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Eins der ersten Dinge, die dem Reisenden in einem fremden Lande auffallen, ist die Sprache, und in Kamtschatka, Sibirien oder irgend einem anderen Teil des Zarenreiches ist dieselbe ganz besonders bemerkenswert. Wessen sich nur die Russen beim Turmbau von Babel schuldig gemacht haben, daß sie mit einem so komplizierten, verdrehten, ganz und gar unbegreiflichen Mischmasch von Sprache bedacht worden sind? Vielleicht haben sie ihre Seite des Turmes höher gebaut, als die anderen Stämme, und die Strafe für diesen sündigen Fleiß ist das Kauderwelsch unverständlicher Laute, das kein Mensch zu bemeistern hoffen kann, ehe er zu alt und schwach ist, als daß er sich an einem anderen Turmbau beteiligen könnte. Auf welche Weise sie auch dazu gekommen sein mögen, die Sprache ist ein Pfahl im Fleische für alle Reisenden im russischen Reiche. Einige Wochen, ehe wir Kamtschatka erreichten, beschloß ich, wenn möglich, mir einige notwendige Redewendungen anzueignen, die mir im Verkehr mit den Eingeborenen von Nutzen sein mußten, unter anderem die einfache Bitte: »Geben Sie mir etwas zu essen.« Ich vermutete, daß dies dem dringendsten Bedürfnisse genügen würde und wollte den Satz so gut lernen, daß ich wenigstens nie durch meine Unwissenheit in Gefahr käme, Hungers zu sterben. Ich bat also 35 eines Tages den Major, mich den entsprechenden russischen Ausdruck zu lehren. Er erwiderte, wenn ich etwas zu essen wünsche, sollte ich sagen: »Waschhavwe sokiblagarodiace wilikitp rewoskhoditelsvoi takdalschai«. Ich glaube, nie im Leben habe ich vor den Kenntnissen eines Mannes ein Gefühl solch ehrfuchtsvoller Bewunderung empfunden, wie vor denen des Majors, als er diesen halsbrechenden Satz ganz fließend und mit Grazie aussprach. Wie viele Jahre geduldiger Arbeit mußten seiner ersten Bitte um Nahrung vorausgegangen sein! Die unermüdliche Ausdauer, die zur Bewältigung der Schwierigkeiten einer solchen Sprache gehörte, versetzte mich in bewunderndes Erstaunen. Wenn der einfache Satz: »Geben Sie mir etwas zu essen« scheinbar so unüberwindliche Schwierigkeiten der Aussprache bot, wie groß mußten erst dieselben sein, wenn es sich um die schwerer verständlichen Fragen theologischer oder metaphysischer Wissenschaft handelte? – Meine Einbildungskraft war entsetzt bei dem Gedanken.
Ich sagte dem Major, er möge den schrecklichen Satz auf ein großes Plakat drucken lassen und mir dies um den Hals hängen, denn das Erlernen desselben sei ein Ding der Unmöglichkeit, ich habe auch gar nicht die Absicht, es zu versuchen. Später entdeckte ich, daß er meine Unerfahrenheit und mein Vertrauen benutzt, und mir einige der schlimmsten und längsten Wörter seiner barbarischen Sprache vorgesagt hatte, um sich über mich lustig zu machen; die wirkliche Übersetzung meines Satzes ins Russische wäre wahrhaftig schon schlimm genug gewesen.
Das Russische ist meiner Ansicht nach die schwierigste aller modernen Sprachen ohne Ausnahme. Die Hauptschwierigkeit liegt nicht, wie man vermuten könnte, in der Aussprache. Die Wörter werden alle phonetisch buchstabiert und besitzen nur einige dem Englischen fremde Laute; aber die Grammatik ist außerordentlich verwickelt und kompliziert. Sie hat sieben Fälle und drei Geschlechter, und da die letzteren von keiner Regel abhängen, sondern ganz willkürlich gebraucht werden, 36 ist es für einen Ausländer fast unmöglich, sie so zu erlernen, daß er den Dingwörtern und Eigenschaftswörtern die erforderliche Endung geben kann. Der Wortreichtum der Sprache ist sehr groß. Das eigentümlich Charakteristische des Idioms kann nur der schätzen, der mit der volkstümlichen Ausdrucksweise der russischen Bauern gründlich vertraut ist.
Das Russische steht wie alle indo-europäischen Sprachen in enger Beziehung zum alten Sanskrit und scheint in höherem Grade als alle anderen die alten Wörter der Vedas unverändert beibehalten zu haben. Die ersten zehn Zahlwörter, wie sie die Hindus tausend Jahre vor der christlichen Zeitrechnung gebrauchten, würden mit ein oder zwei Ausnahmen noch heutzutage von einem russischen Bauern verstanden werden.
Während unseres Aufenthaltes in Petropawlowsk lernten wir das Russische für »Ja«, »Nein« und »Wie geht es Ihnen?« und waren nicht wenig stolz auf unsere Fortschritte.
Sowohl die Russen wie die Amerikaner in Petropawlowsk nahmen uns mit größter Herzlichkeit auf, und die ersten Tage unseres Aufenthaltes waren eine ununterbrochene Kette von Besuchen und Gastmählern. Am Donnerstag machten wir einen Ausflug zu Pferde nach dem zehn bis fünfzehn Werst entfernten kleinen Dorf Awatscha, jenseits der Bai und waren vollständig bezaubert von der Scenerie, dem Klima und der Vegetation dieser schönen Halbinsel. Die Straße wand sich längs dem klaren, blauen Wasserspiegel der Bucht um grasige und waldige Hügel und gestattete den Ausblick auf die kühnen, purpurnen Vorgebirge, welche die Pforte zum Meere bildeten; dann und wann tauchten zwischen Gruppen von Silberbirken malerische, schneebedeckte Berge auf, die sich auf der westlichen Küste, bis zu dem zwischen dreißig und vierzig Meilen entfernten einsamen weißen Gipfel des Wiliutschinsk hinzogen. Die Vegetation war überall fast tropisch in ihrer Üppigkeit. Wir konnten, ohne uns aus dem Sattel zu beugen, Hände 37 voll Blumen pflücken, und das wilde, hohe Gras, durch das wir ritten, ging uns bis an den Gürtel. Entzückt, italienisches Klima vorzufinden, wo wir die schneidende Luft Labradors erwartet, und begeistert von der landschaftlichen Schönheit, weckten wir das Echo der Hügel mit amerikanischen Liedern, jauchzten, jubelten, ließen unsere kleinen Kosakenpferde um die Wette rennen, bis die untergehende Sonne uns an die Heimkehr mahnte.
Nach in Petropawlowsk eingezogenen Erkundigungen entwarf der Major Abaza für den kommenden Winter folgenden Operationsplan. Mahood und Bush sollten auf der Olga nach der Amurmündung segeln und von diesem Punkte aus die rauhe Gebirgsregion westlich vom ochotskischen Meere und südlich vom russischen Seehafen Ochotsk erforschen, während der Major und ich mit einer Abteilung Eingeborener in nördlicher Richtung durch die Halbinsel Kamtschatka vordringen wollten, um den mittleren Teil der geplanten Telegraphenlinie zwischen Ochotsk und der Behringsstraße festzustellen. Einer von uns sollte sich dann westlich wenden, um mit Mahood und Bush bei Ochotsk zusammenzutreffen, und der andere nördlich nach der russischen Handelskolonie Anadyrsk, ungefähr vierhundert Meilen westlich von der Behringsstraße. Auf diese Weise mußten wir das ganze Gebiet kennen lernen, das unsere Linie durchschneiden sollte, außer der öden Strecke zwischen Anadyrsk und der Behringsstraße, welche unser Befehlshaber späterer Erforschung vorbehielt. In Anbetracht unserer Umstände und geringen Zahl war dieser Plan wahrscheinlich der beste, aber er bedingte auch, daß der Major und ich den ganzen Winter ohne einen anderen Begleiter als unsere eingeborenen Fuhrleute reisten. Da ich nicht russisch sprach, war es ein Ding der Unmöglichkeit, ohne Dolmetscher fertig zu werden, und so nahm der Major einen jungen, amerikanischen Kaufmann in Dienst, Namens Dodd, der sich seit sieben Jahren in Petropawlowsk aufgehalten und mit der russischen Sprache und den Sitten und Gebräuchen der Eingeborenen vertraut war. Mit dieser Verstärkung waren unserer fünf, die in drei 38 Abteilungen geteilt, die Westküste des ochotskischen Meeres, die Nordküste und das Land zwischen dem Ozean und dem nördlichen Polarkreis erforschen sollten. Alle Einzelheiten, wie Beschaffung von Transport- und Subsistenzmitteln blieben den einzelnen Abteilungen überlassen. Das Land selbst sollte uns mit allem versorgen. Es war nicht gerade eine Vergnügungstour, die wir vorhatten. Die russischen Behörden erteilten uns Auskunft und leisteten Hilfe, soweit dies in ihrer Macht stand, aber sie verhehlten nicht ihre Zweifel darüber, daß es fünf Männern gelänge, die achtzehnhundert Meilen unfruchtbaren, fast unbewohnten Landes zwischen dem Amur und der Behringsstraße zu erforschen. Daß der Major noch diesen Herbst durch die Halbinsel Kamtschatka vordringe, hielten sie für höchst unwahrscheinlich, daß er aber gar in die weiten, öden Steppen noch weiter nördlich, die nur von wandernden Tschutschken und Korjäken durchzogen werden, gelangen könne, galt ihnen für absolut unmöglich.
Samstagmorgen den 26. August segelte die »Olga« mit Mahood und Bush nach dem Amur ab und ließ den Major, Dodd und mich in Petropawlowsk zurück, von wo wir unseren Weg nordwärts durch Kamtschatka einschlagen sollten.
Da der Morgen klar und sonnig war, mietete ich ein Boot und begleitete Bush und Mahood in See.
Indem wir in der frischen Landbrise langsam unter den Klippen der Westküste dahinfuhren, leerte ich ein Glas auf das Gelingen der »Amur-Erforschungs-Abteilung«, schüttelte dem Kapitän die Hand, sagte ihm noch etwas Verbindliches über seine holländische Geschichte und nahm Abschied von Steuerleuten und Matrosen. Der zweite Steuermann schien bei dem Gedanken an die Gefahren, denen ich in dem heidnischen Lande ausgesetzt sein würde, ganz von Rührung bewältigt und rief: »O, Herr Kinney! (er konnte nicht Kennan sagen) wer wird denn für Sie kochen, und was werden Sie ohne Kartoffeln machen?« als wenn eine Existenz ohne Koch und der Mangel an Kartoffeln der Inbegriff alles irdischen 39 Elendes sei. Ich versicherte ihn, daß wir selbst kochen und Wurzeln essen könnten, aber er schüttelte traurig sein Haupt, als oh eine prophetische Vision ihm den trostlosen Zustand zeige, in den sibirische Wurzeln und unsere eigene Kochkunst uns unfehlbar versetzen müßten. Bush erzählte mir später, er habe auf der Reise nach dem Amur den zweiten Steuermann häufig in tiefes, melancholisches Sinnen versunken gesehen, und nach der Ursache seines Grübelns befragt, hätte er mit unbeschreiblicher Wehmut die Worte hervorgestoßen: »Armer Herr Kinney! Armer Herr Kinney!« – »Armer Herr Lemon!« um mich seines eigenen Ausdrucks zu bedienen. Trotz des Skepticismus, mit dem ich seine Seeschlange behandelte, hat er mir doch ein Plätzchen in seinem Herzen eingeräumt, wenn ich auch erst nach seiner Lieblingskatze »Tommy« und den Schweinen an die Reihe kam. –
Als die Olga ihre Bramsegel anholte, ihren Kurs mehr östlich nahm und langsam zwischen den Vorgebirgen dahinfuhr, erhaschte ich den letzten Blick von Bush, der auf dem Hinterdeck stand und einige unverständliche Worte mit seinem Arm im Morsealphabet telegraphierte. Ich schwang meinen Hut als Antwort, wandte mich mit schwerem Herzen dem Ufer zu und befahl den Leuten, tüchtig drauf los zu rudern. Die »Olga« war fort, und das letzte Band zwischen der civilisierten Welt und uns schien zerschnitten. 40