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Eines Tages begegnete mir der Waldarzt Dr. Schnugu und lud mich ein, ihn zu besuchen. Aber ich solle seinen Neffen Stimpekrex nicht mitbringen, sagte er, denn er könne den kindischen Kerl nicht leiden.
»Er hat mich gestern aus dem Hause« geworfen,« sagte mir Stimpekrex lachend, als ich ihm die Begegnung mit seinem Oheim erzählte. »Ich gehe jetzt acht Tage lang nicht zu ihm; dann läßt er mich holen.«
So machte ich mich allein auf den Weg zu Dr. Schnugu, und der alte Wegzeiger im Märchenwald wies mich zurecht. Ein sehr niedriges Holzhäuslein fand ich, auf dessen schrägem Dach das Moos wucherte. Rings um das Häuslein war ein Garten voller Kräuter, die ich nicht kannte. Der Zaun war verfallen, auch die Schutzwände eines alten Ziehbrunnens waren niedergebrochen. Melancholisch baumelte ein uralter Eimer über dem Wasserschachte. Die Häustür hing nur noch in einer Angel, die meisten Fensterscheiben waren zerschlagen, oder sie waren schmutzig und von Spinnweben bedeckt. Das ganze Anwesen hatte etwas Hexenhaftes, Vernachlässigtes. Dr. Schnugu empfing mich etwas knurrig. Er erlaube sonst nie während der Sprechstund« einen privaten Besuch, sagte er. Aber bei mir sei es etwas anderes. Ich solle in der »Zeitung« die Leute über manche Dinge belehren und müsse daher meine Studien machen. Ins Sprechzimmer dürfe ich nicht, aber ich könne mir's in seinem Privatzimmer bequem machen und durch das Guckloch schauen.
Das »Privatzimmer« war eine Höhle, in der sich ein invalider Tisch, ein maroder Stuhl und eine trostlose Holzpritsche in die Ehre des Mobiliars teilten.
«Lasciate ogni speranza voi ch'entrate!«
Dies Wort, das der große Dante über die Tür seiner »Hölle« schrieb, hatte hier ein Witzbold mit Bleistift an die Tür von Dr. Schnugus »Privatzimmer« geschrieben.
Der Walddoktor machte ein grimmiges Gesicht, als er sah, daß ich es las.
»Verstehen Sie das?« fragte er lauernd.
Ich nickte.
»Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung draußen!« übersetzte ich.
Da wurde er puterrot im Gesicht.
»Das hat Stimpekrex angeschrieben – der Schweinigel! Er wollte es auch an meinem Sprechzimmer anschreiben, aber da –«
Er machte eine wilde Geberde und ging nach dem Nebenzimmer.
Ich schaute durchs Guckloch. Das »Sprechzimmer« war ein großer Raum, in dem sich eine Anzahl von Schränken und Flaschen, Düten und Schachteln befand. Im übrigen auch nur ein Tisch und ein Stuhl, die denen des »Privatzimmers« brüderlich ähnelten.
»Der nächste Patient!« schrie Dr. Schnugu nach dem Wartezimmer hin.
Ein fetter Maulwurf wackelte ins Zimmer. Er schien asthmatisch zu sein, denn er blieb immer nach drei Schritten stehen und ächzte und stöhnt« sehr jämmerlich.
»Ach – ach – ach, Herr Doktor –«
»Wo steckt's?«
»Im – im Bauch«! Ich – ich bin gewiß vergiftet und muß sterben.«
»Zeigen!«
Der Doktor fiel über den Patienten her, warf ihn mit einem Ruck auf den Rücken und drückte und knetete ihm den Bauch, daß der Schwarzrock zum Steinerweichen stöhnte.
»Überfressen!« stellte Dr. Schnugu nach der Untersuchung die Diagnose, »Vollständig überfressen! Wenn das so weiter geht, mein Lieber, sind Sie eines schönen Tages krepiert. Schmählich krepiert! Fressen Sie an einem Tage höchstens zweimal soviel, als Sie selber schwer sind! Nicht mehr! Oder der Teufel holt Sie! Und jetzt werden Sie die nächsten Tage nichts als Rhabarber fressen – verstanden? Dann wird's wieder gehen! Marsch!«
Der Maulwurf wandte ein, daß er eine so schwere Kur nicht aushalten würde und wurde daraufhin hinausgeworfen.
»Nächster Patient!«
Ein Füchslein spazierte herein. Es trug einen prächtigen, buschigen Fuchsschwanz zwischen den Zähnen und ließ ihn vor Dr. Schnugu niederfallen.
»Ich bin in eine Falle geraten,« sagte der Rotrock betrübt, »und hab ihn mir abgerissen. Mach ihn wieder an!«
Dr. Schnugu hob den Fuchsschwanz auf, hieb ihn dem Besitzer ein paarmal um die Ohren und zündete dann unter einem Kessel, auf dem »Lebensleim« geschrieben stand, Feuer an. In den erhitzten Lebensleim tunkte er den Fuchsschwanz und befestigte ihn darauf mit einem geschickten Handgriff an seinem alten Platz. Der Fuchs machte einen schmerzlichen Satz bis an die Decke des Zimmers und war, ohne erst »Danke!« zu sagen, binnen drei Sekunden mit seiner angeleimten Leibeszier verschwunden. Draußen hörte ich ihn noch einige Male mit großem Geheule um das Haus rasen
»Der Nächste!«
Eine Frau trat ins Zimmer. Es war eine Elfe. Ich erkannte das an den grünlichen Augen und den bläulich schimmernden Haaren.
Die Elfe trug ein süßes, kleines Mädchen auf dem Arm.
»Es hat sich ein Füßchen vertreten, als es tanzte,« sagte die Mutter traurig.
»O, o, ein Füßchen vertreten,« klagte der Doktor. »Ein armes, süßes Füßchen!«
Er war plötzlich wie umgewandelt. Eine große Freundlichkeit war über ihn gekommen, und er versuchte sogar, ganz fein und mild zu sprechen, was allerdings mißlang, da ihm die Stimme überschnappte.
»Ein armes, gutes Füßchen,« wiederholte er. »Wird der Onkel Doktor heilen, wird er ganz gut heilen! Wird gar nicht wehe tun! Gar nicht wehtun, du liebes Kindchen!«
Und er kitzelte die Kleine freundlich am Kinn. Das Elfenkind aber fürchtete sich vor dem bärtigen, häßlichen Gesicht, verzog das Mäulchen und fing an zu weinen.
»Aber süßes Kindchen wird doch nicht weinen! Wird doch nicht weinen, Goldherzchen! Ist ja der gute Onkel Doktor! Sie doch, Herzchen, sieh doch!«
Und Dr. Schnugu fing an zu pfeifen und von einem Fuß auf den andern zu hüpfen, wobei er mit den Armen schlug wie ein Hampelmann.
Davor fürchtete sich das Elfenkind noch mehr und fing ein entsetztes Geschrei an. Und ich bestätige, daß es wirklich sehr schrecklich aussah, wie Dr. Schnugu tanzte.
»Machen wir schnell, liebe Frau! O, es ist furchtbar, einem so lieben Ding wehtun zu müssen.«
Und er faßte den zierlichen Fuß, holte noch einmal tief Atem, ein paar Griffe, ein Schrei und alles war fertig.
»Nun noch einen Verband, dann ist's gut!«
Als er fertig war, ging eine tiefe Traurigkeit über sein Gesicht.
»Es wird nicht lange mehr dauern, dann laufen die Kinder fort, wenn ich durch den Wald gehe, und rufen mir nach: »Der Schinder«!«
Die schöne Elfenfrau schüttelte die dunkeln Locken.
»O nein, alle haben den Dr. Schnugu gern, die Kleinen und die Großen.«
Und sie ging auf den Arzt zu und küßte ihn auf den Mund.
»Ich danke,« sagts sie und ging.
Dr. Schnugu stand wie die steinerne Bildsäule eines Waldgötzen. Er war wie erstarrt. Minutenlang stand er so, ohne sich zu regen; nur zweimal leckte er sich mit der Zunge kurz über die Lippen. Aber dann warf er einen verdrossenen Blick auf mein Guckloch, legte seine Stirn wieder in grimme Falten und schrie mit seiner allerbarschesten Stimme:
Eine junge Ratte kam sehr zierlichen Ganges hereingetänzelt. Sie klagte über Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Ohrensausen, Müdigkeit und sehr große, geistige Niedergeschlagenheit.
»Fräulein, zeigen Sie Ihr Zahnfleisch!« sagte Dr. Schnugu.
Das »Fräulein« hob verschämt ein wenig die Oberlippe, und Dr. Schnugu sagte:
»Sie haben die Bleichsucht, hochgradig die Bleichsucht! Viel frische Luft und gute Kost, das ist alles, was ich Ihnen anraten kann, wo wohnen Ihre Eltern?«
»Ach, sie wohnen bei einem Fleischer. Aber es geht dort so gewöhnlich zu. Da hab ich mich separiert und bin zu einem Professor gezogen. Ich bin so mehr fürs Gebildete.«
»So?! Und was haben Sie bei dem Professor für Kost?«
»Ach,« sagte die Ratte, »ich habe seit drei Monaten nichts anderes mehr gegessen als Pergamentblätter.«
Dr. Schnugu machte einen Luftsprung.
»Pergamentblätter! Urkunden! Vielleicht unersetzliche Urkunden! Die fressen Sie?«
Das Fräulein nickte bescheiden.
Dr. Schnugu raste im Zimmer auf und ab.
»Fräulein, Sie – Sie – Sie sind eine Gans!«
»Nein, eine Ratte!« sagte die junge Dame.
Da blieb der Doktor stehen, bohrte die Hände tief in die Taschen und stieß ein fürchterliches Gegrunze aus. Dann beruhigte er sich.
»Ich werd' Ihnen mal was sagen! Eigentlich müßte Ihnen das Leder – – doch nein, das will ich nicht sagen! Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie von einem Pergamentblatte nur noch eine einzige Ecke abbeißen, sind Sie hin! Hin, sage ich! Tot! Mausetot! Und alle Schnugus der Welt können Ihnen nicht mehr helfen. Ziehen Sie augenblicklich bei dem Professor aus! Zurück zu Ihren Eltern! Zum Fleischer! In gesunde Verthältnisse! Oder es ist alle mit Ihnen!«
Das Fräulein fing ein wenig an zu weinen, versprach aber zu folgen, machte einen zimperlichen Knix und ging.
»Nächster!«
Ein einäugiger, verwildert aussehender Mann erschien, der mir bekannt vorkam.
»Heißen?«
»Brumbu!«
»Stand und Gewerbe?«
»Räuber!«
»Ah ja, wirklich Brumbu, – richtig, richtig! Haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen, Wo steckt's denn?«
»Ich hab mir ein bißchen den linken Arm gequetscht.«
Dr. Schnugu untersuchte den Patienten.
»Nein, Freundchen, nicht gequetscht, sondern gebrochen. Sogar zweimal gebrochen! Wie ist Ihnen denn das passiert?«
»Ich wollte gestern abend bei Ihnen einbrechen, da fiel ich vom Dache, und da hab ich ihn mir gequetscht, Denn Ihr Dach ist sehr schlecht, Herr Doktor.«
Schnugu war sehr überrascht.
»Bei mir wollten Sie einbrechen, Brumbu?« fragte er betroffen. »Erlauben Sie, da muß ich mal Ihren Kopf untersuchen, denn da müssen Sie doch eigentlich verrückt sein.«
Der Räuber schüttelte das Haupt.
»Nein,« sagte er treuherzig, »verrückt bin ich nicht. Ich hatte mir bloß den Magen verdorben, und da wollte ich mir eine Flasche Medizin stehlen.«
Dr. Schnugu stieß einen schrillen Quieker aus.
»Eine Flasche Medizin! Eine Flasche Medizin! Und dann wohl die Flasche aufs Geratewohl aussaufen – was?! Brumbu! Kerl! Dämlack! Wenn Sie nun eine falsche Flasche erwischt hätten! Eine giftige Flasche! Dreiviertel aller meiner Flaschen sind giftig! Ums leben hätten Sie kommen können! Ums Leben hätten Sie ja kommen können!«
Der Doktor raufte sich jammernd die Haare, und der Räuber stand mit dummem Gesichte da. Nach langer Weile erst beruhigte sich Dr. Schnugu ein wenig. Er sah den Räuber bittend an und sagte in eindringlichem Tone:
»Brumbu, mein lieber Brumbu, das eine versprechen Sie mir: Wenn Sie wieder mal bei mir einbrechen wollen, stehlen Sie, was Sie wollen, stehlen Sie meinen alten Schafpelz oder stehlen Sie meinetwegen sogar meine Tabakspfeife, aber stehlen Sie keine Medizin.«
Der Räuber versprach, sich danach zu richten. Dann wurde er eingerichtet, geschient und verbunden. Während darauf der Doktor sein Verbandzeug zusammenpackte, empfahl sich Brumbu, nicht, ohne die Tabakspfeife des Doktors mitgehen zu heißen.
Nun kam wieder eine Anzahl Tiere: ein Regenwurm, dem durch einen Fußtritt das Hinterviertel zerquetscht worden war; ein Dachs, der ein Fettherz hatte; eine Spinne, die an Drüsenverhärtung litt und dadurch sehr in ihren Berufsarbeiten behindert war; eine Schlange, die einen Giftzahn plombiert haben wollte, ihn aber ausgezogen bekam; ein eitler Hirschkäfer, der sich ein Horn abgestoßen hatte und sich »der Symmetrie halber« das andere amputieren lassen wollte; ein Igel, der sich die Stacheln schleifen ließ, und ein graues Kaninchen, das ein Haarfärbemittel wünschte.
Der Doktor behandelte alle diese Patienten mit großer Sorgfalt, alle in durchaus individueller Weise, alle mit seiner tiefen Erkenntnis und seiner starken Liebe. Es kam auch noch viel Berg- und Waldvolk: die Männer kurz und verschlossen, meist scheu und unmutig daß sie überhaupt krank seien, die Weiber mit vielem Jammern und einer breiten Ausführlichkeit. Manche bezahlten mit einem Goldklümplein, mit einem funkelnden Stein oder mit Geld. Dann schenkte allemal der Doktor dem nächsten Bergmann oder armen Moosweibchen, was er selbst zuvor erhalten hatte. Und da kam auch eine Denunziation vor.
»Herr Doktor,« sagte eine Frau, »die Schnurrgrine, die so oft zu Ihnen kommt, ist eigentlich gar nicht krank. Sie wartet bloß allemal, bis ein Reicher bei Ihnen war, der bezahlt hat. Und dann geht gleich sie ins Sprechzimmer, damit sie das bekommt, was der Reiche Ihnen gegeben hat.«
Der Doktor sagte grob, das Weib solle sich hinausscheren. Wenn er, der Doktor, so dumm sei, sich betrügen zu lassen, so sei das seine Privatangelegenheit.
Und die Warnerin wurde ungnädig entlassen.
Zu guter Letzt kam noch eine Patientin – Goldina, das Königskind.
Sie kam langsam, zögernd über die Schwelle. Ich sah, daß ihre Wangen blaß und ihre Augen gerötet warm vom Weinen. Auch der Doktor bemerkte das bald.
Sie blieb stehen und brach in einen Strom vom Tränen aus.
»Goldina! Kind! Was ist Ihnen geschehen?«
Da lehnte sie den Kopf an seine Brust und weinte noch heftiger.
Er führte sie behutsam zu seinem Stuhle. Aber sie kniete vor ihm nieder und preßte die goldenen Locken an den Sammet seines schwarzen Mantels. Da setzte er sich selbst, und sie kniete vor ihm, und er streichelte ihr den Scheitel und gab ihr gütige Worte wie ein Vater.
»Ich kann es ja bloß Ihnen sagen, – bloß Ihnen, – das Herz tut mir ja so weh, – so sehr weh, – und ich bin so unglücklich, so sterbensunglücklich!«
Ein mildes Lächeln ging über das Gesicht des Alten.
»Hat er Sie gekränkt – der böse Prinz Juvento?«
Sie verbarg ihr Gesichtchen in tiefer Scham ganz in seinen Mantelfalten. Seine Stimme wurde ganz milde.
»Ich weiß es ja doch, Herzenskind! Schämen Sie sich nicht! Warum soll es Ihr alter Doktor Schnugu nicht wissen?!«
Da richtete sie sich auf und schluchzte unter einem Strom von Tränen:
»Er – er hat eine Liebschaft mit der – der Angelika – mit der von droben, – mit der von den Menschen!«
Ich weiß nicht mehr, was der Doktor darauf sagte.
Es war mir, als habe mich ein Schuß getroffen. Ein kurzer, spitzer Schlag vor die Brust! Und es war, als ob mir alles Blut auf einmal nach dem Herzen geströmt und der Kopf ohne alles Leben sei.
Mit leeren, glasigen Augen schaute ich auf die beiden.
Ich sah, daß das junge Mädchen dem Alten einen Brief gab. Den Brief habe eine Kammerfrau bei Angelika gefunden. Es sei ein Liebesbrief des Prinzen Juvento. Er bestellte Angelika für eine bestimmte stunde nach den königlichen Gärten.
Eine Weile stand ich noch da, ohne mich zu rühren, auch ohne etwas zu hören oder klar zu sehen. Dann wandte ich mich nach der Tür.
Ich wollte fortgehen. Weit fort von hier! Was sollte ich hier noch? Dem alten Manne danken, Abschied von ihm nehmen? Es war mir nicht nach Dank zumute. Und der Doktor hatte wohl auch meine Anwesenheit vergessen.
Wie das junge Ding dort drin weinte!
Es war nicht zum Anhören.
So trat ich durch die Tür hinaus in den Märchenwald. Langsam ging ich eine stille Pinien-Allee entlang.
Ich dachte nichts Heftiges, es war kein Zorn in mir. Ganz still war ich und müde.
Ein Elfenkind sprang mir in den Weg.
»Angelika!« rief es. »Angelika! Angelika!«
Ich sagte, es solle ganz still sein und nicht lärmen.
Wenn es ganz still und artig wäre, würde ich ihm Zucker schenken.