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Am folgenden Morgen setzten wir bei Tagesanbruch unsere Reise fort und fuhren bis vier Stunden nach eingetretener Dunkelheit über eine unbegrenzte ebene Steppe, auf der sich auch nicht eine Landmark fand, die als Wegweiser hätte dienen können. Ich war erstaunt, wie genau unsere Führer die Himmelsgegenden bestimmen und die entsprechende Richtung einschlagen konnten, indem sie einfach den Schnee betrachteten. Die heftigen Nordostwinde, welche während des Winters in dieser Gegend vorherrschen, treiben den Schnee in langen wellenförmigen Erhöhungen, »sastrugi«, zusammen, welche zur Richtung des Windes rechtwinkelig verlaufen, also nordwestlich und südöstlich. Manchmal werden die »sastrugi« mehrere Tage lang von frischgefallenem Schnee verdeckt; aber ein erfahrener Korjäke weiß immer, wo Norden ist, indem er die obere Schneeschicht entfernt, und fährt bei Tag und Nacht in gerader Linie auf seinen Bestimmungsort zu.
Wir erreichten gegen sechs Uhr das dritte Lager und waren erstaunt, daß in dem großen Zelt sich die Eingeborenen drängten, als ob sie auf irgend eine Ceremonie oder ein Schauspiel warteten. Unser Dolmetscher teilte uns mit, daß eine Eheschließung stattfinden solle, und anstatt, wie wir beabsichtigt, unser Quartier in einem weniger besetzten Zelte aufzuschlagen, beschlossen wir zu 164 bleiben, um zu sehen, in welcher Weise dieser Ritus von einem uncivilisierten, barbarischen Volke gefeiert werden würde.
Diese Ceremonie der Korjäken ist wegen ihrer Originalität und der vollständigen Nichtachtung der Gefühle des Bräutigams bemerkenswert. In keinem andern Lande giebt es ein so merkwürdiges Gemisch von Verstand und Abgeschmacktheit wie das, welches in dem sozialen Leben der Korjäken mit dem Namen Heirat beehrt wird, und in keinem andern Lande, wir wollen's wenigstens hoffen, wird der Bräutigam solch demütigenden Unwürdigkeiten unterworfen. Einer Trauung beizuwohnen ist oder sollte für jeden jungen Mann etwas sehr Ernstes sein, aber einen einigermaßen empfindsamen Korjäken muß es geradezu mit Schrecken erfüllen. Ein Trauschein (wenn es bei den Korjäken solche Dokumente giebt) ist meiner Ansicht nach genügender Beweis für Tapferkeit, die sich bei einem Manne, der zwei- oder dreimal heiratet, zu vollständigem Heldenmut steigern muß. Ich habe einen Korjäken in Kamtschatka gekannt, der vier Frauen gehabt, und seine Bravour flößte mir soviel Respekt ein, als wenn er zu den Sechshundert bei Balaklava gehört hätte.
Soviel ich weiß, ist die Ceremonie noch nicht beschrieben worden, und wie unzulänglich meine Schilderung auch sein mag, um einen Begriff von der Wirklichkeit zu geben, so wird sie doch vielleicht Verliebte veranlassen, sich Glück zu wünschen, daß sie nicht in Kamtschatka geboren wurden. Die Leiden des jungen Korjäken nehmen schon ihren Anfang, wenn er sich verliebt; wie der Zorn des Achilles ist es die schreckliche Quelle »unnennbaren Jammers«. Sind seine Absichten ernsthaft, so besucht er den Vater und bittet um die Hand der Jungfrau, verschafft sich Gewißheit über ihre Mitgift in Renntieren und erfährt, wie hoch sie geschätzt wird. Vielleicht mutet man ihm zu, zwei oder drei Jahre um sie zu dienen – gewiß eine harte Probe für irgend eines jungen Mannes Liebe. Dann sucht er eine Zusammenkunft mit der jungen Dame 165 selbst und erfüllt die angenehme oder unangenehme Pflicht, welche bei den Korjäken der civilisierten Sitte entspricht, »die entscheidende Frage« zu stellen. Wir hatten gehofft, von den Korjäken einige schätzenswerte Winke zu erhalten, welche Methode in dieser zarten Angelegenheit die erfolgreichste sei; aber wir erfuhren nichts, was auf die komplizierteren Beziehungen der civilisierten Gesellschaft anwendbar wäre. Wenn des jungen Mannes Gefühle erwidert werden, er sich also mit Aussicht auf Heirat verlobt, macht er sich heiter an die Arbeit, wie Ferdinand im »Sturm« für Mirandas Vater, und verbringt zwei oder drei Jahre damit, Holz zu fällen und herbeizuschleppen, Renntiere zu bewachen, Schlitten zu verfertigen, kurz die Interessen seines Schwiegervaters in spe zu fördern. Am Ende dieser Probezeit kommt dann das große »experimentum crucis«, das sein Schicksal entscheiden und den Erfolg oder die Nutzlosigkeit seiner langen Arbeit darthun soll.
Bei dieser interessanten Krisis hatten wir unsere Korjäkenfreunde im dritten Lager überrascht. Das Zelt, das wir betraten, war ungewöhnlich groß; an der innern Umfangslinie befanden sich sechsundzwanzig Pologs nebeneinander. Im offenen Raum in der Mitte um das Feuer drängten sich mit dunkeln Gesichtern und zur Hälfte geschorenen Köpfen die korjäkischen Zuschauer, deren Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Kesseln und Trögen voll »Manjalla«, gekochtem Wildbret, Mark, gefrorenem Talg und ähnlichen Delikatessen und der Besprechung über einen strittigen Punkt der Hochzeitsetikette geteilt zu sein schien. Meine Unkenntnis der Sprache machte es mir leider unmöglich, die Streitfrage richtig zu würdigen; aber man schien dieselbe auf beiden Seiten mit Geist und Talent zu erörtern. – Unsere plötzliche Ankunft lenkte sie vorübergehend von der wichtigen Angelegenheit ab. Die tättowierten Frauen und geschorenen Männer starrten mit offenem Munde die Blaßgesichter an, die sich als ungebetene Gäste und ohne hochzeitliches Kleid zur Vermählungsfeier eingefunden hatten. Es ließ sich nicht leugnen, unsere Gesichter 166 waren schmutzig, unsere blauen Jagdhemden und Buckskinhosen trugen die Spuren einer zweimonatlichen Reise in zahlreichen Rissen, Löchern und Fetzen, die nur teilweise durch den dicken Renntierpelz unserer »Kukhlánkas« verdeckt wurden. Unsere allgemeine Erscheinung ließ auf eine intimere Bekanntschaft mit schmutzigen Jurten, Bergwildnissen und sibirischen Stürmen schließen, als mit den civilisierenden Einflüssen von Seife, Wasser, Rasiermesser und Nadeln. Wir ertrugen jedoch die eingehende Besichtigung der Versammlung mit der Gleichgiltigkeit von Männern, die an dergleichen gewöhnt sind, und schlürften unsern Thee, während wir auf den Anfang der Ceremonie warteten. Ich spähte umher, ob ich die glücklichen Ehekandidaten nicht herausfinden könnte, aber sie befanden sich offenbar in einem der geschlossenen Pologs. Das Essen und Trinken schien mittlerweile zum Abschluß zu gelangen, die Menge war in Aufregung und Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Plötzlich wurden wir durch lauten, regelmäßigen Trommelschlag erschreckt; das korjäkische Instrument heißt »barabán«. – In demselben Augenblick öffnete sich das Zelt, um einem großen, ernst aussehenden Korjäken Einlaß zu gewähren, der einen Arm voll Weidengerten und Erlenzweige trug, welche er anfing, in alle Pologs des Zeltes zu verteilen. »Was kann das zu bedeuten haben,« fragte Dodd leise. »Ich weiß nicht,« war die Antwort; »halten Sie sich ruhig, und Sie werden's sehen.« Das Trommeln wurde während des Verteilens der Zweige fortgesetzt; dann fing der Trommler an, ein leises, wohlklingendes Recitativ zu singen, das allmählich an Stärke zunahm, bis es in eine wilde, barbarische Weise ausartete, zu der er auf der Trommel den Takt schlug. Es entstand eine Bewegung; die Vorhänge der Pologs wurden geöffnet, die Frauen stellten sich in kleinen Abteilungen von zwei und drei vor dem Eingang derselben auf und ergriffen die daselbst deponierten Weidenzweige. Aus einem der Pologs in der Nähe der Thüre trat nun ein ehrwürdiger Eingeborener, vermutlich der Vater des Bräutigams oder der Braut, und führte einen hübschen, 167 jungen Korjäken und seine Zukünftige. Bei ihrem Erscheinen wurde die Aufregung zur Raserei, die Musik ertönte mit verdoppelter Geschwindigkeit, die Männer in der Mitte des Zeltes stimmten in den seltsamen Gesang ein und stießen in kurzen Zwischenräumen einen schrillen Schrei wilder Erregung aus. Auf ein gegebenes Zeichen des Eingeborenen, der das Paar geführt, stürzte die Braut plötzlich in den ersten Polog und begann eine wilde Flucht um das Zelt herum, indem sie die Zwischenvorhänge der Pologs aufhob, um durchzuschlüpfen. Der Bräutigam verfolgte sie eilig; aber die Frauen, die in jedem Gemach standen, bereiteten ihm alle möglichen Hindernisse, traten ihm auf den Fuß, hielten die Vorhänge fest, um sein Durchschlüpfen zu verhindern, und wenn er sich bückte, um seinen Zweck zu erreichen, fuchtelten sie unbarmherzig mit den Weiden- und Erlenruten auf einen sehr empfindlichen Teil seines Körpers los. – Trommelwirbel, laute ermutigende und spöttische Zurufe und das Geräusch der schweren Hiebe, welche die Frauen dem armen Spießrutenläufer austeilten, erfüllten die Luft. Es war klar, er konnte trotz aller Anstrengungen die fliehende Atalanta nicht einholen, ehe sie den Kreislauf vollendet. Selbst die goldenen Äpfel der Hesperiden hätten ihm gegen solch entmutigende Überlegenheit nichts nützen können; aber er strebte mit unverzagter Ausdauer vorwärts, stolperte über die ausgestreckten Füße seiner weiblichen Gegner und verwickelte sich in die weiten Falten der Vorhänge, die ihm mit Matadorengewandtheit über Kopf und Augen geworfen wurden. Die Braut hatte schon den letzten geschlossenen Polog an der Thüre betreten, als der unglückliche Bräutigam auf halbem Wege noch gegen die Fülle von Hindernissen kämpfte, die ihm bereitet wurden. Ich glaubte, er werde in seinen Anstrengungen erlahmen und den Kampf aufgeben, als die Braut verschwand, und wollte zu seinen Gunsten gegen die Unbilligkeit des Verfahrens protestieren; aber zu meinem Erstaunen kämpfte er weiter, bis er schließlich mit einem gewaltigen Sprunge durch den Vorhang des letzten Polog zu seiner Braut stürmte.
168 Die Musik hörte plötzlich auf, und die Menge strömte aus dem Zelte. Die Ceremonie war offenbar zu Ende. Wir fragten Meroneff, der derselben mit belustigtem Grinsen zugeschaut, was das alles bedeute. »Sind sie verheiratet?« »Da's« war die bejahende Antwort. »Aber,« wandten wir ein, »er hat sie ja nicht gefangen.« »Sie wartete auf ihn, Euer Gnaden, im letzten Polog, und wenn er sie dort fing, so genügt es.« »Wenn er sie aber dort nicht fing, was dann?« – »Dann,« erwiderte der Kosak mit vielsagendem Achselzucken, »hätte der ›Caidnak‹ (arme Bursche) noch zwei weitere Jahre dienen müssen.« – Das wäre ja sehr angenehm – für den Bräutigam! Zwei Jahre um eine Frau arbeiten, am Ende seiner Lehrjahre zwischen Weidengerten Spießruten laufen und dann noch nicht einmal die Gewißheit, daß die Braut ihr Versprechen halten wird! Sein Glaube an ihre Beständigkeit muß grenzenlos sein. Die Bedeutung der ganzen Ceremonie gipfelte offenbar darin, daß man dem Mädchen die Entscheidung ließ, ob sie den Mann heiraten wollte oder nicht, da es für ihn unter besagten Umständen faktisch unmöglich war, sie zu fangen, wenn sie nicht in einem der Pologs freiwillig auf ihn wartete. Der Gedanke zeigte für die Wünsche des liebenswürdigeren Geschlechts mehr Ritterlichkeit und Achtung, als man in einem Gesellschaftszustand so primitiver Art erwarten sollte; aber mich, als unparteiischen Beobachter, wollte bedünken, daß man zu demselben Resultat hätte gelangen können, ohne den Bräutigam so schlecht zu behandeln. Seinen Gefühlen als Mann war man doch auch einige Rücksicht schuldig. Über die Bedeutung der Züchtigung, welche die Frauen dem Bräutigam mit Weidenruten zu teil werden ließen, konnte ich nichts erfahren. Dodd meinte, sie sei vielleicht ein Sinnbild des ehelichen Lebens, eine Art Vorspiel für spätere häusliche Erfahrungen; aber angesichts des männlichen Charakters der Korjaken schien dies nicht wahrscheinlich. Keine Frau, die bei Sinnen wäre, würde ein zweites Mal das Experiment mit einem der ernsten, entschlossenen Männer 169 versuchen, die Zeuge der Ceremonie waren und dieselbe ganz in Ordnung fanden.
Mr. A. S. Bickmore meint im »Amerikanischen Journal für Wissenschaft«, Mai 1868, in Hinsicht auf diese merkwürdige Sitte der Korjäken: die Züchtigung bezwecke, die »Fähigkeit des jungen Mannes im Ertragen der Widerwärtigkeiten des Lebens« auf die Probe zu stellen; ich erlaube mir zu bemerken, daß die Widerwärtigkeiten des Lebens gewöhnlich in anderer Gestalt auftreten, und daß das Prügeln mit Weidenruten eine sehr eigentümliche Vorbereitung für künftiges Unglück irgend welcher Art ist.
Was auch der Sitte zu Grunde liegen mag, sie ist sicherlich ein Eingriff in die allgemein anerkannten Vorrechte des stärkeren Geschlechts und sollte von allen Korjäken, welche die männliche Suprematie begünstigen, bekämpft werden. Ehe sie sich's versehen, werden sie einen weiblichen Wahlverein auf dem Halse haben, Rednerinnen werden von einem Lager zum andern ziehen und befürworten, daß man die harmlosen Weidenruten durch Prügel aus Walnußholz ersetze, und gegen die Tyrannei protestieren, die ihnen nicht erlauben will, dem interessanten Zeitvertreib wenigstens dreimal die Woche obzuliegen.
Nach dem Schluß der Ceremonie begaben wir uns ins benachbarte Zelt und waren überrascht, als wir ins Freie kamen, drei oder vier Korjäken, mit einem gehörigen Rausche behaftet, schreiend umhertaumeln zu sehen, vermutlich zu Ehren des glücklichen, eben stattgefundenen Ereignisses. Ich wußte, daß in ganz Nord-Kamtschatka weder ein einziger Tropfen alkoholhaltiger Flüssigkeit, noch irgend eine Ingredienz dazu vorhanden war, und es war mir ein Rätsel, wie sie es fertig gebracht, sich so schnell und so gründlich zu berauschen. Wir vernahmen zu unserm Erstaunen, daß sie Pilze gegessen, die unter dem Namen »Krötenstuhl« bekannt sind. Es giebt in Sibirien eine besondere Art derselben, von den Eingeborenen »muk-a-moor« genannt, die sehr berauschende Eigenschaften hat und fast von allen sibirischen 170 Stämmen als Anregungsmittel benutzt wird. In großer Menge genossen ist der Krötenstuhl ein heftiges, narkotisches Gift, aber in kleinen Dosen hat er die Wirkung geistiger Getränke. Häufiger Gebrauch zerrüttet das ganze Nervensystem, weshalb das russische Gesetz den Verkauf desselben als eine strafbare Handlung ansieht. Ungeachtet aller Verbote wird der Handel damit im geheimen betrieben, und ich habe Pelze im Wert von zwanzig Dollars für einen einzigen dieser Giftschwämme hingeben sehen. Die Korjäken würden dieselben wohl selbst einsammeln, aber sie wachsen nur im Walde und nicht auf den unfruchtbaren Steppen, auf denen sie umherziehen, so daß sie dieselben zu ungeheuern Preisen von den russischen Händlern kaufen. Ein gastlicher Korjäke fordert seinen vorübergehenden Freund nicht auf, ein Gläschen mit ihm zu trinken, sondern er sagt: »Willst du nicht einen Krötenstuhl haben?« Einem civilisierten Zechbruder mag die Frage nicht sehr verlockend sein, aber auf einen liederlichen Korjäken bringt sie eine magische Wirkung hervor. Da diese Krötenstühle nicht in genügender Menge wachsen, hat der korjäkische Scharfsinn allerlei ersonnen, um mit diesem kostbaren Reizmittel sparsam hauszuhalten und so weit wie möglich damit zu reichen. Manchmal wird es im Laufe menschlicher Ereignisse absolut notwendig, daß eine ganze Nomadenfamilie sich ein Räuschchen anschafft, und doch verfügen sie nur über einen einzigen Krötenstuhl. In welcher Weise sie es möglich machen, dieses Problem zu lösen, findet der neugierige Leser in Goldsmiths »Weltbürger«, Brief 32, geschildert. Es ist übrigens nur gerecht, mitzuteilen, daß diese gräßliche Gewohnheit ausschließlich bei den ansässigen Korjäken am Penschinagolf heimisch ist, dem entartetsten und rohesten Teile des ganzen Stammes. Vielleicht begegnet man derselben auch hier und da unter den wandernden Korjäken, aber mir wurde nur ein einziges derartiges Beispiel bekannt.
Unsere Reise war, nachdem wir das dritte Lager verlassen, einige Tage hindurch ermüdend und einförmig. Das unveränderliche Einerlei unseres täglichen Lebens in 171 rauchigen Korjäkenzelten, die eintönige Flachheit und Unfruchtbarkeit des Landes, in dem wir reisten, wurden unaussprechlich langweilig, und wir sahen der russischen Niederlassung Gischiginsk, dem Mekka unserer langen Pilgerfahrt, mit größter Sehnsucht entgegen. Länger als eine Woche hintereinander mit den wandernden Korjäken zu leben, ohne sich einsam und heimwehkrank zu fühlen, dazu gehören unerschöpfliche geistige Hilfsquellen. Man ist ganz und gar auf sich selbst angewiesen. Keine Zeitung liefert Stoff zum Denken und Diskutieren für die langen Abende am Zeltfeuer; kein Krieg oder Kriegsgerücht, kein Staatsstreich, keine Wahlaufregung erschüttert je die stockende geistige Atmosphäre des Korjäkendaseins. Sowohl in physischer wie in geistiger Hinsicht durch eine unendliche Entfernung von allen Interessen, ehrgeizigen Bestrebungen und Aufregungen, welche unsere Welt ausmachen, getrennt, vegetiert der Korjäke wie eine menschliche Auster in den stillen Gewässern seines eintönigen Lebens. Eine Geburt, eine Heirat, das Opfer eines Hundes oder in seltenen Fällen eines Menschen für den korjäkischen Ahriman, die seltenen Besuche eines russischen Händlers, das sind die hervorragendsten Ereignisse in seiner Geschichte, von der Wiege bis zum Grabe. Wenn ich am Feuer eines Korjäkenzeltes saß, war es manchmal fast unmöglich, mir zu vergegenwärtigen, daß ich mich in der modernen Welt der Eisenbahnen, Telegraphen und Zeitungen befand; es schien, als ob ich durch irgend einen Zauber um Jahrtausende zurückversetzt worden und zu den Zeltbewohnern Sems und Japhets gehörte. Nichts in unserer ganzen Umgebung erinnerte an die viel gerühmte Aufklärung und Civilisation des neunzehnten Jahrhunderts, und indem wir uns allmählich an die neuen und seltsamen Zustände primitiven Barbarentums gewöhnten, verblaßten unsere Erinnerungen an civilisiertes Leben zu wesenlosen Traumgebilden. 172