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Brigg Olga, auf See 200 Meilen von Kamtschatka,
17. August 1865.
Unsere Reise naht ihrem Ende; nach sieben langen Wochen kalten, regnerischen und stürmischen Wetters sollen unsere Augen bald durch den Anblick von Land erquickt werden, nach dem sich der geplagteste Seemann nicht mehr sehnen kann als wir. Selbst das Geräusch von Fegen und Schrubben, das vom Verdeck an mein Ohr dringt, verkündet die Nähe des Landes. Das Schiff bekommt Toilette gemacht, damit es sich in Gesellschaft zeigen kann. Gestern abend waren wir nur noch 255 Meilen von Petropawlowsk entfernt, und wenn der günstige Wind anhält, hoffen wir morgen nachmittag daselbst zu landen. Seit heute morgen herrscht übrigens vollkommene Windstille, so daß wir uns auf Samstag werden vertrösten müssen.
Auf See, auf der Höhe von Kamtschatka,
Freitag, 18. August 1865.
Heute morgen weht eine frische Brise; die Brigg hat alle Segel entfaltet, die ihr zu Gebote stehen, und eilt in dichtem Nebel, der die Bramsegel unsichtbar macht, ihrem Ziele zu. Sollte der Wind anhalten und der Nebel sich zerstreuen, so können wir hoffen, heute abend Land zu sehen. 20
11 Uhr vormittags.
Soeben komme ich von der Bramraa, wo ich drei Stunden lang mich in unbehaglichster Weise an die Pardunen angeklammert und nach Land ausgeschaut habe. Obgleich der Himmel wolkenlos ist, können wir auf drei Schiffslängen nichts erkennen. Möven, Tölpel, Tauchenten, Fischreiher und Solandgänse umgeben das Schiff in großer Anzahl, und auf dem Wasser treibt Seenessel in Hülle und Fülle.
Mittags.
Vor einer halben Stunde ist der Nebel in die Höhe gegangen, und um 11 Uhr 40 Minuten rief der Kapitän, der den Horizont mit seinem Glase durchforscht hatte: »Land! Land! Hurrah!« und der Ruf wurde vom Vorsteven bis zum Hintersteven, von der Schiffsküche bis zur Bramraa jubelnd wiederholt. Bush, Mahood und der Major liefen zur Back; der kleine bucklige Proviantmeister stürzte, die Hände voll Teig, wie besessen aus der Küche und erkletterte die Schanzkleidung; die Matrosen erklommen das Takelwerk, und nur der Mann am Steuer behauptete seine Selbstbeherrschung. In weiter Ferne erschienen in schwach leuchtenden Umrissen über dem Horizonte zwei kegelförmige Gipfel, die sich kaum vom Blau des Himmels abhoben; nur der weiße Schnee in ihren tiefen Schluchten war sichtbar. Es waren die Berge Witlutschinski und Awatscha an der noch hundert Meilen entfernten Küste von Kamtschatka. Der Major betrachtete sie lange mit dem Fernrohr, wies stolz mit der Hand darauf hin und sagte mit einem Ausbruch nationaler Begeisterung: »Sie sehen hier mein Vaterland vor sich – das große russische Kaiserreich!« Der plötzlich wieder niederfallende Nebel machte seiner Tirade ein Ende! Er rief mit einem unwilligen Blick: »Es ist wunderbar! Nebel, Nebel, nichts als Nebel!«
In Zeit von fünf Minuten war jegliche Spur »des großen russischen Reiches« verschwunden, und wir begaben uns in freudigster Erregung zum Mittagessen. Nur der kann sich einen Begriff von unserer Stimmung 21 machen, der 46 Tage im nördlichen Teil des Stillen Ozeans herumgeschwommen ist.
4 Uhr nachmittags.
Soeben sind wir von neuem durch den Anblick des Landes erfreut worden. Vor einer halben Stunde konnte ich von der Bramraa aus, wo ich postiert war, sehen, daß der Nebel anfing zu weichen, und einen Augenblick später hob er sich langsam, wie ein riesiger, grauer Vorhang, enthüllte das Meer und den tiefblauen Himmel; eine Flut rosigen Lichtes ergoß sich von der untergehenden Sonne, und vor uns entrollte sich ein Bild von wunderbarer Schönheit. Hundert und fünfzig Meilen nach Norden und Süden dehnte sich die großartige Küstenlinie von Kamtschatka. In purpurnem Duft entstiegen die schroffen Vorgebirge dem blau schimmernden Meere; hier und da huschten weiße Wölkchen und flockige Nebelstreifen darüber hin und verschwanden in dem blendend weißen Schnee der höheren Spitzen. Zwei thätige Vulkane, zehn- und sechzehntausend Fuß hoch, überragten das Gewirre der vielgezackten, niederen Bergreihen, und ihre mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel hoben sich scharf vom tiefen Azur des Himmels ab, während ihr Fuß sich bereits in dunkle Abendschatten hüllte. Einer Fatamorgana gleich war das Bild vor uns aufgetaucht und schien in der klaren Atmosphäre höchstens fünfzehn Meilen entfernt zu sein. Kaum fünf Minuten später hatte sich der graue Nebelvorhang wieder darauf herabgesenkt, und wir hätten uns für die Opfer einer täuschenden Vision halten können, so vollständig war die ganze Pracht unseren Blicken entrückt. Dichter, nasser Nebel umgab uns von allen Seiten.
Petropawlowsk, Kamtschatka.
19. August 1865.
Gestern bei einbrechender Nacht glaubten wir ungefähr fünfzehn Meilen vom Kap Pavorotni entfernt zu sein, aber da der Nebel dicker und undurchdringlicher war als je, wagte der Kapitän nicht weiter zu fahren. 22 Das Schiff wurde also gewendet, und wir kreuzten hin und her, lagen von dem Lande ab und segelten wieder auf dasselbe zu und harrten des Sonnenaufganges und klarer Luft, um uns in Sicherheit der Küste nähern zu können. Gegen fünf Uhr fand ich mich auf Deck ein. Der Nebel war dick und kalt, und ein frischer Südostwind trieb uns weiß schäumende Wellen entgegen. Kurz vor sechs Uhr wurde es hell; der Kurs der Brigg wurde landwärts gerichtet, und dieselbe gewann mit der Fock, dem Klüver und den Marssegeln gleichmäßige Fahrt durch das Wasser. Der Kapitän schritt, das Fernrohr in der Hand, unruhig auf dem Hinterdeck hin und her, spähte bald nach dem Horizont, bald luftwärts, um zu entdecken, ob noch keine Aussicht auf besseres Wetter sei. Einigemal war er im Begriff, das Schiff wieder wenden zu lassen, da er fürchtete, in dem undurchdringlichen Nebel an die Leeküste zu laufen; schließlich jedoch klärte es sich auf, der Nebel verschwand, und die Horizontlinie erschien klar und bestimmt. Aber zu unserem größten Erstaunen zeigte sich auch nicht ein Fuß breit Land in irgend welcher Richtung! Die lange Reihe blauer Berge, welche am gestrigen Abend in Zeit von einer Stunde erreichbar geschienen, die majestätischen Schneegipfel, die unergründlichen Schluchten, die schroffen Vorgebirge, alles war verschwunden!
Nichts verkündete das Vorhandensein von Land im Bereich von tausend Meilen, außer den zahlreichen Vögeln mannigfaltigster Art, welche in die Nähe der Brigg kamen und mit plätscherndem Geräusch unter dem Bug unseres Schiffes aufflogen. Über das plötzliche Verschwinden der Küste wurden alle möglichen Theorieen aufgestellt. Der Kapitän meinte, eine starke Strömung habe uns während der Nacht in südöstlicher Richtung seewärts getragen. Bush behauptete, die Brigg sei über das Land weggefahren, während der Steuermann schlief, und dieser beteuerte in feierlichem Tone, das von uns geschaute Land wäre eine Luftspiegelung gewesen. Der Major fand es höchst w–u–n–der–bar, wagte sich aber nicht an die Lösung des Problems. –
23 Ein günstiger Wind blies aus Südost, und wir fuhren mit einer Geschwindigkeit von sieben Knoten. Acht Uhr – neun Uhr – zehn Uhr – noch immer kein Land, obgleich wir seit Tagesanbruch mehr als dreißig Meilen zurückgelegt hatten. Um elf Uhr jedoch verdunkelte sich der Horizont allmählich und in einer Entfernung von nur vier Meilen wurde plötzlich ein Vorgebirge sichtbar, das in einer schroffen Klippe endete. Eine große Aufregung bemächtigte sich aller. Die Bramsegel wurden sofort gerefft, um die Fahrgeschwindigkeit zu vermindern, und der Kurs geändert, so daß wir auf drei Meilen Entfernung, die Seite der Brigg der Küste zugekehrt, eine große Kurve umschrieben. Die Berggipfel, die zu unserer Orientierung hätten beitragen können, waren in Wolken und Nebel gehüllt, und es war nicht leicht, herauszufinden, wo wir uns eigentlich befanden. In der Ferne zur Linken tauchten im Nebel die unklaren Umrisse von zwei oder drei weiteren Vorgebirgen auf, aber ihre Namen oder die Lage von Petropawlowsk waren niemand bekannt. Der Kapitän holte seine Seekarten, seinen Kompaß und seine Zeicheninstrumente auf Deck, deponierte sie auf dem Oberlicht der Kajüte und fing an, die Lage der verschiedenen Vorgebirge zu bestimmen, während wir mit Ferngläsern das Ufer genau untersuchten und uns in Vermutungen ergingen. Die russische Karte, welche der Kapitän von der Küste besaß, war glücklicherweise eine gute, und er hatte bald festgestellt, daß wir uns nördlich vom Kap Pavorotni und ungefähr neun Meilen südlich vom Eingang der Awatscha-Bai befanden. Die Raaen wurden jetzt vierkant gebraßt, und wir verfolgten, von einem gleichmäßigen Südostwind begünstigt, den neuen Kurs. In einer kurzen Stunde kamen wir in Sicht der hohen isolierten Felsen, die »drei Brüder« genannt, fuhren an einer felsigen, steilen Insel vorüber, die von einer Unzahl schreiender Möwen und Enten mit Papageienschnäbeln umgeben war, und gegen zwei Uhr befanden wir uns auf der Höhe der Landzunge, welche die Awatscha-Bai bildet, und auf der das Dorf 24 Petropawlowsk liegt. Die Scenerie übertraf unsere kühnsten Erwartungen. Grüne Thäler zogen sich von den Einschnitten der felsigen Küste bis in die fernen Berge; Gruppen gelber Birken standen auf dem abgerundeten, steilen Ufer, und die warmen, geschützten Abhänge der Hügel hatten dichte Büsche des dunkelgrünen Chaparal und eine große Menge Blumen aufzuweisen, und als wir an dem Leuchtturme vorüberfuhren, rief Bush freudig aus: »Hurrah! da wächst Klee!« »Klee,« wiederholte verächtlich der Kapitän, »in der arktischen Region giebt es keinen Klee!« »Wie können Sie das wissen,« versetzte Bush, »Sie sind nie dort gewesen. Es sieht wie Klee aus, und« – indem er durch das Glas sah – »wahrhaftig, es ist Klee,« sagte er und war so vergnügt, als ob ihn diese Entdeckung in Bezug auf das Klima Kamtschatkas von jeder Sorge befreit hätte. Der Klee war für Bush eine Art vegetabilischer Exponent, aus dessen Anblick er in einer von Darwin nie geahnten Weise die ganze üppige Flora der gemäßigten Zone »entwickelte«.
Mit dem Namen Kamtschatka hatten wir in unserem Geiste stets die Vorstellung von Unfruchtbarkeit und Unwirtlichkeit verbunden, und der Gedanke wäre uns gar nicht gekommen, daß dies Land schöne Scenerie oder üppige Vegetation bieten würde. Wir hielten es für eine ausgemachte Sache, daß in dem eisigen Klima höchstens Moose, Flechten und vielleicht noch ein wenig Gras den ungleichen Kampf ums Dasein führen könnten. Man kann sich vorstellen, mit welchem Entzücken und welcher Überraschung unser Auge auf den grünen Hügeln ruhte, die mit Bäumen und Gebüsch bedeckt waren, auf Thälern mit weiß blühendem Klee und Hainen von Silberbirken; selbst von den Felsen nickten uns wilde Rosen und Akelei zu, die in den Spalten derselben Wurzel gefaßt, als ob die Natur die Beweise früherer Umwälzungen unter einer Blumenhülle verbergen wolle.
Kurz vor drei kamen wir in Sicht des Dorfes Petropawlowks – eine kleine Gruppe von Blockhäusern mit roten Dächern; eine griechische Kirche von eigentümlichem Stil mit grüner Kuppel, ein schmaler Strand, 25 ein höchst vernachlässigter Landungsplatz, zwei Walfischboote und das abgetakelte Wrack eines halbversunkenen Schiffes, das war es, was sich unseren Blicken darbot. Hohe, mit Bäumen verdeckte Hügel umgaben das Dorf in einem Halbkreise und umschlossen fast den teichartigen, ruhigen Hafen, eine kleine Bucht der Awatscha-Bai. Unter Fock- und Groß-Marssegel glitten wir im Schatten der umgürtenden Hügel in diesen landumschlossenen Mühlteich, und keinen Steinwurf weit vom nächsten Hause wurden die Segel plötzlich gerefft, und mit einem Schwanken des Schiffes und dem Gerassel der Kette senkte sich unser Anker in den Boden Asiens. – 26