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Die nomadischen Korjäken, die in ungefähr vierzig verschiedene patriarchalische Familien zerfallen, schweifen über die großen Steppen des nördlichen Teiles der Halbinsel zwischen dem achtundfünfzigsten und dreiundsechzigsten Breitegrad. Ihre südliche Grenze ist die Niederlassung Tigiljsk auf der Westküste, wohin sie alljährlich des Handels wegen kommen, und man begegnet ihnen nur selten nördlich von Penschinsk, etwa zweihundert Meilen vom Nordende des ochotskischen Meeres. Innerhalb dieser Grenzen ziehen sie mit ihren großen Renntierherden beständig umher und sind so ruhelos, daß sie selten länger als eine Woche an demselben Orte bleiben. Dies kommt jedoch nicht allein von ihrer Vorliebe für Veränderung. Eine Herde von vier- oder fünftausend Renntieren wühlt in einigen Tagen den Schnee in einem Umkreis von einer Meile auf und verzehrt alles vorhandene Moos, und dann muß natürlich ein frisches Lager aufgesucht werden. Ihr nomadisches Leben ist folglich nicht ausschließlich Geschmackssache, sondern teilweise Notwendigkeit, da sie behufs ihrer Existenz auf das Renntier angewiesen sind. Sie müssen wandern, wenn ihre Herde nicht Hungers sterben soll, und deren Vernichtung würde die ihrige unvermeidlich folgen. Ihr Wanderleben hängt vermutlich mit der Zähmung des Renntiers zusammen, welche sie zwang, den Bedürfnissen 152 dieses Tieres in erster Linie Rechnung zu tragen; aber die ruhelosen Gewohnheiten des Herumzieherlebens sind ihnen jetzt so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie kaum in anderer Weise leben könnten, selbst wenn sie Gelegenheit dazu hätten. Die Folgen ihrer Isolierung und Unabhängigkeit sind Kühnheit, Abscheu vor jeglichem Zwang und unerschütterliches Selbstvertrauen, Charakterzüge, welche sie von den Kamtschadalen und allen andern ansässigen Bewohnern Sibiriens vorteilhaft unterscheiden. Eine kleine Renntierherde und eine Moossteppe genügt ihnen; weitere Ansprüche machen sie nicht an die Welt. Von Civilisation und Regierung sind sie vollständig unabhängig, wollen weder deren Gesetze noch Unterscheidungen anerkennen. Jeder Mann ist sich selbst Gesetz, so lange er ein Dutzend Renntiere besitzt; er kann sich, wenn es ihm gefällt, von allen andern Menschen absondern, alle anderen Interessen unberücksichtigt lassen, außer den seinigen und denen seiner Tiere. Aus Bequemlichkeit und der Gesellschaft wegen finden sich sechs bis acht Familien zusammen, aber sie werden nur durch gegenseitige Übereinkunft zusammengehalten und erkennen kein Oberhaupt an. Sie haben einen Führer »Teion« genannt, der gewöhnlich die größte Herde von der Gesellschaft besitzt; er entscheidet, wo das Lager aufgeschlagen und wann weiter gezogen werden soll; andere Macht besitzt er nicht; alle ernsteren Fragen über persönliche Rechte und Verpflichtungen muß er der gemeinsamen Entscheidung aller Mitglieder überlassen. Besondere Ehrfurcht erfüllt sie nur vor den bösen Geistern, welche sie mit Unglück heimsuchen, und den »Schamáns« oder Priestern, welche die Vermittler zwischen diesen höllischen Dämonen und ihren Opfern spielen. Rangunterschiede verachten sie, und wenn der Zar aller Reußen ein Korjäkenzelt beträte, würde er nicht mehr gelten als der Eigentümer desselben. Bald nach unserer ersten Bekanntschaft mit den Korjäken erlebten wir, als Beweis dafür, eine höchst ergötzliche Scene. Der Major meinte, es sei zweckmäßig, diesen Eingeborenen mit seinem Rang und Reichtum, 153 seiner Macht und Bedeutung in der Welt zu imponieren, ihnen einen gewissen Grad von Ehrfurcht und Hochachtung für seine Befehle und Wünsche einzuflößen. Er ließ also eines Tages eines der ältesten und einflußreichsten Mitglieder der Gesellschaft zu sich bescheiden und ihm durch einen Dolmetscher mitteilen, wie reich er sei, was für Hilfsquellen in Gestalt von Belohnungen und Strafen ihm zu Gebote ständen, welch hohen Rang er einnehme, welch mächtige Stellung er in Rußland habe, und wie es selbstverständlich sei, daß eine so hervorragende Persönlichkeit von armen, herumziehenden Heiden mit kindlicher Ehrfurcht und Hochachtung behandelt werde. Der alte, auf dem Boden kauernde Korjäke hörte der Aufzählung all der bewundernswerten Eigenschaften und Vollkommenheiten unseres Vorgesetzten ruhig zu, ohne eine Muskel zu verziehen; als der Dolmetscher zu Ende gekommen, erhob er sich langsam, schritt mit unerschütterlichem Ernst und der gnädigsten, herablassendsten Gönnermiene auf den Major zu und täschelte ihm den Kopf. Der Major wurde rot und brach in Lachen aus, versuchte aber nie mehr, einen Korjäken einzuschüchtern.
Bei all dieser demokratischen Unabhängigkeit sind die Korjäken beinahe ausnahmslos gastfrei, dienstfertig und gutmütig. Schon im ersten Lager erhielten wir die Versicherung, daß wir ohne Schwierigkeit auf Renntierschlitten von einem Lager zum andern bis an den Penschinagolf befördert werden würden. Nach langer Unterhaltung mit den Korjäken, die am Feuer um uns herum saßen, wurden wir schließlich müde und schläfrig und krochen mit im ganzen günstigen Eindrücken von diesem neuen und eigentümlichen Volke in unsern kleinen Polog. In einem andern Teil der Jurte wurde mit leiser Stimme ein melancholisches Lied in einer Molltonart gesungen, dessen trauriger, häufig wiederkehrender Refrain mir einen tiefen Eindruck und meine erste Nacht in einem Korjäkenzelt unvergeßlich machte.
Am Morgen von einem Hustenanfall geweckt zu werden, der durch den dicken, scharfen Rauch eines 154 glimmenden Feuers verursacht wird – aus einem sechs Quadratfuß großen Schlafzimmer aus Tierfellen in die noch dichtere Rauchatmosphäre des Zeltes zu kriechen – ein Frühstück von getrocknetem Fisch, gefrorenem Talg und Wild aus einem schmutzigen, hölzernen Trog einzunehmen, mit einem bösartigen Hund auf jeder Seite, der einem das Recht auf jeden Bissen streitig macht, das sind Erfahrungen, die man nur unter den Korjäken machen kann, und die nur korjäkische Gleichgiltigkeit lange aushält. Ein sanguinisches Temperament mag in der Neuheit Entschädigung für das Unbehagen finden, aber die Neuheit hält selten über den zweiten Tag hinaus vor, während das Unbehagen im direkten Verhältnis zur Dauer zunimmt. Philosophen mögen behaupten, daß der Geist über alle äußeren Verhältnisse erhaben sein muß; zwei Wochen in einem Korjäkenzelt würde sie besser von diesem Irrtum heilen als alle logischen Beweisgründe der Welt. Ich kann nicht behaupten, daß ich besonders heiter veranlagt bin, und der klägliche Anblick der Dinge, als ich am Morgen nach unserer Ankunft im ersten Korjäkenlager aus meinem Pelzschlafsack kroch, machte mich nicht liebenswürdiger. Die ersten Strahlen des Tageslichts kämpften sich gerade durch die Rauchatmosphäre des Zeltes. Das eben angezündete Feuer wollte nicht brennen, sondern rauchen; die Luft war kalt und unbehaglich; zwei Säuglinge schrieen aus Leibeskräften in einem benachbarten Polog; das Frühstück war nicht bereit, jedermann war schlecht gelaunt, und um den harmonischen Eindruck des allgemeinen Elendes nicht zu stören, wurde ich es auch. Drei oder vier Tassen heißen Thees, der bald erschien, machten jedoch ihren belebenden Einfluß geltend, und wir fingen an, der Lage eine günstigere Seite abzugewinnen. Der »Teion« wurde citiert, seinem etwas schwerfälligen Verständnisse einstweilen mit einer Pfeife starken kaukasischen Tabaks nachgeholfen und Anordnungen zu unserem Weitertransport nach dem nächsten Korjäkenlager, ungefähr vierzig Meilen nördlicher, getroffen. Sofort wurden Befehle zum Einfangen von zwanzig 155 Renntieren und zur Zurüstung der Schlitten erteilt. Ich aß hastig einige Bissen hartes Brot und Schinken, zog Pelzkappe und Fausthandschuhe an und kroch durch den niedrigen Eingang, um zu sehen, wie zwanzig dressierte Renntiere aus viertausend wilden ausgesucht würden.
In jeder Richtung war das Zelt von der Herde umgeben; einige Renntiere wühlten mit ihren scharfen Hufen den Schnee auf, um nach Moos zu suchen; andere kämpften miteinander, indem sie mit ihren Geweihen zusammenstießen und heiser kläfften oder sich in tollem Galopp über die Steppe verfolgten. In der Nähe des Zeltes stellten sich zwölf Männer mit Schlingen in zwei parallele Reihen auf, während zwanzig andere mit einem zwei- bis dreihundert Meter langen Riemen aus Seehundshaut einen Teil von der großen Herde abtrennten und sie mit Geschrei und geschwungenen Lassos durch die enge Gasse zu treiben suchten. Die erschreckten Renntiere suchten aus dem immer enger werdenden Kreise zu entfliehen, aber der Seehundsriemen, der in kurzen Entfernungen von schreienden Eingeborenen gehalten wurde, trieb sie zurück, und sie strömten widerstrebend durch die Öffnung zwischen den Lassoschleuderern. Dann und wann wickelte sich ein langes Seil in der Luft auf, eine sich zuziehende Schlinge fiel auf das Geweih irgend eines unglücklichen Renntieres, dessen geschlitzte Ohren es als ein dressiertes kenntlich machten, während seine entsetzlichen Sprünge und wütenden Anstrengungen zu entwischen, sehr berechtigte Zweifel an seiner Dressur aufkommen ließen. Um beim paarweisen Anspannen der Tiere den Zusammenstoß der Geweihe zu vermeiden, hieb ein Eingeborener mit einem schweren, schwertartigen Messer dicht am Kopfe eines der Hörner ab, so daß nur ein gräßlicher, roter Stumpf blieb, aus dem das Blut über die Ohren des Tieres rieselte. Dann wurden sie in Paaren an Schlitten gespannt, mit einem Kummet und einem Zugriemen, der sich zwischen den Vorderbeinen durchzog; Zügel wurden an kleine, scharfe Nägel in dem Kopfgestell befestigt, welche, je nachdem der entsprechende Zügel angezogen wird, in die rechte 156 oder linke Seite des Kopfes eindringen, und das Gefährt war reisefertig.
Wir verabschiedeten uns von den Kamtschadalen aus Ljesnowsk, welche von hier aus heimkehrten, hüllten uns wegen der scharfen Luft in unsere dicksten Pelze, nahmen in unseren Schlitten Platz, und bei einem lakonischen »tòk« (geht) des »Teion« flogen wir über den endlosen Ozean der Schneesteppe dahin, in welchem die kleine Gruppe von Zelten wie konische Inseln lagen. Mein Kutscher, der bemerkte, daß ich vor Kälte schauderte, zeigte nach Norden und sagte: »Dort ist es schrecklich kalt.« Es bedurfte nicht erst dieser Versicherung; das rasche Sinken des Thermometers verkündigte, daß wir uns der Eisregion näherten, und ich dachte mit nicht geringer Besorgnis an das Übernachten im Freien bei arktischer Temperatur, von der ich wohl gelesen, mit der ich aber noch nie persönlich Bekanntschaft gemacht hatte.
Dies war meine erste Reise mit Renntieren, und ich war etwas enttäuscht, daß die Erfahrung den in meiner Kindheit durch die Bilder in alten Geographiebüchern erregten Erwartungen durchaus nicht entsprach. Diese Renntiere waren nicht die idealen Geschöpfe meiner kindlichen Phantasie; die leichtfüßigen, feurigen Tiere meiner Einbildungskraft hatten sich in linkische, unbeholfene Kreaturen verwandelt. Ihr Trab war schwerfällig, sie senkten ihre Köpfe, und ihr keuchender Atem, ihr immer offenes Maul ließen auf vollständige Erschöpfung schließen und erfüllten einen mit Mitleid wegen ihrer Anstrengung, anstatt mit Bewunderung für ihre wirklich große Behendigkeit. Mein ideales Renntier würde sich nie erniedrigt haben, beim Laufen das Maul weit aufzureißen. Als ich später erfuhr, daß sie wegen der zu Eis erstarrten Feuchtigkeit in ihren Nasenlöchern durch den Mund zu atmen gezwungen sind, beruhigte mich dies in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit, änderte aber keineswegs meine Überzeugung, daß in ästhetischer Hinsicht mein ideales Renntier dem wirklichen weit überlegen sei, obgleich ich zugeben mußte, daß dasselbe für 157 seinen wandernden Eigentümer von unschätzbarem Werte ist. Es trägt ihn nicht nur von Ort zu Ort, sondern liefert ihm Kleidung, Nahrung und Decken für seine Zelte; seine Geweihe werden zu kunstlosen Geräten der verschiedensten Art verwendet, seine Sehnen getrocknet und zu Faden verarbeitet; seine Knochen dienen in Seehundsöl eingeweicht als Brennmaterial, seine gereinigten und mit Talg gefüllten Gedärme als Nahrungsmittel, sein Blut, mit dem Inhalte seines Magens vermischt, wird als »Manjalla« gegessen; seine Zunge und sein Mark gelten als die größten Delikatessen; mit der steifen, borstigen Haut seiner Beine überzieht man die Schneeschuhe, und sein den Korjäkengöttern geopferter Körper verschafft seinem Besitzer allen geistlichen und weltlichen Segen, dessen er bedarf. Es dürfte schwer fallen, ein anderes Tier zu finden, das im Leben der Menschen eine so wichtige Rolle spielt, wie das Renntier im Leben und Haushalt der sibirischen Korjäken. Mir fällt keines ein, das auch nur die vier Hauptbedürfnisse: Nahrung, Kleidung, Obdach und Verkehr befriedigte. Sehr eigentümlich ist übrigens, daß die sibirischen Eingeborenen, das einzige Volk außer den Lappen, das meines Wissens das Renntier gezähmt hat, von der Milch desselben gar keinen Gebrauch machen. Es ist mir ein Rätsel, warum sie ein so wichtiges und wünschenswertes Nahrungsmittel vernachlässigen, während jeder andere Teil vom Körper des Renntieres verwertet wird. Und doch ist es Thatsache, daß keiner der vier großen Nomadenstämme Nordostsibiriens, Korjäken, Ttschutschken, Tungusen und Samojeden, die Renntiermilch in irgend einer Weise benutzt. –
Gegen zwei Uhr nachmittags fing es an dunkel zu werden; aber da wir ungefähr die Hälfte unserer Tagereise vollbracht haben mußten, hielten wir einige Augenblicke an, damit unsere Tiere sich Nahrung suchen könnten. Die zweite Hälfte der Entfernung schien endlos. Der Vollmond ging auf und erleuchtete die weite, einsame Tundra fast mit Tageshelle; aber die Abwesenheit irgend eines dunkeln Gegenstandes, auf dem das 158 ermüdete Auge hätte ruhen können, das Schweigen und die Trostlosigkeit, die scheinbar schrankenlose Ausdehnung dieses Schneemeeres erfüllten uns mit einem neuen Gefühle von überwältigender Bangigkeit. Ein dichter Dampf, das untrügliche Zeichen großer Kälte, stieg von den Körpern der Renntiere auf und bezeichnete noch lange den Weg, den wir gefahren waren. Die Bärte sahen aus wie verwirrte Massen bereiften Eisendrahtes; die Augenlider waren weiß berandet und froren zusammen, wenn wir die Augen schlossen; die Nasen nahmen, wenn man sie unvorsichtig entblößte, ein weißes, wachsartiges Aussehen an, und nur, indem wir öfters neben unseren Schlitten herliefen, fühlten wir, daß wir überhaupt noch Füße hatten. Von Hunger und Kälte gequält, wiederholten wir wohl zwanzigmal die verzweifelte Frage: »Wie weit ist es noch?« um zwanzigmal die stereotype, aber unbestimmte Antwort zu erhalten: »Tschaimuk«, nahe, oder gelegentlich die ermutigende Versicherung, daß wir in einer Minute am Ziel sein würden. Wir wußten sehr gut, daß dies nicht in einer, und wahrscheinlich auch nicht in vierzig Minuten der Fall wäre; aber die Antwort gewährte uns doch zeitweiligen Trost. Meine häufigen Fragen spornten schließlich meinen Kutscher zu dem Versuche an, die Entfernung in Zahlen auszudrücken, und mit offenbarem Stolz auf seine Kenntnisse des Russischen, versicherte er mir, es wären noch »dva werst«, zwei Werst. Die Hoffnung auf ein gutes Feuer und ungezählte Tassen Thee heiterte mich auf, und indem meine Einbildungskraft sich an dem zukünftigen Behagen ergötzte, vergaß ich die gegenwärtigen Leiden. Als jedoch nach Verlauf von drei Viertelstunden das versprochene Lager immer noch nicht in Sicht kam, erkundigte ich mich abermals, ob es noch viel weiter sei. Ein Korjäke ließ seinen Blick über die Steppe schweifen, als ob er nach einer Landmark ausschaue, wandte sich mit einem vertraulichen Kopfnicken an mich, wiederholte das Wort »Werst« und hob dabei vier Finger in die Höhe. Ich sank in Verzweiflung in meinen Schlitten zurück. Wenn wir drei 159 Viertelstunden gebraucht, um uns zwei Werst weiter vom Ziel zu entfernen, wie viel Zeit würde daraufgehen, bis wir uns soviel Werst vom Ziele entfernt, daß wir wieder an unserem Ausgangspunkt ankamen! Es war ein entmutigendes Rechnungsexempel, und nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, es durch die doppelte Regel de Tri umgekehrt zu lösen, verzichtete ich darauf. Zu Nutz und Frommen künftiger Reisenden erlaube ich mir einige Bezeichnungen der Eingeborenen für Entfernungen mit ihrem numerischen Äquivalent mitzuteilen: »Tchaimuk« – nahe, zwanzig Werst; »Bolschai njett« – es ist gar nichts mehr, fünfzehn Werst; »Sei tschass preadem,« wir werden im Augenblick ankommen, bedeutet zu irgend einer Zeit des Tages oder der Nacht; und »diloco« – weit, ist eine Reise von einer Woche. Wer sich diese Schätzung einprägt, dem wird manche bittere Enttäuschung erspart werden, und der wird vielleicht bei einer derartigen Reise nicht allen Glauben an die menschliche Wahrhaftigkeit einbüßen.
Gegen sechs Uhr abends erblickten wir müde, hungrig und halb erfroren Funken und Rauch, welche aus den Zelten des zweiten Lagers aufstiegen, und unter Hundegebell und allgemeinem Hallo hielten wir unsern Einzug. Nur von dem Gedanken beseelt, so schnell wie möglich an ein Feuer zu kommen, sprang ich schleunigst vom Schlitten und kroch in das erste beste Loch, das ich erblickte, in der festen, auf unsere Erfahrung am vorhergehenden Abend gestützten Überzeugung, daß es eine Thüre sein müsse. Nachdem ich eine Zeitlang im Dunkeln herumgetastet, über zwei tote Renntiere und einen Haufen getrockneter Fische gekrochen war, mußte ich um Hilfe rufen. Der Eigentümer, der mit einer Fackel herbeieilte, war nicht wenig erstaunt, einen weißen Mann und Fremdling in seinem Fischvorratshause herumkriechen zu sehen. Er machte seinen Gefühlen mit einem Schrei der Verwunderung Luft und zeigte den Weg, oder kroch vielmehr mir voran in das Innere des Zeltes, wo der Major beschäftigt war, mit einem stumpfen Korjäkenmesser seinen gefrorenen Bart 160 von seiner Pelzkappe loszuschneiden und durch eine Eis- und Haarschicht hindurch seinem Mund wieder die Möglichkeit zu verschaffen, sich zu öffnen. Der Theekessel brodelte und zischte über einem lebhaften Feuer, die Bärte tauten auf, die Nasen wurden untersucht, ob sie erfroren seien, und in einer halben Stunde saßen wir behaglich auf dem Boden um eine Lichterkiste, tranken Thee und besprachen die Ereignisse des Tages.
Gerade als Wuschin zum drittenmale unsere Tassen füllte, wurde der Pelzvorhang vor dem niedrigen Eingang an unserer Seite aufgehoben, und die auffallendste Gestalt, der ich in Kamtschatka ansichtig wurde, kroch schweigend herein, erhob sich zu ihrer vollen Größe von sechs Fuß und stand majestätisch vor uns. Es war ein häßlicher Mann von brauner Gesichtsfarbe im Alter von ungefähr dreißig Jahren. Er trug einen scharlachroten Frack mit blauen Aufschlägen, Messingknöpfen und über die Brust hängenden Goldschnüren, Hosen von schwarzer, schmieriger Renntierhaut und Pelzstiefel. Sein Kopf war vollständig geschoren, nur um Ohren und Stirne hingen dünne, ungleiche Haarfransen. Lange Ketten von kleinen, bunten Perlen schmückten seine Ohren, und eines derselben hatte er zu späterem Gebrauch mit einem Priemchen Kautabak bedeckt. Um seine Lenden war ein alter Riemen von Seehundshaut gebunden, und in demselben steckte ein Schwert mit silbernem Griff in getriebener Scheide. Sein eingeräuchertes Korjäkengesicht war unverkennbar, aber die ganze Erscheinung war eine Zusammenstellung so auffallender Gegensätze, daß wir ihn in den ersten Augenblicken nur mit unsäglichem Erstaunen anstarren konnten. Er erinnerte mich an »Talipot, den Unsterblichen Potentaten von Manacabo, Boten des Morgens, Lichtspender der Sonne, Besitzer der ganzen Erde und mächtigen Monarchen des Schwertes mit dem Messinggriff ».
»Wer bist du,« fragte plötzlich der Major auf Russisch. Eine tiefe Verbeugung war die einzige Antwort. »Im Namen Chorts, wo bist du hergekommen?« Eine neue Verbeugung. »Wo hast du diesen Frack her? 161 Kannst du nicht sprechen? Meroneff! Kommen Sie her und sprechen Sie mit diesem Burschen, ich kann nichts aus ihm herausbringen.« Dodd sprach die Vermutung aus, daß er ein Bote von der Expedition Sir John Franklins, mit den neuesten Nachrichten vom Nordpol und der nordwestlichen Durchfahrt sei, und der stumme Besitzer des Schwertes verneigte sich bejahend, als ob dies die Lösung des Geheimnisses. »Bist du eingemachtes Gemüse?« fragte Dodd plötzlich auf Russisch. Der Unbekannte gab durch eine emphatische Verbeugung zu verstehen, daß dem so sei. »Er versteht nichts,« sagte Dodd unmutig; »wo ist Meroneff?« Meroneff erschien und fing an, den geheimnisvollen Besucher im scharlachroten Frack über seinen Wohnort, Namen und seine Lebensgeschichte auszufragen. Zum erstenmale gab er Antwort. »Was sagt er?« fragte der Major, »wie heißt er?«
»Er sagt, sein Name sei Khamlpuginik.«
»Woher hat er den Frack und das Schwert?«
»Er sagt, der große weiße Häuptling habe es ihm für ein totes Renntier gegeben.« Das war nicht sehr befriedigend, und Meroneff wurde angewiesen, noch nähere Auskunft zu verlangen. Wer der »große, weiße Häuptling« sein könne, und warum er für ein totes Renntier einen scharlachroten Frack und ein Schwert mit silbernem Heft gegeben, das waren Fragen, deren Beantwortung über unseren Horizont ging. Endlich klärte sich Meroneffs verlegenes Gesicht auf, und er teilte uns mit, daß Frack und Schwert dem Unbekannten vom Kaiser zur Belohnung verliehen worden, weil er während einer Hungersnot den Russen in Kamtschatka ein Renntier überlassen hatte. Der Korjäke wurde gefragt, ob er mit diesen Gaben auch ein Papier erhalten habe, und er verließ sofort das Zelt und kehrte einen Augenblick später mit einem Dokument zurück, das sorgfältig zwischen dünnen Brettern mit Renntiersehnen eingebunden war. Dieses Schriftstück gab die gewünschte Erklärung. Frack und Schwert waren während der Regierung Alexanders I. dem Vater des gegenwärtigen Besitzers 162 vom russischen Gouverneur von Kamtschatka geschenkt worden als Belohnung für den Russen geleistete Hilfe während einer Hungersnot. Sie waren vom Vater auf den Sohn gekommen, und dieser hatte, stolz auf seine ererbte Auszeichnung, sobald er von unserer Ankunft gehört, sich uns vorgestellt. Er wollte nichts, als sich zeigen, und nachdem wir sein Schwert besichtigt, das wirklich eine prachtvolle Waffe war, gaben wir ihm einige Päckchen Tabak und entließen ihn. Wir hatten kaum erwartet, im Innern von Kamtschatka Reliquien von Alexander I. zu finden, die aus der Zeit Napoleons stammten. 163