Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Meine Räuber-Romantik.

Ich fahre auf. Über mir ertönt ein kurzer Lärm. Dann ist es wieder still.

Jetzt nähern sich Schritte.

Da« Schloß der Tür knarrt, quietscht.

Die Tür springt auf. Männer kommen herein. Die Häscher? Die Schergen?

Wir springen alle vier auf und vereinigen uns in eine Ecke.

»Wo seid Ihr? Wo? Her!« ruft eine unterdrückte Stimme, wir geben keine Antwort.

Da bringt ein Mann eine Laterne unter dem Mantel hervor und hebt sie hoch.

Ein Student! Ein alter Student mit einem verpflasterten Gesicht!

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragt Dr. Schnugu.

»Ich will Sie herausholen aus diesem Loche, Herr Doktor, Sie und die anderen,« sagt der Student. »Ich bin Brumbu, der konzessionierte Staatsräuber.«

Ein Freudenschrei von allen Lippen.

»Pst, Herrschaften, keinen Skandal! Das darf man nicht, wenn man ausbricht! Es laufen überall Wachen herum. Hier in der »Eule« habe ich auch erst fünf Mann ein wenig knebeln und festbinden müssen, weil sie mich nicht zu Ihnen herablassen wollten. Und nun seid gescheit, ihr weisen Herren, laßt euch verkleiden und die Bärte abschneiden, denn sonst ist es unmöglich, daß wir euch durchbringen.«

Wir umdrängten Brumbu und seine Gefährten und drückten ihnen mit warmen Dankesworten die Hände. Ganz außer sich vor Freude war Dr. Nein. Er eilte ins Nebenzimmer, brachte eine Menge Humpen und sagte:

»Trinkt, Kinder, trinkt wenigstens einen einzigen Schluck!«

Und er selbst hob einen Humpen hoch und rief jubelnd:

»Auf dein Wohl, du liebes Leben! Auf dein Wohl, du kleines, goldenes Dr. Neinchen!«

Viele Laternen brannten auf, und nun wurden wir von den Räubern im Gefängnis rasiert. Als wir so eingeseift im Kreise saßen, mußten wir alle vier trotz unserer Aufregung lachen, und ich glaube auch wirklich, daß das die närrischeste Situation meines Lebens war.

Dann folgte eine tolle Maskerade. Die Räuber waren alle in Studentenanzügen, auch Stimpekrex bekam einen solchen. Dr. Schnugu erhielt den Habit eines Mönches, Dr. Nein einen sehr modernen Engländeranzug nebst einem blauen Kneifer und ich – die elegante Robe einer Dame. Brumbu, der die größte Eile befahl, leistete mir selbst Kammerzofendienstfe. Was er dabei sprach, ist wert, mitgeteilt zu werden.

»Also zuerst diesen dunkelgrauen Rock! Er hat sehr schöne, breite Volants. Warten Sie, der Gurt will nicht zu! – Verdammt, ziehen Sie doch ein bißchen den Bauch ein, Sie haben ja eine greuliche Taillenweite! So jetzt schließt er! – Nun die Bluse! Schottisch! Sehen Sie mal! Vorn und hinten gezogen, an der Seite zu schließen. Chic! So. jetzt rein! Halt, halt, verkehrt! So rum! Mensch, stellen Sie sich doch nicht gar so taprig! Stecken Sie sich einstweilen diese Brosche vor, während ich die Haken zumache. – Donner – ist das eine Hundearbeit! Sie sind zu knochig, zu massig! So, jetzt wird's gehen! Zeigen Sie mal! – Passabel! – Nu mal kehrt! – Der verdammte Gürtel! – Na, ist egal, Sie nehmen diese Mantille um. Und jetzt den Theaterschal! – Es ist gut, daß Sie so lange Haare haben, wir werden eine Locke auf die Stirn machen. Entschuldigen Sie, ich muß die Locke ein bißchen mit Spucke ankleben, sie bleibt sonst nicht! So, jetzt sieht es sehr gut aus. Ausgezeichnete Locke! Herrliche Locke! – Nun die Handschuhe! Echte Dänen! Könnten aber auch 'ne Nummer größer sein! Und nun den Fächer und den Pompadour! – Falsch, Mensch, den Fächer in die rechte Hand! – Haben wir gut gemacht! – Jetzt sind Sie ein ganz nettes Frauenzimmer! Nu machen Sie aber such eins recht anmutige Figur, und gehen Sie recht leicht und schwebend!«

Dr. Nein brach beim Anblick seines verwandelten Chefs in große Heiterkeit aus; Brumbu aber mahnte zu sofortigem Aufbruch. Er hielt eine kleine Ansprache.

»Es ist nicht anders möglich; wir müssen durch einen Teil der Stadt. Zunächst über den Rosenplatz, dann die Rubinstraße hinunter, dann links über die Forellenbrücke, dann durch das kleine Buchrückengäßchen in den Garten der Villa ›verlorener Friede!‹ Im ›verlorenen Frieden‹ über die Mauerplanken, hinaus in den Wald und dann gleich links hinunter zur Fähre am Fluß. Dreihundert Schritt rechts von der Fähre unter den Erlen liegen unsere Boote. Wenn Sie irgendwie aus der Rolle fallen, sind Sie verloren, denn die ganze Stadt wird von Streifwachen Hamrigulas durchzogen. Dr. Schnugu geht zuerst, dreihundert Schritt hinterher geht Dr. Nein mit seiner Dame. Zuletzt kommen wir Studenten, Vorwärts marsch, und Glückauf!«

Die Tür öffnete sich, wir gingen hinaus in die Freiheit.

Links von der Treppe, die wir hinaufstiegen, tönte aus einem Gemache ein Stöhnen.

»Die Leute Hamrigulas,« sagte Brumbu.

Ein schrecklicher Anblick bot sich uns oben im Hausflur. Lillebolle, der Zwerg, war mit ausgespreizten Armen und Beinen an einen Holzblock angebunden. Wir protestierten heftig gegen eine solch unnütze Quälerei. Aber Brumbu sagte: »Es muß so sein!« und Lillebolle stieß sein leises, gackerndes Gelächter aus.

Erst später erfuhren wir, wie treu der brave Zwerg an uns gehandelt hatte. Scheinbar hatte er sich dem Prinzen zu Diensten gestellt, hatte an Brumbu einen verlässigen Boten geschickt, daß er uns befreie, und sich selbst nur in diese qualvolle Lage bringen lassen, um seinem Auftraggeber unverdächtig zu erscheinen, da er sich auf keinen Fall von seiner »kühlen Eule« trennen mochte.

An der Tür lugte Brumbu hinaus auf die stille Straße. Keine Seele! Es war Nachtzeit.

Da ließ er Schnugu hinaus, wie Noe aus der Arche den Raben, und der alte Doktor zog in seinem Mönchsornat langsam und gesenkten Kopfes die Straße hinunter.

»Nun Sie!«

»Ich bitte, liebe Frau!« sagte Dr. Nein und bot mir galant den Arm. Mit heftigem Herzklopfen trat ich hinaus und gab mir alle Mühe, einen recht leichten, schwebenden Gang anzunehmen, wie Brumbu befohlen hatte.

Mein Begleiter war aber nicht zufrieden mit mir.

»Erlauben Sie, Sie wippen ja wie eine überschnappte Bachstelze,« sagte er. Da ging ich in meinem gewöhnlichen Tritt.

Nach kurzer Zeit hörten wir einen wüsten Gesang hinter uns:

»Gaudeamus igitur,
Juvenus dum sumus«.

Ich mußte anfangs lachen, wurde aber dann sehr besorgt, da Brumbu mit seinen Pseudo-Studenten den lateinischen Text schauerlich verunstaltete.

Aber es ging gut. Ehe wir auf den Rosenplatz kamen, bog eine Streifwache gerade in eine Seitengasse ein. Der Platz war fast leer.

Vom Rosenplatz sieht man die hochragende Königsburg. Dort war die Geliebte! Ich hoffte, daß sie dort noch war. O, welches Schicksal hatte sie? Ein heißer, stiller Gruß, ein Segenswunsch stieg hinauf zu den ragenden Zinnen. Dann weiter – weiter!

Nun kamen wir in die Rubinstraße. Auch sie war wenig belebt. Plötzlich stockte unser Fuß. An einer Mauer leuchtete ein großes, rotes Plakat:

»Das Extrablatt der ›Zeitung‹ gefälscht!«

Erregt traten wir hinzu. Ich fing halblaut an zu lesen:

»Schnaff, der Lokal-Redakteur der ›Zeitung‹, das letzte und geringste Mitglied der Redaktion, aber jetzt der einzige Redakteur, der noch frei ist, tut unter seiner eigenen Verantwortlichkeit und unter feierlichem Schwur für die Wahrheit seiner Worte den Einwohnern der Hauptstadt und des Landes kund:

Das Extrablatt der ›Zeitung‹ ist von Hamrigula gefälscht: keiner der unterzeichneten Redakteure hat eine Zeile davon geschrieben, Wichtige, unwiderlegliche Urkunden, die der hochehrenwerte Chef unserer ›Zeitung‹, Herr Dr. Barragu, in seinen Besitz gebracht hat, beweisen, daß Hamrigula die Schandartikel der ›Posaune‹ selber geschrieben –«

»Da ist ja auch ein so niederträchtiges Plakat!«

Ich fuhr erschrocken herum. Zwei Wachtleute steuerten auf uns zu.

»Weg da! Es ist verboten, diese Lügenplakate zu lesen!

Und der eine Beamte riß den Anschlag herab von der Mauer, während mich der andere, der mich wohl hatte lesen hören, mißtrauisch betrachtete.

»Erlauen Sie gütigst,« sagte Dr. Nein scharf,«es wird ehrenwerten Bürgern wohl erlaubt sein, die öffentlichen Anschläge zu lesen.«

»Das ist ein verbotener Anschlag.«

»Das können wir doch nicht wissen!«

»Was ist das überhaupt für eine Frau?« platzte der andere heraus.

»Was hat sie für eine rauhe Stimme, und wie sieht sie so komisch aus?« sagte der erste.

»Sie beleidigen meine Frau!« knirschte Dr. Nein. »Geht das die Polizei etwas an, wie meine Frau aussieht? Ist es nicht genug, wenn sie mir gefällt? Ich merke mir Ihre Nummern, meine Herren: 75 und 137! Komm, Emma!«

Ich hatte mit niederschlagenen Augen dagestanden und ergriff jetzt entrüstet den Arm meines »Gemahls«.

»Sprich jetzt nicht!« sagte er fürsorglich zu mir. »Es zieht hier, und du bist ohnehin schon heiser.«

Wir gingen, und die beiden Polizeileute folgten uns. Es war eine furchtbar peinliche Lage. Ich fühlte förmlich, im Rücken, wie mich die Wächter musterten, und erwartete jede Sekunde unsere Verhaftung. Auch Dr. Nein fürchtete das Schlimmste. Es fiel mir jetzt zu meinem Schrecken ein, daß ich meine Männerstiefel anbehalten hatte. Grob und unzierlich kamen sie unter den Volants des etwas kurzen Kleides zum Vorschein. Auch vermutete ich, daß ich als Dame zu groß und eckig aussehen müsse, und daß mich überhaupt Meister Brumbu ein wenig vogelscheuchenmäßig ausstaffiert hätte.

In dieser höchst gefährlichen Lage hörten wir plötzlich die Stimme Brumbus hinter uns:

»Zwei Nachtwächter – hurra!«

»Hurra! Hurra! Zwei Augen des Gesetzes!«

»Hinter einer Dame her! Auf zur Attacke! Ganzes Regiment – Gänsemarsch!«

»Studenten!« sagte der eine Polizeimann unwirsch und ersckrocken. Und er zog seinen Kollegen eiligst nach einer Nebengasse, wo sie verschwanden.

Wir waren gerettet. Gerettet durch die Genialität des konzessionierten Staatsräubers.

Durch das schmale Buchrückengäßchen liefen wir ziemlich schnell. Der melancholische Garten des »verlorenen Friedens« nahm uns auf, wir kletterten über die Mauer, was für mich als Dame nicht ohne Schwierigkeiten war und sich besonders der Schönheit meiner Volants schädlich erwies, und gelangten in den Märchenwald.

Und nach wenigen Minuten waren wir an den Booten am Flusse.


Als wir vom Ufer abstießen, rieb sich Dr. Nein die Hände. Er sagte, er freue sich nun doch, daß er sein Leben nicht versichert, sondern den Agenten lieber die Treppe hinuntergeworfen habe. Nun hoffe er, für seine Kinder noch durch ungezählte Tausende von Jahren selbst sorgen zu können.

Ich aber hielt unausgesetzt den Blick nach der goldenen Stadt gerichtet, die aus majestätischer Höhe mit ihren silbernen Mauern und rotgoldenen Kuppeln zu uns herabschaute. Und sah immer nach dem Königsschloß.

Mein süßes Schneewittchen, wenn ich auch dich erst in Sicherheit wüßte!

Ich teilte Brumbu meinen Kummer mit.

»Es läßt sich nichts machen,« sagte er, »denn ins Schloß kann ich nicht, und da ist sie sicher noch. Früher hatte ich ja meine Verbindungen im Schlosse, aber jetzt sind lauter neue, unzuverlässige Leute dort. Und dann mit Weibern, das ist immer eine schwierige Sache.«

Als er meine Niedergeschlagenheit sah, versuchte er mich zu trösten.

»Eigentlich sollten Sie ja jetzt kein so dummes Essiggesicht machen, sondern sich freuen, daß Sie raus sind aus dem Loche. Das andere wird sich schon finden. Sie wird halt mit der kleinen Prinzessin zusammen eingesperrt sein. Und Hamrigula zieht doch heute schon in den Krieg!«

»In den Krieg? Also ist der Krieg erklärt?«

»Ja selbstverständlich! Die meisten Regimenter sind schon nach der Grenze. Heute oder morgen oder übermorgen geht's los.«

»Das ist furchtbar! Das ist furchtbar!«

»Sehr furchtbar! Da schlachten sie Tausende ab an einem Tage, und wenn ich mal einem einzigen ein bißchen die Knochen zerschlage, da schreit gleich alles, ich müsse abgesetzt werden, weil ich meine Amtsgewalt mißbrauche.«

»Gestatten Sie,« mischte sich Dr. Nein in die Unterhaltung, »ich bin Ihnen persönlich zu großem Dank verbunden, ich achte Sie persönlich ungeheuer hoch, ich werde Ihnen persönlich mein Leben lang dankbar ergeben sein, aber alles nur persönlich, mein Lieber! Als Parlamentarier muß ich sagen, daß Sie in der Tat abgesetzt werden müßten.«

»Was sagen Sie?« fuhr Brumbu wütend auf. »Sie sind wohl nicht gescheit?«

»Als Parlamentarier sage ich, daß die Räuberei von Amts- und Staats wegen auf jeden Fall ein ganz haarsträubender –«

Er konnte nicht vollenden, denn Brumbu hatte ihn erfaßt und hinaus ins Wasser geworfen.

Ich erschrak; aber der tapfere Parlamentarier tauchte bald wieder auf, prustete und schrie hierüber, während er Wasser trat:

»Ein ganz haarsträubender Blödsinn ist, sage ich! Ein ganz alter, mottiger, verfilzter Zopf, der endlich abgeschnitten werden muß! Ich werde bestimmt in der nächsten Session auf Ihre Absetzung dringen. Persönlich bin ich Ihnen aber sehr ergebenl«

Sprach's und schwamm nach einem der uns folgenden Boote.

»Schwimmen Sie wohl!« rief ich ihm lachend nach.

Dieser kleine Zwischenfall erheiterte mich. Aber die Sorge fiel mich bald wieder an.

»Brumbu, was wird nun aus uns? Ich meine, wenn der Krieg ausbricht, können wir doch nicht tatenlos zusehen. Wir müssen doch tun, was in unseren Kräften steht, dem Übel zu steuern.«

Und ich erzählte ihm alles, was ich von Hamrigula wußte. Er hörte mir andächtig zu und drückte oft in kräftigen Worten seine Meinung über den Prinzen aus.

Zuletzt aber sagte er:

»Sie können gar nichts tun! Wollen Sie nach der Stadt zurück? Sie sind nicht zwei Stunden lang frei, und dann ist es alle mit Ihnen.«

»Aber Schnaff, unser braver Schnaff hat doch auch seine Pflicht getan! Er hat doch versucht, das irregeführte Volk aufzuklären.«

Hier mischte sich Dr. Schnugu ein, der bis dahin schweigend dagesessen hatte.

»Erreicht hat Schnaff mit seinen gutgemeinten Plakaten nichts. Kaum, daß er hin und wieder einen kleinen Zweifel erweckt haben wird. Der Prinz hat sicher auch diese Plakate als eine Machenschaft seiner berühmten Helfer des Erbprinzen ausgegeben und dadurch den Volksunwillen noch geschürt. Und doch muß etwas geschehen, es muß! Hätte ich mich von Euch nicht verstümmeln, mir meinen Bart nicht abschneiden lassen, ich würde hingehen auf den Markt von Marilkaporta und –«

»Und Sie würden niemand dort treffen,« fiel Brumbu ein. »Es ist Standrecht!«

»Standrecht – ah, das wagt er? Bei uns! In unserer heiligen freien Stadt? Standrecht! Die Volksansammlungen sind verboten?«

»Ja! Wer eine öffentliche Rede hält, wird erschossen. Einer ist schon hin!«

»Wer?«

»Der älteste Wächter vom verbotenen Berge. Er ist auf den Markt gekommen, hat etwas gegen den Prinzen gesagt und ist von einer Wache erschossen worden. Die anderen Wächter der Schätze sind eingesperrt. An der Tür steht Militär.«

»Das ist nicht wahr!« schrie Schnugu. »Das läßt sich unser Volk nicht gefallen.«

»Es ist wahr! Hamrigula hat kunstvoll bewiesen, auch die Wächter seien vom Erbprinzen bestochen.«

»Das glaubt keiner!«

»Das glauben alle! In Kriegszeiten glauben die klügsten Leute die dümmsten Geschichten.«

Gegen diese Weisheit ließ sich nichts einwenden.

»Den ältesten Wächter! Einen der geehrtesten Männer des Landes! Den, der wohl etwas geahnt hat von dem Verbrechen, und den sein Gewissen in den Tod trieb! Unser Volk ist toll geworden in seiner Erregung!«

Die Mönchskutte zitterte leise. So erregt war der alte Mann, der darin steckte.

Traurig fuhren wir den Märchenfluß hinab. Das Wasser funkelte in herrlichen Farben, die Ufer glänzten von schimmerndem Gestein. Buntfarbige Sommervögel sangen zwischen den Granatblüten und den goldfarbenen Früchten der Bäume. Die kleinen Wasserkobolde trieben wie immer ihr Spiel mit silbernen Fischen und kleinen Fröschen. Stille, geheimnisvolle Wälder grüßten herüber. Auf den blauen Bergen glänzten Türme und Schlösser. Verträumte Hirtenhäuslein lagen auf den Weiden, wir aber gaben kaum acht auf all diese Herrlichkeit.

Auch als der Gesundheitssee auftauchte, wurde das Interesse kaum reger. Und doch war es der wundersamste See des Landes, durch den wir auf unserem Boote fuhren. Durch viele kleine Inseln war der See in einzelne Teile geteilt. Auf den Inseln standen weiße Tempel, aus deren Kuppeln drang bunter Rauch. Mitten aus jedem Teil des Sees sprangen donnernd riesengewaltige Fontänen bis zum Himmel empor. Wundersame, springende Brunnen! Denn ihr Wasser springt zwar zur Höhe, aber es kommt nicht zurück. In den Himmel dringt es ein. Dort wird es kunstvoll gesammelt und in tausendfach verzweigten Röhren nach den Heilquellen der Menschen geleitet. In den weißen Inseltempeln aber werden die Salze gemischt, die Säfte gekocht, die einem jeden Teile des Sees seine ureigne Heilkraft geben.

Ich fuhr nicht stumpf an diesen Wundern vorbei, o nein! Überwältigt starrte ich den aufwärts rauschenden bunten Wassersäulen nach, in deren farbigen, donnernden Wogen Gesundheit und Heil aus der Tiefe zur Höhe sprang.

Für unseren Kummer, unsere Leiden hatte aber doch der Gesundheitssee keinen Trank. –

Wir fuhren nun wohl an sechs Stunden lang. Unsere Fahrzeuge waren Motorboote bester Konstruktion. Sie glitten ruhig, schnell, elegant dahin. Ich machte eine lobende Bemerkung.

»O,« sagte Brumbu, »sie sind ganz neu. Es sind höchstens zwei Monate her, daß ich sie gestohlen habe.«

»Sie – haben sie gestohlen?« stotterte ich.

Brumbu sah mich gekränkt an.

»Natürlich! Was sonst? Glauben Sie, ich werde mich so blamieren, mir was zu kaufen? Wenn sich ein Räuber ein Boot kaufte, das wäre noch schlimmer, als wenn sich ein Jäger einen Hasen kaufte oder wenn sich ein Feldherr Gefangene kaufte oder wenn sich eine Frau einen Mann kaufte. Nein, mein Lieber, alles eigene Arbeit! Alles mit diesen zehn Fingern ehrlich zusammengestohlen.«

Ich muß sagen, daß ich mich in den Moralbegriffen dieses Mannes nicht ganz zurechtfand.

Brumbu lächelte verächtlich.

»Dr. Nein ist ein Esel,« sagte er mit Überzeugung, »er ist zu dumm, um Schafe zu hüten und ist doch ein Parlamentarier. Sie können sich leicht vorstellen, was für Unordnung werden würde, wenn die Staatsräuberei aufhörte.«

Ich sagte, so ganz klar könne ich mir das doch nicht vorstellen; er möchte es mir erklären.

»Nun, sehen Sie, Räuber müssen sein, nicht wahr? Erstens der Poesie wegen! Über mich sind schon 14l Theaterstücke, 67 Opern und über 1000 Romane gemacht. Die Gedichte kann ich nicht zählen, aber sie sind sehr schön, obwohl sie meist von Damen sind. Seit ich ein Auge verloren habe, läßt ja die Dichtkunst freilich stark nach; aber früher war es enorm. Da schickte ich jedes Jahr in den Wohltätigkeits-Damen-Bazar nach Martilkaporta eine Locke von mir, die ich immer mit einer Schere sehr kunstvoll brannte, und da konnten von meiner Locke gegen tausend arme Kinder bekleidet werden. Das ist doch eine Wohltat, mein Herr! Das wäre die eine Seite! Zweitens wirkt ein Räuber vorbildlich. Denn warum bedichten ihn die Weiber, warum versetzen sie ihren Schmuck, um seine Locke zu kaufen? Weil er das hat, was ihre Männer nicht haben – Courage! Gut, mögen sich die Schlafmützen an ihm ein Beispiel nehmen, mögen sie auch mutig, geschickt, feurig sein! Drittens, die volkswirtschaftliche Seite! In jedes Haus gehört eine Katze, hinter jeden Spiegel eine Rute, in jeden Teich ein Hecht. Wo das nicht ist, wird die ganze Geschichte faul, dumm, schläfrig, frech. Schließt Eure Bude zu abends, seht Euch um, wenn Ihr im dunkeln Walde geht, haltet Eure Sachen zusammen, haltet die Augen offen, und seid stets bereit, einem Angreifer einen Knüppel auf den Schädel zu hauen, da werdet Ihr ein tüchtigeres Volk sein, als wenn Ihr so hinlullt im dummen Frieden Eurer Gesetze. Aber, mein Herr, die Sache muß Hand und Fuß haben. Schaffen Sie die Staatsräuber ab, was wird werden? Jeder wird ein bißchen in der Räuberei herumpfuschen, und was Anständiges wird keiner leisten. Ich bin absolut gegen die Gewerbefreiheit. Sie zieht bloß die Stümper groß und bringt die ganze Kunst herunter.«

Brumbu schwieg. Ich sah diesen Mann erstaunt an und erkannte, daß sich alles auf der Welt beweisen oder doch erklären lasse. Brumbu spuckte aus.

»Dr. Nein ist in der Tat ein ganz riesiger Esel! Sonst würde er nicht solchen Unsinn faseln. Er wagt's auch nicht, einen so blödsinnigen Antrag zu stellen. Er würde nie wiedergewählt, wenn er's täte.«

In der achten Stunde unserer Fahrt erreichten wir einen Tiefpaß. Rechts und links stiegen steile, wüste Berge auf. Wir landeten und trafen mit unseren Begleitern wieder zusammen.

In einem kleinen Gehölz wurden Maultiere für uns bereitgehalten, die uns ins Gebirge hinauftrugen.

»Ich habe zwei offizielle Räuberhöhlen und zwei private,« erklärte Brumbu. »Die offiziellen Höhlen sind sonst neutraler Boden, auf dem mir kein Mensch etwas anhaben darf. Aber in diesen unordentlichen Zeiten ist ja sogar ein Räuber vor der Regierung nicht mehr sicher. Also ist es gut, daß ich meine privaten Höhlen habe, die kein Unbefugter weiß.«

Nun stiegen wir die steilen Räubersteige hinan.

Räubersteige! Wer niemals auf ihnen ging, war niemals jung. Denn Jugend hat Ziegenblut, hat eine kletterlustige Phantasie und liebt die weichen Wiesenwege weniger, als die ruhigen Milchkühe und die braven Ackerpferde sie lieben. Kindlich Volk hat Hunger nach Furcht, weil sein Leben zu sicher ist, liebt die Geheimnisse, weil ihm alles noch Geheimnis ist, braucht Heldenmaße, riesenhafte Dimensionen und sucht sie außerhalb seiner Schulvorbilder, die ihm klein erscheinen, weil es ihre Größe nicht begreift. Deshalb hatten die Alten Riesen und wir haben Strategen, deshalb liest das naive Volk den »Schinderhannes« lieber als den »Faust«. Und deshalb ist zu alleinigem Trost Ungeschmack so oft – Jugend.

Ich aber mit meiner Kinderseele und mit meiner alten Seele, ich mit meiner Mischseele mußte in inneren Zwiespalt kommen auf diesen Wegen. Ich konnte alle Schauer der Einsamkeit, der Furcht, der versteckten Geheimnisse empfinden und gleich hinterher über meine Empfindungen reflektieren. Mich überkam das Gruseln an steilen Abhängen und dunklen Schluchten, und ich konnte doch feststellen, daß das Gebirgee aus Porphyr bestand. Ich fühlte oft einen Schauder beim Anblick Brumbus und seiner bunten Schar, die uns Willenlose ins Ungewisse führten, und ich hatte doch Lust, sie auszufragen, über sie zu spotten oder mir Notizen über sie zu machen.

Das sind die Räubersteige des letzten Märchens. Und zu diesen inneren Erlebnissen paßte ein äußeres Ereignis.

Wir hatten uns an einer Berglehne gelagert, ein Feuer angezündet und brieten ein paar Stücke Wild, die unterwegs erbeutet worden waren. Wir rauchten natürlich alle aus kurzen Pfeifen, auch ich, obwohl das zu meiner schottischen Bluse, die ich immer noch trug, nicht paßte, und wir mußten alle aus derselben Flasche trinken.

Da brachte eine ausgestellte Wache einen Gefangenen herbei. Er war ein kleines, altes Männlein mit einer Brille. Er trug ein Paket unter dem Arm.

Sofort trat das »Berggericht« zusammen, Brumbu, der Räuberchef, mit sechs ausgewählten Beisitzern. Der Hauptmann hielt dem Gefangenen in strengen Worten vor, daß es eine Frechheit von ihm sei, sich auf diesem verbotenen Gebiet herumzutreiben, und daß er also zur Strafe seine sämtlichen Habseligkeiten auszuliefern habe, widrigenfalls seiner ein grauenvolles Schicksal harre.

Daraufhin legte das Männlein äußerst behutsam sein Paket zur Seite, zog eine Kapsel aus der Tasche, trat an Brumbu heran und sagte:

»Ach, entschuldigen Sie, wenn Sie hier zu Hause sind, können Sie mir vielleicht sagen, was das für eine Pflanze ist, die ich hier in der Kapsel habe?«

Brumbu machte ein sehr verdutztes Gesicht.

»Ich bin nämlich Botaniker,« fuhr das Männlein fort, »und habe da eine Pflanze entdeckt, die in keine einzige der 24 Klassen des Linnéschen Systems paßt. Sie können sich davon leicht überzeugen, wenn Sie einen Blick durch meine Lupe werfen wollen.«

Der Botaniker drückte dem Räuberchef sein Vergrößerungsglas in die Hand, der es verwundert betrachtete und dazu ein hilflos dummes Gesicht machte.

»Ja, verstehen Sie,« sagte der Botaniker wieder, »das einzige Exemplar im ganzen Gebirge! Ein Mirakulum, ein Mirakulum! Ein ganz außerordentlicher Fall! Es ist ein Fund für die Wissenschaft, ein Fund, sage ich –«

Dr. Nein, Dr. Schnugu und ich drängten uns heran. Brumbu atmete auf.

»Ich sehe nicht gut,« sagte er zu dem Botaniker und gab ihm die Lupe zurück, »aber wenden Sie sich an diese da! Das sind die drei klügsten Leute der Welt.«

Der Botaniker wandte sich zuerst an Dr. Nein. Dieser lachte verlegen.

»Ja, mein Bester, Botanik so – so! Aber geben Sie mal das Ding her! – Blau – hm! Blau! Sehr blau! Warten Sie mal: Ein Veilchen ist's nicht, eine Kornblume ist's auch nicht, also kann's nur eine Glockenblume sein! Campanula rotundifolia!«

»Herr!« schrie der Botaniker kirschrot vor Wut und nahm Dr. Nein entrüstet die Kapsel ab. »Sie sind – Sie sind ein Esel!«

Darauf wollte Dr. Nein über den Gelehrten herfallen, aber Brumbu hinderte ihn und sagte:

»Ruhig, der Mann hat recht!«

Nun nahm Dr. Schnugu die Kapsel, betrachtete die darin liegende Pflanze lange durch das Vergrößerungsglas und gab sie endlich an mich.

»Ja, es ist ein Mirakel,« sagte er. »Die Pflanze läßt sich nicht einordnen! Ich kenne sie nicht.«

»Und das Fräulein wird sie erst recht nicht kennen,« sagte der Gelehrte nervös. »Weiber können nie was in Botanik.«

»Aber das ist ein ganz absonderliches Weib!« behauptete Dr. Schnugu. »Lassen Sie ihr die Kapsel!«

In der Kapsel lag eine Blume von wunderbarem Farbenglanz. Ich sog den Glanz ein mit meinen Augen, und meine Seele suchte in ihren Erinnerungsschätzen nach einem Vergleich für diese Farbenstimmung. Ferne Bilder stiegen vor mir auf.

Einen Nonnenchor sah ich einmal einen Berg hinaufsteigen. Der Abend war nicht weit. Ein tiefer, schwermütiger Friede lag über der Welt. Vom Berge her tönte ein leises, silbernes Läuten, und der Wind flüsterte über mir in alten Bäumen. Die Nonnen gingen alle gesenkten Hauptes an mir vorbei. Nur einer konnte ich in die Augen sehen, und ihre Augen hatten die Farbe dieser Blume. –

Und einmal, als ich noch ein Kind war und viel tn den Bergen herumlief, kam ich zu einem Brunnen, den ein altes, verwittertes Gemäuer einschloß. Die Leute erzählten, er sei sieben Meilen tief, und in schweren Kriegszeiten hätten die Menschen ihre Schätze in den Brunnen geworfen. Das Wasser könne keiner sehen; es sei zu tief, das Gemäuer sei morsch, und wer hinunterschauen wolle, sei verloren. Ich aber schaute doch hinunter, und einmal, als der Himmel ganz hell war, sah ich das Wasser. Es hatte die Farbe dieser Blume.

Dann ein anderes Mal, als ich schon ein Mann war und nach langer Krankheit und vieler Qual einsam spazieren ging, kam ich auf einen Hügel. Es lag viel blühendes, lebendiges Land zu meinen Füßen, eine große, bunte Stadt mit hohen Schulhäusern, mit langen Fabrikreihen, mit vielen belebten Straßen, drüber hinaus Dörfer mit fruchtbaren Feldern, drüber hinaus der belebte Fluß, das ragende Gebirge. Aber ich sah das alles nicht, das starke, wahre Leben da unten tat meinen Augen weh; ich sah darüber hinweg, sah eine einzige Farbenlinie, dort, wo am verdämmernden Horizont der Himmel die Erde berührt – und diese Linie hatte die Farbe dieser Blume.

Ja, diese Farbe ist noch im Leben und doch schon jenseits des Lebens, sie ist noch mit menschlichem Auge zu schauen, aber wer sie findet, für den ist es ein Schauen, ein Hinträumen, kein scharfes Sehen mehr.

Ich beugte mich tiefer über das Mirakel. Ein süßer, weltfremder Duft fing meine Sinne, ein Duft, in dem die Sehnsucht mit dem Frieden rang, ein Duft, stark genug, diese Augen zu schließen und andere zu öffnen, – Wundergärten zu erschließen, das Leben zu vergessen. Da richtete ich mich auf.

»Lassen Sie mir diese Blume! Ich kenne sie!«

»Sie kennen sie?«

»Ja, es ist die blaue Blume der Romantik.«

Ein Griff, – die Kapsel war mir entrissen.

Rauh nahm der Gelehrte dem Dichter die Blume aus der Hand.

»Können Sie mir den botanischen Namen sagen?« fragte er lauernd.

»Nein, das kann ich nicht!« sagte ich mit mattem Lächeln.

»Dann kann mich das alles nichts nützen,« entgegnete er abfällig. »Die blaue Blume der Romantik – mit solchen lokalen Benennungen läßt sich nichts anfangen.«

Und er klappte die Kapsel zu, raffte seine anderen Pflanzen zusammen und ging davon.

Niemand hinderte ihn, die blaue Blume der Romantik in seiner Kapsel davonzutragen, niemand, – nicht einmal die Räuber.


Durch ein Gewirr von schmalen Pfaden, durch viele maskierte Durchgänge, teilweise durch unterirdische Wanderungen und in halsbrecherischen Kletterpartien waren wir endlich an die geheime Höhle gelangt, die im verlorensten Teile des völlig unwegsamen Gebirges lag.

Die Höhle war von großer Ausdehnung und bot ein Chaos von geraubten Gegenständen aller Art. Gold- und Silbersachen, Geschmeide, Seidenstoffe, kostbare Geräte und Waffen, Teppiche, Uhren, Kunstgegenstände, aber auch Wäschestücke, alte, abgeschabte Anzüge, landwirtschaftliche Geräte, Handwerkszeuge, Musikinstrumente, Schuhe und Stiefel, Lampen, selbst Kinderspielzeug – das alles lag, lehnte, stand, hing, quetschte durch-, über- und untereinander.

Brumbu seufzte.

»Glauben Sie mir, wenn ich einmal Inventur mache, das ist eine Hundearbeit,« sagte er zu mir.

»Machen Sie manchmal Inventur?«

»Hier selten! Aber in den offiziellen Höhlen muß ich in jedem Jahr Inventur machen. Es ist wegen der Steuer.«

»Zahlen Sie denn Steuer?«

»Ja, natürlich, was glauben Sie denn? Gewerbe-, Einkommen- und Vermögenssteuer! Kommunallasten gebe ich nicht, weil ich meist unbestimmten Aufenthaltes bin. Aber der Staat! O, ich sage Ihnen, ich muß jedes Jahr reklamieren, denn die Herren am grünen Tische schätzen mich immer zu hoch ein. Und sie haben keine Ahnung von meinen Spesen und der schwierigen Geschäftslage.«

Es ist gar nicht uninteressant, einmal in einer Räuberhöhle zu hausen. An viele der geraubten Gegenstände knüpften sich aufregende Geschichten, die ich aber nicht wiedergebe, weil ich annehme, daß Brumbu in seiner Eitelkeit vieles übertrieb und zu seinem Vorteil ausschmückte. Denn er war ungeheuer eitel. Bei vielen seiner Abenteuer hatte er sogar von einem seiner Leute photographische Momentaufnahmen machen lassen; auch besaß er eine Autographensammlung berühmter Gefangener, in die ich wohl oder übel meinen Namen eintragen mußte.

Bei der Besichtigung des »Inventars« hatte Dr. Schnugu zu seiner großen Freude die alte Tabakspfeife wieder entdeckt, die ihm Brumbu bei der Konsultation einst geraubt hatte. Der alte Walddoktor saß nun meist draußen zwischen den Felsen, rauchte und starrte in die Ferne. Ich saß bei ihm, ebenso schweigsam und in Gedanken verloren wie er, während Dr. Nein in der Höhle Studien mächte, einen Artikel über die Abschaffung der Staatsräuberei skizzierte und beständig Händel mit Brumbu hatte. Ganz einsam, von uns allen abgesondert, war Stimpekrex. Er litt unbeschreiblich in jenen Tagen.

Zwischen den Felsen war eine bedrückende Stille. Stumpf und öde lag das Gebirge. Mit starren Armen dehnte es sich tot gegen den braunen, unbewegten Himmel hin und wieder kaum ein paar grüne Halme; selten ein Vogel, der sich daher verirrte, vor der Einsamkeit erschrak und kreischend zurückflog ins Tal.

Aber dieser lautlose, tote Friede quälte uns nicht so sehr wie die stumpfe Ruhe, zu der wir selbst verurteilt waren in jenen Tagen, da das ganze Land von den heftigsten Kämpfen durchtobt war.

Dazu kam bei mir die Sorge um die Geliebte und auch um Goldina, das Kind des toten Königs. So zersann ich mir bei Tage und in der Nacht den Kopf, was ich Vernünftiges zu tun vermöchte, das irgendwie der guten Sache von Nutzen sein konnte.

Ich fand nichts; auch Dr. Schnugu wußte keinen Rat. Wir waren beide bereit, jedes Opfer zu bringen, wenn wir nur gewußt hätten, wozu es dienen sollte.

So waren wir in der Tat in einer grausamen Gefangenschaft. Am fünften Tage unseres Aufenthalts in der Höhle brachte einer der Leute Brumbus aus dem Tale die Nachricht, die erste Schlacht sei gefallen, die Herididasufoturanier seien vollständig geschlagen, und die Hakulatotuländer seien auf dem Wege nach Marilkaporta. Die Bestürzung im Lande sei furchtbar. Hamrigula habe die wilde Flucht seines Heeres nicht aufhalten können. Nun stehe er mit seiner Schar nahe beim verbotenen Berge vor der heiligen Stadt. Dort wollten die Herididasufoturanier den verzweifeltsten Widerstand leisten.

Eine fiebernde Erregung ergriff uns. Das eigene Volk geschlagen, der Feind vor dem Tor der heiligen Stadt! Und doch war das der Weg, das Land vor noch schwererem Unglück zu bewahren, es zu erlösen aus der Hand dieses Verräters.

Die Frage beschäftigte uns, wie eine so vollständige Niederlage, eine so haltlose Flucht möglich gewesen sei. Der Bote gab uns einigen Anhalt.

Die Herididasufoturanier waren ohne die rechte Begeisterung in den Krieg gezogen. Männer waren unter ihnen aufgestanden, die an das Friedenstestament des toten Königs erinnert hatten; andere, die sich offen aufgelehnt hatten gegen die Gewaltherrschaft Hamrigulas. So konnte der Prinz nur durch eiserne Strenge die Ordnung in seinem Sinne aufrecht erhalten. Auf dem Lande und in den kleinen Städten gärte es, in Marilkaporta herrschte tote Stille. Immerhin hatte der Prinz noch einen großen Anhang. Er suchte ihn zu erhalten und zu vergrößern, indem er immer wieder die Lügenmären über den Erbprinzen neu auffrischte.

»Nehmt Rache an Juvento, dem Mörder unseres toten Königs!«

Und das Volk glaubte es, und die armen, irregeleiteten Patrioten strömten ihm zu.

Der Bote brachte auch die neueste Nummer der »Posaune« mit. Das Blatt enthielt wieder die gemeinsten Beleidigungen unseres Volkes, des Prinzen Hamrigula und des toten Königs. Auf der dritten Seite der »Posaune« stand folgende Notiz:

»Wie bekannt, sind die vier Redakteure der ›Zeitung‹ in unsere Gewalt gebracht worden, auch Dr. Schnugu, der das verbrecherische Urteil über den Königsmord abgegeben hat. Die Redakteure sind vor ein Kriegsgericht gestellt, abgeurteilt und vorgestern erschossen worden. Dr. Schnugu wurde gehängt. Durch solch unrühmlichen, aber wohlverdienten Tod haben die Herididasufoturanier ein paar der ›Edelsten ihrer Nation‹ verloren. Sie werden sich aber zu trösten wissen, denn solcher Galgenvögel, wie Dr. Schnugu, haben sie noch sehr viel im Lande.«

»Hurra!« schrie Dr. Nein, »wir sind tot! Mausetot! Erschossen und begraben! Und Sie, edler Dr. Schnugu, hängen an einem Galgen, und die Hakulatotuländer spielen Zappelmann mit Ihnen.«

Wir konnten diese Fröhlichkeit nicht teilen. Abermals wurden unsere Namen mißbraucht, um den Haß des Volkes zu schüren; nun konnten wir unmöglich länger schweigen; nun war selbst ein nutzloser Tod besser als dieses Schweigen.

Draußen in den Felsen hielt ich mit den Getreuen eine Beratung. Auch Brumbu hatte dabei Sitz und Stimme.

Wir berieten nicht lange und gingen unmittelbar an die Ausführung unserer Beschlüsse. Am Nachmittag saß ich in Brumbus kleinem »Kontor« und schrieb mit fliegender Hand Blatt um Blatt. Eine Darstellung des Lügengewebes, in das das Volk verstrickt war. Die Entlarvung Hamrigulas. Wenn ich lebte, sollte mir dieser Artikel eine Waffe sein, wenn ich sterben mußte, war er mein Testament.

Nach zwei Stunden war ich fertig. Brumbu hatte inzwischen aus seinem Chaos eine Anzahl Anzüge herausgesucht, aus denen wir uns je einen auswählten: ich, der Redakteur, einen blauen, Schnugu, der Arzt, einen schwarzen, Dr. Nein, der Parlamentarier, einen gescheckten. Stimpekrex, der Hofmann, hätte einen grünen wählen müssen, verschmähte aber die Farbe und kleidete sich blau wie ich.

Dann öffnete Brumbu zwei Kisten, die von oben bis unten mit künstlichen Bärten gefüllt waren. Einer der Räuber, der früher Theatercoiffeur gewesen war, übte seine Künste; nicht lange, so hatten wir jeder einen passenden Bart angeklebt und sahen nun genau so aus wie früher.

So traten wir vier nebeneinander und hielten gemeinsam eine Tafel hoch, auf der zu lesen stand:

»Wir leben! Hamrigula hat uns gefangen gehalten, Wir sind ihm entflohen. Unsere Urteile über den Königsmord sind von Hamrigula gefälscht. Hamrigula selbst ist der Mörder des Königs. Macht Frieden mit Juvento!«

In dieser Aufstellung wurden wir photographiert. Brumbu hatte zu diesem Zweck aus seinen Vorräten ungefähr zwölf photographische Apparate herausgesucht. Infolge der hochentwickelten Technik waren die ausgezeichneten Bilder in wenigen Minuten fertig.

Es war gegen Abend, als wir uns anschickten, die Höhle zu verlassen. Zuvor hielten wir noch ein Mahl. Um ein brodelndes Feuer lagen wir, das flackerte und knisterte eine geheimnisvolle Musik und bestrahlte mit rotem Schein die bunten phantastischen Gewänder der Räuber. Der Hauptmann hatte großen Staat angelegt; seine Kleider waren von der kostbarsten Seide, der Griff seines Dolches war ein einziger großer, blaugrüner Diamant. Musternd glitt sein Blick über die Schar.

»Wir werden jetzt ausziehen, um einen Einbruch zu verüben,« sagte er mit feierlicher Würde. »Aber den Gästen kann ich die Beteiligung nicht gestatten. Dazu gehört eine große Kunstfertigkeit, die ihnen mangelt. Nur Dr. Barragu werde ich mitnehmen, weil er unbedingt notwendig ist. Die anderen werden im Walde warten, bis wir von dem Einbruch zurückkehren.«

»Die andern werden sich schön bedanken,« sagte Dr. Nein; »sie werden nicht warten, weil das viel zu langweilig wäre, sondern lieber bei dem Einbruch mitmachen.«

Die Räuber starrten erschrocken Dr. Nein an, der es wagte, ihrem Hauptmann zu widersprechen. Es kam zu einer heftigen Aussprache zwischen den beiden, in welcher sich der Parlamentarier dem Räuberchef an Grobheit weit überlegen erwies. Endlich mußte die Debatte ohne Resultat abgebrochen werden, da es Zeit zum Aufbruch wurde.

Brumbu hielt einen Abschiedstoast.

Er freue sich, sagte er, daß er uns habe in seiner Häuslichkeit aufnehmen können. Nun gingen wir vier: Dr. Schnugu, Dr. Nein, Stimpekrex und ich einer gefahrvollen Zukunft entgegen. Sollten wir (was er für höchst wahrscheinlich halte) in den nächsten Tagen unseren Tod finden, so wolle er uns – mit Ausnahme von Dr. Nein – ein ehrenvolles Andenken bewahren.

Ich dankte Herrn Brumbu in einem kurzen Gegentoast, und dann brachen wir auf. Der Räuberchef mit feinen besten Leuten begleitete uns. Er gab stundenlange, mühsame Kletterpartien, dann bestiegen wir Pferde und trabten rasch dahin. In einem Walde hielten wir an.

Drüben auf einer Wiese lagen mehrere große Gebäude, ein bißchen weiter ins Tal hinab erstreckte sich eine Stadt. Tiefe Nacht. Einsam und still lagen die Häuser auf der Wiese. Brumbu zeigte auf das eine der Gebäude und sagte:

»Also das ist das Haus, das ich meine! Ich gehe kundschaften. Wenn der Ruf des Käuzchens erschallt, kommt Dr. Barragu mit meinen Leuten über die Wiese gekrochen. Gekrochen, sag ich! Und alle anderen bleiben hier – alle!«

Denjenigen, die noch nie an einem Einbruch beteiligt gewesen sind, kann ich verraten, daß es eine aufregende Sache ist. Wer schwache Nerven oder gar einen Herzfehler hat, dem rate ich entschieden ab, bei solchen Dingen mitzumachen, selbst wenn das Einbrechen einmal Modesport werden sollte, was ja leicht möglich ist.

Ich muß sagen, daß mir sehr elend zu Mute war, als ich so in dem Walde wartete. Endlich erscholl der Ruf des Käuzchens, der ja in allen Räubergeschichten erschallt. Brumbus Leute warfen sich auf den Bauch und schlängelten sich über die Wiese, und ich warf mich auch auf den Bauch und gab mir Mühe, mich ihnen kunstgerecht nachzuschlängeln.

Als wir zur Hälfte drüben waren, hörte ich eine leise Stimme hinter mir:

»Ich bin auch da!«

Dr. Nein!

»Aber Sie sollen doch gar nicht mitkommen!«

»Unsinn! Ich werd' mir gerade von dem alten Spitzbuben was befehlen lassen.«

»Sie sind doch aber so gegen das Räuberwesen.«

»Bloß als Parlamentarier! Als Privatperson macht es mir Spaß. Sogar mächtigen Spaß! Verdammt,– jetzt hab' ich mir in die linke Hand einen Dorn eingetreten! Das Kriechen ist eine faule Sache!«

Wir krochen dicht an das Haus heran. Brumbu hatte indes ein zu ebener Erde gelegenes Fenster geöffnet und war bereits emgestiegen. Er winkte mir. Eine ganz eigentümliche Übelkeit überkam mich, aber ich nahm mich zusammen und stieg ein. Wir waren in einer hübsch eingerichteten Stube. Nacheinander stiegen die Räuber durchs Fenster.

»Sind alle herein?« flüsterte Brumbu. Da sah er Dr. Nein. »Zum Donnerwetter, was will denn der Kerl hier? Wollen Sie machen, daß Sie rauskommen?«

»Sie haben mich gar nichts rauszuschmeißen, Sie alter Halunke,« knirschte Dr. Nein. »Ich habe ebensoviel Recht hier einzubrechen wie Sie.«

Da verlor der Räuber seine Fassung.

»Soviel Recht wie ich?! Haben Sie eine Konzession?« schrie er. »Einen Gewerbeschein? Ein Wilder sind Sie, ein Schwärzer, ein Raubräuber!«

Das ließ sich der Doktor nicht gefallen, ein wütender Streit brach aus, es kam zu Tätlichkeiten, ein Tischchen mit Porzellan fiel um, ich wandte mich nach dem Fenster –

Da sprang die Tür auf, und fünf bewaffnete Männer drangen in die Stube.

»Waffen hoch!« kommandierte Brumbu. Die Räuber erhoben die Waffen.

»Was wollt Ihr?« rief der Älteste von den fünf Männern, bleich vor Schreck, als er die Menge der Eindringlinge sah.

»Dr. Barragu, treten Sie vor und sagen Sie dem Manne, was wir von ihm wollen!« befahl Brumbu.

Ich muß sagen, daß ich mich in einer großen Verlegenheit befand. Ich machte vor dem alten Herrn eine tiefe Verneigung und stammelte:

»Ach, bitte entschuldigen Sie nur gütigst, verehrter Herr, – daß wir – daß wir so frei gewesen sind, – – Sie können mir glauben, daß es mir außerordentlich fatal ist, zu solch ungewohnter Stunde und auf diesem Wege in Ihre traute Häuslichkeit –«

»Das ist Quatsch!« unterbrach mich Brumbu und trat selbst vor. »Also hören Sie, Freundchen, dieser Herr hat einige Bogen Papier in der Tasche, die Sie schleunigst in Ihrer Buchdruckerei etliche tausendmal abdrucken werden. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir große Eile haben und daß die ganze Geschichte sich schnell, exakt, ohne allen Lärm und völlig kostenlos für uns abwickeln muß; sonst würde die Sache für Sie gefährlich werden.«


In den nächsten Stunden saß ich mit meinen Gefährten in einer Buchdruckerei, die an das Wohnhaus, in das wir eingestiegen waren, angebaut war. Der alte Herr war der Besitzer, die anderen vier Männer waren seine Gehilfen. Eifrig arbeiteten alle an den Setzertischen und an den Maschinen. Sie hatten außer dem Manuskript, das ich am Nachmittag abgefaßt hatte, auch die Photographle von Schnugu, Nein, Stimpekrex und mir zu vervielfältigen.

Es war ein recht eigentümlicher Anblick, diese Leute nächtlicherweile so eifrig arbeiten zu sehen, während die Räuber an den Wänden lehnten und sie nicht aus den Augen ließen.

»Ich war schon einmal hier,« sagte Brumbu in der Zwischenzeit leise zu mir. »Der Mann hat für mich schon einmal zwangsweise ein Bändchen Gedichte drucken müssen. Ein junger Dichter hatte sich an mich gewandt. Er konnte für seine Dichtungen durchaus keinen Verleger finden, denn alle behaupteten, die Gedichte seien sehr schlecht. Da wandte er sich vertrauensvoll an mich. Mir gefielen die Gedichte, und als ich sie hatte zwangsweise drucken lassen und ein kleines Vorwort dazu gemacht hatte, haben sie 3l7 Auflagen gehabt!«

Morgens gegen vier Uhr waren die Broschüren fertig; auf der Titelseite war unser Bild. Der Druckereichef, der alles gelesen hatte, war in schwerster Aufregung über den Inhalt und kam mir mit der größten Höflichkeit entgegen. Ich entschuldigte mich nun noch einmal bei ihm, aber er sagte, er sei glücklich, helfen zu können an einer patriotischen Tat.

Behutsam und liebenswürdig entließ er Dr. Nein und mich durch die Haustür. Brumbu erklärte eine solche Art des Ausgangs für ehrenrührig oder doch für höchst ungewöhnlich und kletterte mit seinen Gefährten wieder durchs Fenster. Jeder von uns trug ein Paket der Broschüren.

Im Walde trafen wir mit Dr. Schnugu und Stempekrex wieder zusammen. Wir nahmen dort von Brumbru und seiner Schar kurzen, aber herzlichen Abschied. Die Räuber zogen aus nach allen Teilen des Landes. Überall sollten die Flugblätter verteilt werden. An einzelstehenden Bäumen, an Wegzeigern, Brückengeländern, Straßenecken, auf den Haustürschwellen, auf den Marktplätzen, an den Brunnen, überall sollten die Herididasufoturianier das Flugblatt finden.

Wahrheit! Die Wahrheit mußte das Volk wissen, dann mochte es sich entscheiden.

Und wir vier gingen dorthin, wohin uns das Herz zog – nach Marilkaporta.


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