Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Des letzten Märchens Ende

Da feierte der junge Königssohn Hochzeit mit der schönen Königstochter.

An diesem Tage war für Angelika und mich die Zeit gekommen, das Märchenland zu verlassen.

Ein neuer König – eine neue Zeit! Wohl eine glückliche Zeit! Aber wir zwei Fremdlinge waren nur zu Gaste und mußten nun wieder heim in unser Leben. So stand es geschrieben im Gesetzbuch des Märchenlandes und auch im Gesetz der eigenen Brust.

Sage nicht viel vom Abschiednehmen, mein kleines Buch! Siehe, es tut weh – dem Kinde und dem Manne.

In lichtem Glücke sind die Wochen vergangen, seit der frohen Stunde, da ich nach Gefahr und Not die Geliebte wiederfand, vergönnt ist es mir gewesen, dem Lande, das mir so viel gastliche Liebe erwies, die Wunden heilen zu helfen, die ihm geschlagen waren; vergönnt, dem reuigen, uuglücklichen Volke tröstliche Worte zu sagen; vergönnt, die Versöhnung und völlige Einigung der beiden Völker mitzuerleben.

Und alle, die ich geliebt hatte, waren glücklich. Sage nur Liebes vom Abschiednehmen, mein kleines Buch! Wie der junge König im strahlenden Herrscherkleide neben Goldina, seiner lieblichen Braut, stand, das sage! Draußen vor dem Palaste wogte schon in stürmischer Festtagsfreude das glückliche Volk. Aber meine Braut und ich waren mit dem jungen Königspaar ganz allein im hohen Saal. Sie küßten uns beide auf Stirn und Augen.

Und der junge König sprach:

»Eure Namen bleiben verzeichnet unter den Namen der Kinder unseres Landes. All unserer Güter seid ihr Erben, solange eure Liebe unserem Land und Volke bleibt. Das Märchenland ist treu jenen, die ihm Treue halten. Wir sind nicht geschieden von einander. Das dünne Krümlein Erde, das uns trennt, hat tausend Öffnungen und Wegemündungen. Schickt nur eurer Sehnsucht Boten, wenn euch bange ist nach uns. Wir werden zu euch sprechen, wenn ihr einsam am Tische sitzt und in das knisternde Lampenlicht träumt, wir werden neben euch sitzen im stillen, verschwiegenen Tal, und unsere Sängerlein werden euch Lieder spielen, wenn ihr mit geschlossenen Augen im hohen Grase liegt. Im Dämmerschein, wenn das Kaminfeuer leuchtet, werden unsere Geister auf eurer Diele tanzen. In duftigen Frühlingsnächten, wenn der Mondschein auf euern Wiesen liegt und ihr hinaustraumt in das Silberlicht, werdet ihr uns Feste feiern sehen. Wir werden euch Freuden und Reichtümer schenken, die keines Menschen Mühe noch Klugheit erwirbt, selbst wenn ihr alt werdet, werden wir nicht vergessen, in euren Augen alle Tage junge Lichter zu entzünden. Behaltet uns nur lieb! Behaltet nur eure Herzen jung und warm!«

So sprach der König.

Eine Stunde später sah ich das Königspaar auf goldenem Thron sitzen, mitten auf dem Marktplatz von Marilkaporta. Eine zweifache Krone schmückte ihre jungen Häupter, und die Vertreter beider Länder knieten huldigend vor ihnen. Das große Einigungswerk war vollbracht. Juventos Vater hatte dem Sohne die eigene Krone zu der im Gotteskampf errungenen geschenkt. Nun war wieder ein Land, ein Volk, ein König.

So waren die, die in der Schlacht gefallen waren, nicht umsonst gestorben.

O, das geschmückte, glückliche Volk! Rosenpracht und Märchenherrlichkett, Schönheit und Wohlklang an allen Enden! In Licht und Verklärung stand das junge Paar und hörte das brausende Lied der Treue, das ihm die Völker sangen.

»Mit diesem lichten Bilde im Herzen wollen wir scheiden,« sagte ich zu der Geliebten.

Und ich nahm sie an der Hand und verließ mit ihr die heilige Stadt.


Wir standen auf einem hohen Berge, demselben Berge, von dem wir im Frühling unsere kurze Reise nach dem Menschenlande angetreten hatten.

Allein wir zwei.

»Kannst du sie noch sehen?« fragte Angelika.

Ich nickte.

Den Bergweg hinunter stiegen vier Männer: Dr. Nein, Stimpekrex, Dr. Schnugu und Schnaff, und drüben auf einem halsbrecherischen Felsenpfade kletterte Brumbu, der Räuber.

Alle kaum noch erkennbar.

Hier oben bei uns waren sie gewesen, hatten uns zum Abschied begleitet.

Stimpekrex war glücklich. Noch wenige Wochen, und er würde seine Braut Elkaguntascha heimführen. Das Scheiden wurde ihm aber doch schwer.

»Ich wünschte, daß mir wieder einmal ein Auftrag würde, Sie zu uns herabzuholen,« sagte er bewegt.

»Und ich wünschte, daß das Gesetz, nach dem jeder, auch der allerverdienstlichste Ausländer nach einem Jahr bei uns zum Lande hinauskomplimentiert wird, der Teufel hole. Es ist unter den vielen blödsinnigen Gesetzen, die wir haben, das blödsinnigste.«

Der Mann, der also zornig redete, war Dr. Nein.

»Verehrter Herr Doktor,« sagte ich, »Sie werden als mein Nachfolger die ›Zeitung‹ sehr gut leiten.«

»Nein, das werde ich nicht, sondern ich werde meine Sache so jämmerlich machen (absichtlich oder unabsichtlich, ist meine Sache!), also ich werde die ›Zeitung‹ so hundsmiserabel redigieren, so in Grund und Boden hineinredigieren, daß Sie bestimmt zur Hilfe gerufen werden müssen. Noch mehr! Ich werde ein neues Gesetz machen, daß Sie einfach wieder herunter müssen, zwangsweise herunter müssen, ich werde dies Gesetz machen, und wenn ich das ganze Parlament in den Verfolgungswahnsinn hineinreden müßte.«

Herr Schnaff war in viel gehobenerer Stimmung. Da der ehrlose Redakteur der »Posaune« spurlos verschwunden war, hatte Herr Schnaff die Chefredakteurstelle dieses Blattes erhalten. Er kam auch jetzt wieder darauf zu sprechen und sagte am Schluß:

»Ich hoffe, daß ich meine Sache machen werde! Mein Programm ist kurz, aber gut: Anständige Sensation.«

Darauf fing Dr. Nein an zu schimpfen. Er schimpfte auf Herrn Schnaff und die »Posaune« im allgemeinen und auf die »anständige Sensation« im besonderen, er schimpfte über die Gesetze, über den schlechten Weg, über das Wetter, über sich selbst. Er war in einer unseligen Laune.

Auch Brumbu, der Räuberchef, war melancholisch. Er machte schnell noch einige photographische Aufnahmen von mir und vermaß sich, mir je einen Abzug zu versprechen. Er wollte mir die Bilder selbst »hinaufbringen». Nächstes Frühjahr, wenn der Maikäferaustrieb sei, wolle er sich den Hirten anschließen. Dann habe er Zeit.

»Denn,« sagte er, ,ich habe die Räuberei satt. Nächsten l. April erreiche ich die Höchstpension, und da schnapp ich. Bin ich dann a.D., dann kann ich machen, was ich will, und kann Sie besuchen. Ich bin dann nicht mehr verpflichtet, Ihnen was zu stehlen, und das wird Ihnen ja auch angenehm sein.«

Dem alten Walddoktor Schnugu ging mein Abschied wohl am meisten nahe.

»Wenn Sie ans Märchenland zurückdenken,»sagte er, »dann rechnen Sie mich zu den Toten.«

Ich widersprach ihm liebevoll, aber er sagte:

»Meine Zeit ist aus! Bald werden die Leute über den alten Dr. Eisenbart lachen. Eine neue Zeit, eine neue Kunst! Hoffen wir, eine bessere Zeit, eine bessere Kunst! Möchten aber immer neben den Elfen auch die Füchse, neben den Königskindern auch die armen Waldschrate ihr Heil finden.«


»Kannst du sie noch sehen?« fragte Angelika abermals.

Und wieder schaute ich den Weg hinab, wo die Freunde gingen.

»Noch zwei – noch einen – jetzt keinen mehr! Nun sind wir allein!«

Wir sahen uns an, und die Augen gingen uns über. Wir streckten die Arme aus, den Freunden nach und schlugen dann die Hände vors Gesicht, wir weinten beide bitterlich.

Als wir aufschauten, sank eine sonnenhell strahlende Gondel vom Himmel herab.

»Es ist Zeit. Angelika! Komm!«

Noch ein Blick über das geliebte, wunderbare Land, dann stiegen wir in die Gondel.

Als sie langsam zur Höhe fuhr, fingen die Glocken im Lande an zu läuten, die silbernen Glocken, und am Himmel über der goldenen Stadt erschien eine flammende Schrift:

»Seid gesegnet! Bleibt jung! Bleibt unser!«

Nach dieser Schrift schauten wir voll Andacht und heiligen Entschlusses während dieser letzten Augenblicke im Märchenland.


Die Nacht lag auf der Erde, ein rauher Wind fuhr übers Feld, weiß glänzte der Schnee.

Wir standen auf dem kleinen Mühlenberg bei meinem Heimatsdorf.

Die Mühle regte ihre Riesenarme gespenstisch in der schwarzen Luft und ächzte und stöhnte wie ein Sklave in harter Fron.

»Brot! Brot! Brot! Brot!« So schrie sie über die leeren Felder, und der Leib zitterte ihr in der maßlosen Anstrengung.

Ein Wagen knarrte die Landstraße herauf, die über den Mühlenberg hinüber zur Stadt führt. Wie ein wandelndes, schreckliches Ungeheuer kam er näher durch die Nacht.

Ein Mann saß darin, der schrie den Kutscher an:

»Fahr zu, Johann, hau auf die Pferde ein! Wir müssen den Doktor bringen, sonst stirbt mir die Frau! Meine Frau, die erst dreißig Jahr ist.«

Hunger und Tod, leere Felder und kalter Wind!

Da froren wir armen Zwerglein bis tief ins Herz, das Heimweh packte uns nach der goldenen Stadt, und wir weinten.

Die Geliebte faßte mich am Arm.

»Wir sind fremd geworden in diesem Lande, wir finden uns nicht mehr zurecht in dieser rauhen Wirklichkeit.«

Aber siehe, da fingen die Sterne über uns an goldener zu strahlen, und drüben über den blauen Berg lugte schelmisch der Mond und lachte uns an, als wollte er sagen:

»Morgen scheint die Sonne! Was steht ihr so scheu, was fürchtet ihr euch, ihr törichten Kinder, da ihr doch nach Hause kommt?«

O, wer nach langer Zeit nach Hause kommt, der lst immer scheu, und das Herz ist ihm still, und er kann nicht jubeln. Und wir waren so weit fort.

»Sie werden uns nicht verstehen,« sagte Angelika; »wir werden ihnen nicht sagen können, wo wir waren.«

Ich tröstete sie.

»Die Besten werden uns verstehen! Ihre Namen sind ja auch eingeschrieben im goldenen Buch von Marilkaporta.«

Eine Glocke schlug. Ein jäher Schreck faßte mich an.

»Schließ die Augen. Geliebte! Schließ schnell die Augen!«

Mit geschlossenen Augen hörten wir die Glocke das Neujahr schlagen.

Langsam – eins – zwei – drei – vier – – –

Bei jedem Schlage fühlte ich, wie ich wuchs, wuchs, wie ich wieder ein Mensch wurde.

»Elf – Zwölf!–«

Ich öffnete die Augen.

Ein Schrei – ein zweiter!

Zwei großgewachsene Menschen standen sich gegenüber.

Ich sah eine schlanke, liebliche Mädchengestalt.

Eine Fremde!

Ich sah an mir hinunter, betastete scheu meine gewaltigen Glieder. Ein Riese war ich geworden. Ich trug wieder die alten Kleider.

Aber auch Angelika war eine andere, eine ganz andere! Auch sie kannte mich nicht.

Zitternd standen wir uns gegenüber.

»Zeige mir deine Augen!« rief ich.

Erbebend trat sie näher.

Zwei süße, dunkle Augensterne wandten sich mir zu, eine reine Kinderseele grüßte mich aus diesen Augen, eine liebe, wohlbekannte Seele.

»Du bist es, Geliebte!«

Und ich schloß sie in meine Arme.


Hand in Hand stiegen wir ins Dorf hinab. Manchmal schauten wir uns scheu von der Seite an, und dann schmiegten wir uns dichter aneinander.

Die sich im Märchenlande trafen und liebten, die lieben sich auch im Leben.

In der Kerkernacht, in der ich meinen Tod erwartete, hatte ich einen Traum. Es fing um mich ein großes Strahlen an in einer weißen Welt. Es war ein Glanz und ein Leuchten um mich, und mein Fuß ging wie auf weichen Wolken. Neben mir schritt Angelika. Wir führten uns an den Händen und sprachen kein Wort.

Wohin gehen wir – wohin? So fragte ich damals.

Jetzt war des Traumes Erfüllung da, und ich wußte, wohin wir gingen.

Durch eine mondhelle, sternglänzende Neujahrsnacht gingen wir über eine beschneite Aue hin zu meinem kleinen Vaterhause.

»Wacht auf, Vater und Mutter, wacht auf, eure Kinder sind da!«

Und sie öffneten die Tür, und wir waren alle glücklich.


Das ist des letzten Märchens Ende.

Der es erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.

Und euch allen bleibe das Herz warm!

Lebt wohl!


Das letzte Märchen

Ein Idyll von Paul Keller

31. bis 35. Auflage

Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn Breslau Leipzig

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.

Copyright 1915 by Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn, Breslau.

Druck von Wilh. Gottl. Korn in Breslau.


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