George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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6. Kapitel.

Nach der Abfahrt der Olga von Petropawlowsk benutzten wir unsere Zeit fast ausschließlich zu Vorbereitungen für unsere Reise durch die Halbinsel Kamtschatka. Am Dienstag jedoch benachrichtigte mich Dodd, daß eine Trauung in der Kirche stattfinden solle, und forderte mich auf, der Ceremonie beizuwohnen. Dieselbe sollte nach Schluß des Morgengottesdienstes vollzogen werden, der gerade zu Ende war, als wir eintraten. Es fiel mir nicht schwer, das glückliche Paar herauszufinden, das durch das heilige Band der Ehe verbunden werden sollte. Ihre erkünstelte Unbefangenheit und Gleichgiltigkeit verriet sie.

Der glückliche Bräutigam, ein rundköpfiger, ungefähr zwanzigjähriger Kosak, trug einen dunkeln, mit Scharlach ausgeschlagenen, kurzen Überrock, der wie ein Frauenkleid um die Taille eingezogen war. Letztere hatte man, ohne alle Berücksichtigung des Wuchses, sechs Zoll unterhalb der Achselhöhlen endigen lassen. Zu Ehren des Tages hatte der junge Mann sich einen großen, weißen Stehkragen zugelegt, der bis über seine Ohren emporragte. Durch einen bedauernswerten Mangel von Einverständnis zwischen seinen baumwollenen Hosen und seinen Schuhen blieben dieselben sechs Zoll weit von einander entfernt, und es war keine Vorkehrung getroffen, um dem Übelstand abzuhelfen. Die Braut war 41 eine verhältnismäßig alte Frau, wenigstens zwanzig Jahre älter als ihr Zukünftiger, und Witwe. Mit einem Seufzer gedachte ich der warnenden Abschiedsworte, die der ältere Mr. Weller an seinen Sohn richtete: »Sei auf deiner Hut vor den Witwen, Sammy – sei auf deiner Hut vor den Witwen!« Was würde der alte Herr wohl dazu sagen, wenn er dieses unbewußte »Opfer« mit Stolz über seine Eroberung zum Altare schreiten sähe! Das Kleid der Braut war von Möbelkattun ohne irgend welche Verzierung. Ob der Rock abgeschrägt war oder nicht, kann ich nicht verraten, da die Schneiderkunst für mich eine Wissenschaft mit sieben Siegeln ist. Das Haar der Braut war in ein rotseidenes Tuch festgebunden. Sobald der Gottesdienst beendigt war, wurde der Altar in die Mitte des Raumes gerückt; der Priester bekleidete sich mit einem Gewand aus schwarzer Seide, das zu seinen schweren Stiefeln durchaus nicht paßte, und citierte das Paar vor sich.

Nachdem er jedem drei mit einem blauen Bande zusammengebundene brennende Kerzen in die Hand gegeben, las er mit lauter, sonorer Stimme, was ich für die Trauungsformel hielt; Interpunktionszeichen gab es nicht; er hielt nur ein, um Atem zu schöpfen, und dann ging's mit verdoppelter Geschwindigkeit weiter. Die Heiratskandidaten sagten gar nichts, aber der Diakonus, der auf der anderen Seite der Kirche angelegentlich zum Fenster hinausschaute, sang dann und wann klägliche Responsorien.

Als das Lesen beendet war, bekreuzten sich alle ein halbes Dutzend mal hintereinander inbrünstiglich; dann kam die entscheidende Frage, und der Priester überreichte jedem einen silbernen Ring. Nach abermaligem Lesen erhielten Braut und Bräutigam einen Theelöffel voll Wein aus einem Kelch. Dann folgte nochmaliges, schier endloses Lesen und Singen, während das junge Paar sich unaufhörlich bekreuzigte, bald niederkniete, bald aufstand, und nun schloß der Diakonus seine Responsorien damit ab, daß er mit geradezu verblüffender Geläufigkeit in fünf Sekunden fünfzehnmal die Worte 42 wiederholte: »Gáspodi, pomilui«, »Gott sei uns gnädig«. Nun brachte er zwei vergoldete, mit Schaumünzen verzierte Kronen, blies den Staub davon ab, der sich seit der letzten Trauung darauf angesammelt, und drückte sie der Braut und dem Bräutigam aufs Haupt.

Die Krone des Kosaken war so weit, daß sie ihm wie ein Lichthütchen über den Kopf glitt, bis sie an den Ohren Halt fand und seine Augen vollständig bedeckte. Die Frisur der Braut schloß die Möglichkeit, daß eine Krone darauf hätte sitzen bleiben können, vollständig aus; daher wurde einer der Zuschauer beauftragt, dieselbe festzuhalten. Jetzt legte der Priester die Hände des jungen Paares ineinander, ergriff selbst die andere Hand des Bräutigams, und es begann ein Dauerlauf um den Altar – voran der Priester, dann der durch die Krone am Sehen verhinderte Kosak, der seinem Führer beständig auf die Fersen trat; diesem folgte die Braut, die übermenschliche Anstrengungen machte, damit ihr die Krone die Frisur nicht herunterziehe, und endlich und zuletzt der Überzählige, welcher der Braut auf den Rock trat und mit großer Mühe das vergoldete Abzeichen königlicher Würde an seine Stelle zu fesseln suchte. Der ganze Aufzug war so unbeschreiblich lächerlich, daß ich mich vergeblich bestrebte, meinen Zügen den der Feierlichkeit entsprechenden Ausdruck zu verleihen; ich war nahe daran, der ganzen Versammlung durch unbezwingliches Lachen Ärgernis zu geben. Dreimal ging's um den Altar herum – und die Ceremonie war beendet. Das junge Ehepaar küßte ehrfurchtsvoll die Kronen, die es ablegte, schritt durch die ganze Kirche, bekreuzte und verneigte sich vor allen Heiligenbildern, welche die Wände schmückten, und war schließlich bereit, die Glückwünsche der anwesenden Freunde entgegenzunehmen. Es wurde natürlich erwartet, daß der vornehme Amerikaner, von dessen Geist, Höflichkeit und Leutseligkeit man schon so viel gehört hatte, nicht versäumen werde, der jungen Frau zu gratulieren. Aber wie sollte der vornehme, unglückliche Amerikaner dies anfangen? Seine Kenntnisse des Russischen beschränkten sich auf 43 »Ja«, »Nein« und »Wie geht es Ihnen?« Das alles paßte doch nicht zur Gelegenheit. Da es mir aber sehr wünschenswert schien, meinen Nationalruf von Höflichkeit nicht aufs Spiel zu setzen, schritt ich feierlich, und ich fürchte recht linkisch, auf die Neuvermählte zu und erkundigte mich mit einer tiefen Verbeugung und in recht schlechtem Russisch nach ihrem Befinden. Sie erwiderte huldvollst: »cherasowechiano khorasho pakornashae blagadoru«, und der vornehme Amerikaner zog sich mit dem stolzen Bewußtsein zurück, seine Pflicht erfüllt zu haben. Wie's um das Befinden der jungen Frau stand, hätte ich freilich nicht verraten können, aber aus der Leichtigkeit, mit welcher der ungeheuerliche Satz ihr von den Lippen floß, schloß ich, daß dasselbe befriedigend sein müsse. Vor Lachen beinah erstickend, eilten Dodd und ich aus der Kirche und in unsere Quartiere. Der Major teilte mir später mit, daß eine Trauung nach dem griechischen Ritus etwas ganz besonders Feierliches sei und einen tiefen Eindruck hinterlasse; ich werde wohl nie mehr einer solchen beiwohnen können, ohne durch die Erinnerung an den armen Kosaken und die lächerliche Rolle, die er spielte, gestört zu werden.

Von dem Augenblick an, da der Major sich für die Reise durch Kamtschatka entschieden hatte, widmete er alle Zeit und Kräfte den Vorbereitungen zu derselben. Mit Seehundsfellen überzogene Kasten, die wir an unseren Packsätteln aufhängen könnten, sollten unsere Vorräte aufnehmen; Zelte, Bärenfelle, Lagergeräte aller Art wurden eingekauft und in scharfsinnig kombinierte Bündel verschnürt, und überhaupt alles, was zur Verringerung der Beschwerden des Lebens im Freien beitragen konnte, in genügender Menge für eine zweimonatliche Reise angeschafft. Aus allen umliegenden Dörfern wurden Pferde requiriert, und ein Eilbote vorausgesandt, um die Eingeborenen von unserem Kommen in Kenntnis zu setzen und anzuweisen, mit ihren Pferden nicht von der Stelle zu weichen, bis wir durchgereist seien.

Am 4. September brachen wir nach dem Norden auf.

44 Die Halbinsel Kamtschatka ist eine unregelmäßige Landzunge östlich vom ochotskischen Meere, zwischen dem einundfünfzigsten und zweiundsechzigsten Grade nördlicher Breite mit einer Längenausdehnung von ungefähr 700 Meilen. Sie ist fast ganz vulkanischer Formation, und der wilde Gebirgszug, welcher sie der Länge nach durchschneidet, umfaßt noch jetzt fünf bis sechs thätige Vulkane. Diese ungeheure Gebirgskette, die nicht einmal einen Namen hat, erstreckt sich in ununterbrochener Linie vom einundfünfzigsten bis zum sechzigsten Breitegrad, fällt steil ins ochotskische Meer ab und endigt im Norden in einer steppenartigen Hochebene, auf welcher die Renntier-Korjäken umherziehen. – Die Ausläufer und vorgelagerten Hügel des Hauptgebirges bilden im mittleren und südlichen Teil der Halbinsel tief eingeschnittene, einsame Thäler von wildem, malerischem Charakter, und so majestätischer, mannigfaltiger Schönheit, daß sie in ganz Nordasien einzigartig dastehen. Das Klima ist überall außer im äußersten Norden verhältnismäßig mild und gleichförmig und die Vegetation prangt in einer fast tropischen Frische und Üppigkeit, die aller vorgefaßten Begriffe von Kamtschatka spottet. Die Einwohner, die ich nach sorgfältiger Beobachtung auf ungefähr fünftausend schätze, zerfallen in drei abgesonderte Klassen – die Russen, die Kamtschadalen oder ansässigen Eingeborenen und die Nomadenstämme der Korjäken. Die Kamtschadalen, bei weitem die zahlreichste Klasse, leben in kleinen Dörfern aus Blockhäusern an den Mündungen der Flüßchen, welche im Hauptzuge des Gebirges entspringen und sich ins ochotskische Meer und den stillen Ozean ergießen. Ihre Hauptbeschäftigungen sind Fischfang, Jagd auf Pelztiere, Anbau von Roggen, Rüben, Kohl und Kartoffeln, welche noch bis zum achtundfünfzigsten Breitegrad gedeihen. Die größten Niederlassungen befinden sich in dem fruchtbaren Thale des Kamtschatkaflusses zwischen Petropawlowsk und Klutsche. Die Russen, gering an Zahl, leben hier und da in den kamtschadalischen Dörfern zerstreut und treiben meist Pelzhandel mit den Kamtschadalen und den nomadischen 45 Stämmen des Nordens. Die wandernden Korjäken, die wildesten, mächtigsten und unabhängigsten Eingeborenen der Halbinsel, überschreiten in südlicher Richtung selten den achtundfünfzigsten Breitegrad, außer zu Handelszwecken. Die weiten, öden Steppen östlich vom Penschinagolf sind ihr Lieblingsaufenthalt. Sie ziehen dort beständig umher, wohnen in großen Zelten von Pelzwerk und entnehmen alle Subsistenzmittel ihrer zahlreichen Herde von zahmen Renntieren. Die Regierung, welcher alle Bewohner Kamtschatkas nominell unterworfen sind, wird von einem russischen Beamten, dem »Isprawnik«, oder Lokalgouverneur gehandhabt, der alle Gesetzesfragen zwischen Individuen und Stämmen schlichten soll und den Tribut an Pelzen einsammelt, der von jedem männlichen Bewohner der Provinz erhoben wird. Derselbe residiert in Petropawlowsk, und wegen der großen Ausdehnung seines Jurisdiktionsgebietes und der ungeheuren Verkehrsschwierigkeiten ist er selten außerhalb seines Hauptquartieres zu finden. Die einzigen Transportmittel zwischen den weit zerstreut liegenden Niederlassungen der Kamtschadalen sind Lasttiere, kleine Boote und Hundeschlitten; eine wirkliche Straße giebt es auf der ganzen Halbinsel nicht. Ich werde zwar gelegentlich von Straßen sprechen, meine aber mit dem Worte nur, was der Geometer unter »Linie« versteht, – eine einfache Längenausdehnung ohne eine einzige der Eigenschaften, die man im gewöhnlichen Leben mit dem Begriff »Straße« verbindet.

Durch diese wilde, spärlich bevölkerte Region beabsichtigten wir zu reisen, indem wir unterwegs die Eingeborenen mieteten, damit sie uns auf ihren Pferden von einer Niederlassung zur anderen beförderten, bis wir auf dem Gebiet der Korjäken angelangt wären. Von da an blieb uns nur übrig, auf unser »Glück« und die zärtliche Fürsorge der arktischen Nomaden zu zählen. 46

 


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