George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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1. Kapitel.

Die russisch-amerikanische Telegraphengesellschaft wurde im Sommer 1864 zu New-York organisiert. Seit vielen Jahren hatten hervorragende Telegraphenbeamte die Idee gehabt, Amerika mit Europa über die Behringsstraße telegraphisch zu verbinden, und schon 1857 hatte Herr Perry Collins, als er das nördliche Asien bereiste, einen dahinzielenden Vorschlag gemacht. Aber erst nachdem der Versuch, ein transatlantisches Kabel zu legen, gescheitert war, fing man an, die Möglichkeit einer Verbindung der beiden Kontinente über Land durch Asien in ernstere Erwägung zu ziehen. Der Plan des Herrn Collins, welcher schon 1863 der Telegraphengesellschaft für westlichen Verkehr zu New-York unterbreitet wurde, schien von allen Projekten für interkontinentale Verbindung das praktischste. Eine Telegraphenlinie durch Brittisch-Columbia, Russisch-Amerika und Nordost-Sibirien sollte sich an die russische Linie an der Amurmündung anschließen, was einen ununterbrochenen Drahtgürtel fast um die ganze Erde gebildet haben würde.

Dieses Projekt bot viele unverkennbare Vorteile. Es erforderte kein langes Kabel. Die Linie führte stets über Land, außer der kurzen Strecke in der Behringsstraße, und durch Sturm oder sonstige Vorkommnisse entstehende Schäden waren leicht auszubessern. Sie 2 konnte auch möglicherweise längs der asiatischen Küste bis Peking ausgedehnt werden und zur Entwickelung des nutzbringenden Handels mit China beitragen. Alle diese Gründe ließen das Projekt Kapitalisten und praktischen Telegraphenbeamten verlockend erscheinen, und so wurde es im Jahre 1863 von der Telegraphengesellschaft für westlichen Verkehr definitiv angenommen. Man verhehlte sich natürlich nicht, daß, wenn es gelänge, ein transatlantisches Kabel zu legen, dies der projektierten Überlandlinie schaden, ja sogar verhängnisvoll werden könnte; da dies aber einstweilen nicht wahrscheinlich schien, beschloß die Gesellschaft in Anbetracht aller Umstände, das Risiko zu übernehmen.

Mit der russischen Regierung wurde ein Vertrag abgeschlossen, welcher diese verpflichtete, ihre Telegraphenlinie durch Sibirien bis an die Amurmündung auszudehnen, und der Gesellschaft außergewöhnliche Privilegien auf russischem Gebiete einzuräumen. Von der brittischen Regierung wurden 1864 ähnliche Zugeständnisse erlangt; der amerikanische Kongreß versprach seine Unterstützung, und so trat die »Gesellschaft für Ausdehnung des westlichen Verkehrs« mit einem Kapital im Nominalwerte von 10 000 000 Dollars ins Leben. Die Aktien, welche hauptsächlich von den Aktieninhabern der ursprünglichen »Telegraphengesellschaft für westlichen Verkehr« gezeichnet wurden, waren bald vergriffen; eine sofortige Einzahlung von 5% lieferte den Fonds zur alsbaldigen Inangriffnahme des Werkes. Der Glaube an den schließlichen Erfolg des Unternehmens war so groß, daß in Zeit von zwei Monaten alle Aktien zu fünfundsiebzig Dollars das Stück bei nur fünf Dollars Anzahlung untergebracht waren.

Im August 1864 wurde Oberst Bulkley, ein ehemaliger Inspektor des militärischen Telegraphenwesens, zum Oberingenieur der projektierten Linie ernannt, und im Dezember segelte er von New-York nach San Franzisco, um Erforschungskolonnen zu organisieren und auszurüsten, und mit der Verwirklichung des Projektes den Anfang zu machen.

Angeborene Reise- und Abenteuerlust, die noch nie 3 Befriedigung gefunden, und der Wunsch, an einem so neuen und wichtigen Unternehmen beteiligt zu sein, veranlaßten mich, der Gesellschaft meine Dienste anzubieten. Mein Gesuch ward bewilligt, und am 13. Dezember reiste ich in Begleitung des Oberingenieurs von New-York nach San Franzisco, wohin das Hauptquartier verlegt werden sollte. Unmittelbar nach seiner Ankunft eröffnete Oberst Bulkley ein Bureau in der Montgomerystraße und schickte sich an, verschiedene Abteilungen zu einer vorläufigen Rekognoszierung des Gebietes, das die Linie durchschneiden sollte, zu organisieren. Kaum verlautete in der Stadt, daß Männer zur Erforschung der unbekannten Regionen Brittisch-Columbias, Russisch-Amerikas und Sibiriens gesucht würden, als das Bureau der Gesellschaft von Stellesuchenden aller Art förmlich belagert wurde.

Abenteurer, die schon lange auf eine derartige Gelegenheit gewartet; verkommene Goldgräber, die durch neu zu entdeckende Goldfelder ihren zerrütteten Verhältnissen aufzuhelfen hofften; entlassene, nach neuer Aufregung dürstende Soldaten, alle drängten sich herzu, um ihre Dienste als Pioniere anzubieten. Nach geschickten und erfahrenen Ingenieuren war lebhafte Nachfrage; aber das Angebot gewöhnlicher Leute, die, was ihnen an Erfahrung mangelte, durch Begeisterung ersetzen wollten, war unbeschränkt.

Monat auf Monat schlich langsam während der Auswahl von Leuten, Organisierung und Ausrüstung von Erforschungsabteilungen dahin, bis endlich im Juni 1865 die Schiffe der Gesellschaft bereit waren, in See zu stechen.

Eine Abteilung sollte in Brittisch-Columbia an der Mündung des Fraser-Flusses landen, eine andere in Russisch-Amerika am Nortonsund, und eine weitere auf der asiatischen Seite der Behringsstraße an der Mündung des Anadyr. Sie hatten Befehl, unter der Führerschaft der Herren Pope, Kennicott und Macrae soweit wie möglich den Lauf der betreffenden Flüsse aufwärts ins Innere vorzudringen, in Bezug auf Klima, Bodenbeschaffenheit, Holzreichtum und Bewohner alle mögliche 4 Auskunft zu erlangen und im allgemeinen die Richtung der projektierten Linie festzustellen.

Für die beiden amerikanischen Abteilungen boten Victoria und Fort Sct. Michael eine verhältnismäßig günstige Operationsbasis, aber die sibirische Abteilung mußte auf der asiatischen Küste, in der Nähe der Behringsstraße, fast tausend Meilen von jeder bekannten Niederlassung entfernt, in öder, unfruchtbarer Gegend landen. Da sie unter nomadischen Stämmen kriegerischer Eingeborenen auf ihre eigenen Hilfsmittel angewiesen und ohne irgend welche Transportmittel außer Kähnen sein würde, schienen ihre Sicherheit und ihr Erfolg sehr fraglich. Viele Freunde des Unternehmens behaupteten sogar, es heiße die Leute gewissem Untergang preisgeben, wenn man sie in eine derartige Lage versetze; der russische Konsul in San Franzisco riet, diese Abteilung lieber in einen der russischen Häfen des ochotskischen Meeres anlaufen zu lassen, wo sie Erkundigungen über das Innere des Landes einziehen, sich Pferde- oder Hundeschlitten zu Entdeckungsreisen nach jeder Richtung hin verschaffen, und den sie überhaupt als Anhaltspunkt benutzen könnten.

Dieser vernünftige Rat war sehr einleuchtend; unglücklicherweise verfügte aber der Oberingenieur über kein Schiff, auf dem er eine Abteilung ins ochotskische Meer hätte schicken können; wenn im Verlauf dieses Sommers überhaupt eine Landung auf der asiatischen Küste stattfinden sollte, konnte dies nur an der Behringsstraße geschehen.

Gegen Ende Juni erfuhr jedoch Oberst Bulkley, daß ein kleiner russischer Kauffahrer, die »Olga«, von San Franzisco nach Kamtschatka und der südwestlichen Küste des ochotskischen Meeres unter Segel gehen sollte, und er bestimmte die Eigentümer desselben, vier seiner Leute als Passagiere nach Nikolajewsk an der Mündung des Amur mitzunehmen. Wenn auch andere Orte mehr im Norden des ochotskischen Meeres als Ausgangspunkte für das Unternehmen günstiger gewesen wären, so war dieser Hafen doch bei weitem irgend einem Landungsplatz an der Behringsstraße vorzuziehen. Die kleine 5 Gesellschaft, welche auf der »Olga« nach Kamtschatka und der Amurmündung segeln sollte, bestand aus: Major S. Abaza, einem Russen, der zum Direktor und Generalissimus des Unternehmens in Sibirien ernannt worden war; James A. Mahood, einem Civilingenieur, der sich in Kalifornien bedeutenden Rufes erfreute; R. J. Bush, welcher gerade einen dreijährigen Kriegsdienst in Karolina absolviert hatte, und mir selbst. Wir waren zwar gering an Zahl, nicht besonders reich an Erfahrungen, aber voller Hoffnung, Selbstvertrauen und Begeisterung.

Am 28. Juni wurden wir benachrichtigt, daß die Brigg »Olga« ihre Ladung an Bord habe und »unverzüglich in See stechen werde«.

Wie wir später herausfanden, bedeutete dies bloß, daß dieselbe im Laufe des Sommers absegeln werde, während wir, in unserer vertrauensseligen Unerfahrenheit, uns einbildeten, sie werde unverweilt die Anker lichten und infolgedessen unsere Reisevorbereitungen überstürzten. Staatskleider, leinene Hemden und elegantes Schuhwerk wurden verschenkt oder verschleudert, und ein großer Vorrat von wollenen Decken, schweren Schuhen und Flanellhemden angeschafft; Gewehre, Revolver und Dolchmesser von ungeheuern Dimensionen verliehen unserem Zimmer ein ganz kriegerisches Aussehen; Arsenik- und Spiritusvorräte, Schmetterlingsnetze, Schlangensäcke, Pillenschachteln und ein Dutzend anderer Hilfsmittel und Apparate für Wissenschaften, von denen wir nichts verstanden, wurden uns von begeisterten Naturfreunden geschenkt und in große Kisten verpackt; unsere kleine Bibliothek erhielt einen Zuwachs von mehreren wissenschaftlichen Werken, Wrangells Reisen und Grays Botanik, und ehe die Nacht hereinbrach, waren wir reisefertig, für jedes Abenteuer bewaffnet und ausgerüstet, sei es das Einfangen einer neuen Käferart oder die Eroberung Kamtschatkas!

Da es gegen alles Herkommen verstößt, eine Seereise anzutreten, ohne vorher das Schiff besichtigt zu haben, warfen Bush und ich uns zu einer Untersuchungskommission auf und begaben uns an den Landungsplatz, wo 6 dasselbe vor Anker lag. Der Kapitän, ein derber, amerikanisierter Deutscher, empfing uns an dem Fallreep und führte uns auf der kleinen Brigg herum. Unsere unzulänglichen nautischen Kenntnisse würden uns kaum befähigt haben, über die Seetauglichkeit eines Lichterschiffes ein kompetentes Urteil abzugeben, aber Bush perorierte mit der charakteristischen Unverfrorenheit und Geschmeidigkeit des Talentes über Schönheit und Bau des Schiffes, seine Segel, den verhältnismäßigen Wert der ersten und zweiten Marssegel, die neu patentierten Raa-Hanger und Reeftalje und warf dergestalt mit seemännischen Ausdrücken um sich, daß er mich vollständig verblüffte und sogar den Kapitän stutzig machte.

Ich hegte begründeten Verdacht, daß Bush seine Weisheit der oberflächlichen Durchsicht von »Bowditchs Seefahrer« verdanke, den ich auf dem Bureautisch hatte liegen sehen, und beschloß insgeheim, sobald ich wieder am Lande sei, mir alle Seegeschichten Marryats anzuschaffen und ihn das nächste Mal mit einem wahren Sturzbad nautischer Gelehrsamkeit zu überschütten, so daß ihm nur übrig bliebe, in »seines Nichts durchbohrendem Gefühle« die Augen niederzuschlagen. In irgend einem Roman von Cooper hatte ich von blinden Passagieren, Jungfern und Katzhaken gelesen, und da ich nicht für eine unwissende Landratte gehalten sein wollte, starrte ich ins Takelwerk und machte einige sehr allgemeine Bemerkungen über Jungfern und Besahasbaum. Der Kapitän beraubte mich jedoch schnell meines Nimbus, indem er mich kategorisch fragte, ob ich je bei Backstagswind den Besahasbaum mit der Vormarsraa ineinander geklemmt gesehen hätte. Schüchtern erwiderte ich, daß ich meines Wissens noch nie Zeuge einer derartigen Katastrophe gewesen, und da er sich mit mitleidigem Lächeln über meine Unwissenheit an Bush wandte, begab ich mich zähneknirschend in den unteren Schiffsraum, um einen kritischen Blick in die Speisekammer zu werfen. Hier fühlte ich mich mehr zu Hause. Die langen Reihen von Konservenbüchsen mit Ochsenfleisch, kondensierter Milch, Obst und ein kleines Faß 7 mit geheimnisvoller Inschrift besänftigten mein erbittertes Gemüt und benahmen mir allen Zweifel darüber, daß die »Olga« seetauglich und nach der neuesten verbesserten Methode der Schiffsbaukunst konstruiert sei.

Ich stieg wieder auf Deck und teilte Bush mit, daß meine eingehende Inspektion der unteren Schiffsräume zu meiner Zufriedenheit ausgefallen sei; welcher Art meine Beobachtungen gewesen, verschwieg ich wohlweislich; aber er that keine verfänglichen Fragen, und wir erstatteten im Bureau günstigen Bericht über Bau, Tragfähigkeit und Ausstattung des Schiffes.

Samstag, den 1. Juli, nahm die »Olga« die letzte Ladung an Bord und wurde auf den Strom geholt.

Unsere Abschiedsbriefe in die Heimat waren schnell geschrieben, und um neun Uhr Montagmorgen versammelten wir uns auf dem Quai der Howardstraße, wo der Schlepper lag, der uns in See bugsieren sollte.

Eine große Anzahl von Freunden war gekommen, um Abschied von uns zu nehmen, und der mit hellen Gewändern und blauen Uniformen bedeckte Hafendamm nahm sich im klaren, warmen Sonnenschein Kaliforniens ganz festtäglich aus.

Oberst Bulkley erteilte seine letzten Befehle und gab uns viele herzliche Wünsche für Gesundheit und Erfolg mit auf den Weg; die weniger glücklichen zurückbleibenden Kameraden wurden lachend zum Besuch in Kamtschatka eingeladen; Bitten, Muster des Nordpoles und Nordlichtes einzuschicken, mischten sich mit Anweisungen über Vögelausstopfen und Käfersammeln, und in das allgemeine Durcheinander von Glückwünschen, Warnungen, Scherzreden und thränenreichen Abschiedsworten tönte die Glocke des Dampfers. Dall, dem die Interessen seiner geliebten Wissenschaft immer am meisten am Herzen lagen, schüttelte mir herzlich die Hand und sagte: »Lebe wohl, Georg! Gott sei mit Dir! Schaue fleißig nach Landschnecken und Schädeln von wilden Tieren aus!«

Fräulein B. bat: »Sorgen Sie für meinen geliebten Bruder«; und indem ich versprach, ebensogut für ihn zu 8 sorgen wie für mich selbst, gedachte ich einer fernen Schwester, die, wenn anwesend, gewiß dieselbe Bitte geäußert haben würde. Unter Taschentücherschwenken und Abschiedsrufen setzte sich der Dampfer in Bewegung und fuhr in weitem Halbkreis auf die »Olga« zu. Wir bestiegen die kleine Brigg, die uns die nächsten zwei Monate als Heimat dienen sollte. Der Dampfer bugsierte uns zum goldenen Thor hinaus und band los. Als derselbe auf der Rückfahrt an uns vorüber fuhr, standen unsere Freunde mit dem Oberst auf dem Vorderdeck und brachten ein dreimaliges Hoch auf die »erste sibirische Erforschungsexpedition« aus. Wir erwiderten dasselbe, es war unser letzter Abschied von der Civilisation; schweigend beobachteten wir den immer kleiner werdenden Dampfer, bis das weiße Taschentuch, das Arnold an die Pardunen gebunden hatte, unseren Blicken entschwand; wir schaukelten allein auf den Wogen des stillen Ozeans. 9

 


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