschützte Ecke, um alles beobachten zu können. Die Damen nahmen, sobald sie erschienen, in feierlicher Reihe auf einer hölzernen Bank am einen Ende des Zimmers Platz, die Männer stellten sich dicht gedrängt in der andern auf. Alle waren außerordentlich ernst, niemand lachte, niemand sprach, und das Schweigen wurde nur gelegentlich durch Kratzen auf einer asthmatischen Fiedel oder ein melancholisches Getute auf einem Kamm unterbrochen, wenn ein Musiker sein Instrument stimmte. Wenn das der Charakter des Festes war, konnte ich die Veranstaltung am Sonntag nicht unpassend finden. Es brachte einen auf so traurige Gedanken wie ein Begräbnis. Ich ahnte nicht, welche Aufregung unter dem nüchternen Äußeren dieser Eingeborenen schlummerte. Eine Bewegung in der Nähe der Thüre zeigte an, daß Erfrischungen herumgereicht wurden; ein junger Tschuanse 245 bot mir alsbald ein großes, hölzernes Gefäß mit wenigstens vier Litern rohen gefrorenen Preiselbeeren an. Man konnte doch unmöglich erwarten, daß ich vier Liter gefrorene Preiselbeeren verspeisen würde! Ich nahm einige Löffel voll und blickte Dodd an, der mir bedeutete, ich solle das Gefäß weiter reichen, und da sie wie saure Hagelkörner schmeckten und mir Zahnweh verursachten, that ich es mit Vergnügen.
Der nächste Gang, wieder in einem hölzernen Gefäß, sah aus wie weiße Hobelspäne von Tannenholz, und ich betrachtete das Gericht mit nicht geringem Erstaunen. Gefrorene Preiselbeeren und Hobelspäne waren die seltsamste Erfrischung, die ich noch je gesehen – selbst in Sibirien; aber ich that mir etwas darauf zu gut, fast alles essen zu können, und wenn die Eingeborenen Preiselbeeren und Hobelspäne vertragen konnten, konnte ich's auch. Die Hobelspäne erwiesen sich als rohen, gefrorenen Fisch – eine große Delikatesse bei den Sibiriern, mit der ich später unter dem Namen »struganini« sehr vertraut wurde. Die Hobelspäne aus Fisch bekamen mir weiter nicht schlecht, nur verschlimmerten sie mein Zahnweh. Auf dieselben folgte: Weißbrot und Butter, Preiselbeertörtchen und Tassen voll kochend heißen Thees, womit das Nachtessen seinen Abschluß fand. Nun glaubte man, wir seien für die Arbeit des Abends genügend gestärkt; und nach langem Stimmen spielte endlich das Orchester einen lebhaften russischen Tanz, »Kapaluschka« genannt. Die Köpfe der Musiker nickten, ihre rechten Beine traten den Takt, der Pettinist. blies sich einen roten Kopf an, und die ganze Versammlung fing an zu singen. Einen Augenblick später sprang einer der Männer in geflecktem Renntierfellrock und Bocklederhosen in die Mitte des Zimmer und neigte sich tief vor einer Dame, die am Ende einer langen, dicht besetzten Bank saß. Die Dame erhob sich, machte eine graziöse Verbeugung, und das Paar führte eine Art Tanz oder Pantomime auf, indem sie im Takte vor-, zurück-, aneinander vorbeischritten und sich rasch herumschwangen; der Mann machte der Dame offenbar den Hof, und diese 246 wies all seine Anträge ab, wandte sich weg und bedeckte ihr Gesicht mit einem Taschentuche. Nach diesem stummen Spiele zog sich die Dame zurück, und eine andere trat an ihre Stelle; die Musik spielte lauter und rascher, die Tänzer bewegten sich in rasendem Tempo unter lauten Zurufen von allen Seiten: »Hikh! Hikh! Hikh! Wallai-i-i! Ne fastavai-i-i!« und dem Takttreten von einem halben Hundert Füßen. Die ansteckende Aufregung machte mein Blut in den Adern wallen. Plötzlich warf sich der Mann auf den Boden zu Füßen seiner Tänzerin und fing an, wie eine große Heuschrecke mit zerbrochenen Beinen auf seinen Ellenbogen und Zehen herumzuspringen. Dieses außergewöhnliche Kunststück erntete stürmischen Beifall, der Aufruhr übertönte alle Instrumente außer dem Kamm, der wie ein schottischer Dudelsack brummte. Noch nie war ich Zeuge solchen Tanzens und Singens, solcher Aufregung gewesen. Sie nahm mir meine Selbstbeherrschung wie der Schall einer Trompete, die zum Angriff bläst. Nachdem der Mann mit allen Damen im Zimmer der Reihe nach getanzt hatte, hörte er endlich, offenbar erschöpft, auf; der Schweiß rann ihm in Strömen vom Gesicht, und er holte sich einige gefrorene Preiselbeeren, um sich nach seiner großen Anstrengung zu erfrischen. Diesem Tanz, der »Rusko« heißt, folgte der Kosakenwalzer, an dem sich Dodd zu meinem großen Erstaunen beteiligte. Was er konnte, konnte ich auch; ich forderte also eine Dame in rotem und blauem Kattun auf und stellte mich in die Reihe. Als die beiden Amerikaner sich im Zimmer herumdrehten, war die Aufregung geradezu unbeschreiblich; die Musiker spielten in rasendem Tempo, der Pettinist bekam einen heftigen Hustenanfall vor Anstrengung, fünfzig bis sechzig Füße stampften den Takt. »Vallai! Amerikanse! Hikh! Hikh! Hikh!« brüllte ein Teil der wahnwitzigen Menge, während die andern sangen. In welchen Grad von Aufregung sich diese Eingeborenen bei ihrem Tanzen hineinarbeiten, ist fast unglaublich; selbst ein Fremder kann sich der ansteckenden Wirkung derselben nicht entziehen. Wäre ich nicht vorübergehend 247 gestört gewesen, so hätte ich mich doch nie und nimmer so lächerlich gemacht, den Kosakenwalzer zu tanzen. In Sibirien ist es ein großer Verstoß gegen die Etikette, wenn man einmal zu tanzen angefangen, sich zu setzen, ehe man alle anwesenden Damen aufgefordert hat; und wenn dieselben zahlreich sind, ist es ein sehr ermüdendes Vergnügen. Als Dodd und ich der Etikette Genüge gethan, wären wir am liebsten hinausgelaufen, um auf einer Schneebank Platz zu nehmen, gefrorenen Fisch und Preiselbeeren-Hagelkörner literweise zu verspeisen. Wir meinten vor Hitze schmelzen zu müssen.
Um zu zeigen, welche Achtung Amerikaner in der wenig aufgeklärten Niederlassung Anadyrsk genießen, muß ich erzählen, daß ich während des Kosakenwalzers einem russischen Bauern mit meinen schweren Stiefeln auf den Fuß trat. Ich bemerkte, daß sein Gesicht einen Augenblick lang lebhaften Schmerz ausdrückte, und sobald der Tanz zu Ende war, begab ich mich mit Dodd als Dolmetscher zu ihm, um mich zu entschuldigen. Er unterbrach mich mit vielen Bücklingen, versicherte, daß ich ihm gar nicht wehe gethan, und erklärte mit Nachdruck, daß er es sich zur Ehre rechne, wenn ein Amerikaner ihm auf die Zehen trete! Es war mir noch nie vorher so zum Bewußtsein gekommen, welche stolze und beneidenswerte Auszeichnung es für mich war, ein Eingeborener unseres so sehr begünstigten Landes zu sein! Ich konnte ohne Rücksicht auf irgend jemandes Zehen stolz in andern Ländern einherschreiten, in der festen Überzeugung, daß ich den armen Fremdlingen eine desto größere Ehre erwies, je häufiger ich ihnen auf die Füße trat. Das ist offenbar der Ort, an den nicht richtig gewürdigte Amerikaner sich begeben müßten, und wenn irgend ein junger Mann findet, daß seine Verdienste in der Heimat nicht hoch genug angeschlagen werden, so rate ich ihm allen Ernstes, sich nach Sibirien zu begeben.
Die Tänze wechselten mit merkwürdigen Spielen ab, Erfrischungen von gefrorenen Preiselbeeren wurden häufig herumgereicht, so daß die Festlichkeit sich bis um zwei Uhr verlängerte, also volle neun Stunden gewährt hatte. 248 Ich habe diese Tanzgesellschaft so ausführlich geschildert, weil derartige Veranstaltungen die Hauptunterhaltung der halbcivilisierten Bewohner aller russischen Niederlassungen in Sibirien bilden, und besser als irgend etwas anderes Zeugnis für die sorglose, glückliche Veranlagung des Volkes ablegen.
Während der Feiertage bestand die Beschäftigung der ganzen Bevölkerung in Besuchemachen, Theegesellschaftengeben, Tanzen, Schlittenfahren und Ballspielen. Zwischen Weihnachten und Neujahr gingen jeden Abend Leute in phantastischen Verkleidungen mit Musik von Haus zu Haus und unterhielten ihre Wirte mit Gesang und Tanz. Die Bewohner dieser kleinen, russischen Niederlassungen in Nordostsibirien sind die sorglosesten, warmherzigsten, gastfreisten Menschen der Welt, und ihrem geselligen Leben wird von diesen Eigenschaften der Stempel aufgedrückt. Keine Klasse sucht sich durch Ceremoniell oder Affektation von den andern abzusondern. Der Verkehr ist nicht beschränkt, alle behandeln sich mit gegenseitiger Herzlichkeit, und die Männer küssen sich häufig bei der Begrüßung oder beim Abschied, als ob sie Brüder wären. Ihre Abgeschiedenheit von der ganzen übrigen Welt scheint sie in gegenseitiger Sympathie und Abhängigkeit verbunden, und alle Regungen von Neid, Eifersucht und kleinlicher Selbstsucht verbannt zu haben. Während unseres Aufenthaltes bei dem Geistlichen wurden wir mit der rücksichtsvollsten Hochachtung und Güte behandelt, und sein Vorrat von Luxusartikeln, wie Mehl, Zucker und Butter, fand in freigebigster Weise zur Bereicherung unserer Mahlzeiten Verwendung. So lange dieselben vorhielten, freute er sich, sie mit uns zu teilen, ohne an ein Entgelt zu denken, oder sich einzubilden, daß er mehr thue, als die Gastlichkeit erfordere.
An die ersten zehn Tage unseres Aufenthaltes in Anadyrsk knüpfen sich einige der angenehmsten Erinnerungen unseres sibirischen Lebens. 249