Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Die erste Nummer.

Herr von Stimpekrex hatte pünktlich nach drei Tagen seine »politische Umschau« an mich eingereicht. Ich hatte darauf Herrn Dr. Nein von den Punkten, die Herr Stimpekrex berührt hatte, benachrichtigt und erhielt von diesem binnen 24 Stunden eine Arbeit, die in allen ihren Ausführungen der ersten diametral gegenüberstand. Als Probe führe ich einige Sätze beider Arbeiten an.

Herr von Stimpekrex schrieb:

»In Amfulgaroktigu hat am letzten Sonntag eine Volksversammlung stattgefunden. Als Redner trat der berühmte Herr Frischberle auf. Frischberle, der noch vor 150 Jahren Schlosser war und dem man sein Autodidaktentum auf Schritt und Tritt anmerkt, hatte die Kühnheit, über die ›Abschaffung unseres Winters‹ zu sprechen. Abschaffung des Winters!!! Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß an den ehrwürdigsten Traditionen schamlos gerüttelt wird, daß ein Mann, wie Frischberle, mit Schlagworten und hohlen Phrasen es wagen darf, die Gemüter des leichtgläubigen Volkes aufzuregen, Institutionen anzugreifen, unter deren segensvollem Einfluß unsere Väter seit Jahrmillionen glücklich gewesen sind. Eine trostlose Zeit würde kommen, wenn in öder Schablonisierung die völlige Gleichgestaltung unserer Zeitrechnung jemals Gesetz werden sollte, ein goldener Schatz von Poesie würde mit dem Winter versinken, eine schwere Benachteiligung tausender und abertausender fleißiger Bürger würde die Folge sein, wir würden uns in Gegensatz stellen zu allen gebildeten Nationen. Zu unserer Freude können wir berichten, daß der gesunde Volksverstand sich durch den prahlerischen Feuerwerksglanz des Frischberleschen Redeschwalls durchaus nicht blenden ließ. Wenn auch seine Parteigänger vergeblich versuchten, ihm eine lärmende, aufdringliche Huldigung zu bereiten (die Vanille-Eisverkäufer und die Badehosenschneider lärmten am lautesten), so wurden sie doch total niedergestimmt. Diese nicht mißzuverstehenden Gegendemonstrationen am Schluß der Rede dürften Herrn Frischberle gezeigt haben, ein wie klägliches Fiasko er erleiden würde, falls er es wagen sollte, auf seiner Agitationsreise auch die Hauptstadt zu berühren.«

Dr. Nein schrieb:

»Einen glänzenden Verlauf nahm die große Sonntagsvolksversammlung in Amfulgaroktigu. Herr Frischberle war der Hauptredner. Sein hervorragender Ruf als Redner, nicht minder aber das zeitgemäßeste aller Themen, das auf der Tagesordnung stand, hatten Scharen von Volk in Amfulgaroktigu versammelt. Herr Frischberle, der von der Pike auf gedient hat, hat sich durch eigene Kraft und Arbeit zu einem geistigen Niveau emporgerungen, das die meisten der konzessionierten Weisheitspächter und abgestempelten Semesterphilosophen tief unter sich läßt. Mit Wucht und Glanz, immer auf dem sicheren Grunde objektiver Beweisführung, sprach er über ›Die Abschaffung des gesetzlichen Winters‹. Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß solche Kämpfe jetzt noch notwendig sind, daß der gesunde Volksverstand in Jahrhunderttausenden noch nicht Zeit und Spielraum gefunden hat, eine solch hirnverbrannte Einrichtung abzuschaffen. Unsere unglücklichen Väter haben unter ihrem tyrannischen Zwang gelitten, wir wollen ihn abwerfen. Wir werden uns von einer lächerlichen Bevormundung befreien, wir werden unseren armen Kindern das Recht verschaffen, barfuß zu laufen, wenn sie Lust haben, wir wollen allen muffigen Mantelzeug zum Tort dem freien Hemdsärmel zum Siege verhelfen, wir werden mit der Abschaffung einer so verrotteten Tradition die Achtung aller gebildeten Völker erringen. Wie tief die Sehnsucht nach der Befreiung vom Winter ist, ging aus dem überwältigenden, brausenden, nie endenwollenden, minutenlangen, sich immer wiederholenden Beifall hervor, der der Rede folgte, und in dessen Wogen die ohnmächtige Opposition, die eine Handvoll anwesender Kohlenhändler und Kürschnermeister zu machen wagte, hilflos ertrank. Wenn Herr Frischberle – wie wir hoffen – nach Marilkaporta kommt, sind ihm ein herzlicher Empfang und ein glänzender Erfolg sicher.«

Der einzige Punkt, in dem die beiden politischen Gegner sich begegneten, betraf den Erbprinzen. Während Herr von Stimpekrex in höfisch gewandten Worten seine Freude über den Besuch aus dem befreundeten Nachbarland aussprach, brachte Dr. Nein zwar zuerst ein paar knurrige Sätze, aus denen hervorgehen sollte, daß Prinzenbesuche absolut kein Interesse für ihn hätten, verriet aber sein Interesse nur allzusehr, hatte auch einige zwar grobkörnige, aber doch sehr ehrliche Freundlichkeiten für den sympathischen Königssohn übrig und ließ zum Schluß ziemlich unverblümt durchblicken, daß er es sehr gern sehen würde, wenn der Erbprinz sich um die Hand der holden Goldina bewerben würde. Den letzten Passus strich ich natürlich, was den Verfasser sehr erboste, da die Stelle gegen den Prinzen Hamrigula gerichtet sein sollte.

Schnaff brachte mir einen Berg lokaler Notizen, aus denen ich eine bescheidene Auswahl traf.

Einige Musterblüten darunter waren folgende:

l. Das Gerücht von einer bevorstehenden Verlobung des Erbprinzen Juvento mit der Prinzessin Goldina wird als verfrüht bezeichnet.

»Herr Schnaff,« fragte ich, »wer hat das Gerücht aufgebracht, und wer bezeichnet es als verfrüht?«

Es stellte sich heraus, daß beides Herr Schnaff getan hatte.

Ich strich die Notiz.

2. Der Vorsteher der Station Boberquelle ist am 10. d. Mts. wegen Trunkenheit verhaftet worden. Die Leitung der Station wurde probeweise dem ersten Assistenten übertragen, der aber am 12. d. Mts. aus demselben Grunde verhaftet wurde. Nette Zustände!

Ich zeigte Herrn von Stimpekrex die Notiz, der mir indes versicherte, daß er bei der Verhaftung die Hand gänzlich aus dem Spiele hätte. Das arme Vorsteherlein tat mir leid, ich gedachte an die »grüne Limonade« in der »kühlen Eule« und strich die Notiz, da ich im stillen hoffte, mich für den Inhaftierten verwenden zu können. Insonderheit aber ermahnte ich Herrn Schnaff, in Zukunft bei solchen Gelegenheiten hämische Bemerkungen wie »Nette Zustände!« lieber zu unterlassen.

3. Unser Himmel ist leider undicht geworden. Es hat sich herausgestellt, daß es unterhalb der Oderquelle einregnet. Da sich die schadhafte Stelle gerade über einer Weißbleicherei befindet und die Oder sehr schmutziges Wasser hat, hat der Bleicher um schleunige Abhilfe gebeten. Ein Regiment Pioniere und eine Anzahl Schieferdecker sind am 13. nach der Oderquelle abgegangen.

Gegen diese Notiz konnte ich nichts einwenden, obwohl mich als geborener Schlesier der Passus vom schmutzigen Oderwasser sehr kränkte.

4. Der Mann, der am 14. in bewußtlosem Zustande und übel zugerichtet an der Landstraße gefunden wurde, ist nicht – wie vermutet – Räubern in die Hände gefallen. Er kam von einem Erbschaftsregulierungstermin und ist unterwegs ohnmächtig geworden. Seine Verwandten sollten verhaftet werden, liegen aber zum großen Teil selbst schwer danieder.

5.Am 20. d. M. findet im Königlichen Schausielhaus eine große Galavorstellung statt. Die Direktion bittet uns, mitzuteilen, daß der Herr Cheftedakteur der neuen Zeitung, Professor Dr. Barragu, über diese Vorstellung höchstselbst eine Kritik in seinem Blatte veröffentlichen wird. Die Preise sind deshalb um das doppelte erhöht.

Ich machte ein paar wütende Striche durch diesen Artikel und fuhr Herrn Schnaff grimmig an. Der machte ein betrübtes Gesicht und sagte, der Direktor hätte sich so auf die Einnahme gefreut und ihm auch eine gute Provision versprochen. Das Zugmittel sei nun verloren, wenn ich die Besprechung nicht schreiben wolle. Ich sagte, daß ich das zwar tun würde, aber eine Notiz in die Zeitung auf keinen Fall zugäbe. Am anderen Tage las ich die konfiszierte Notiz als Anschlag an den Straßenecken. Herr Schnaff, den ich darob zu mir zitieren wollte, ließ mir sagen, er sei unpäßlich.

Ein altes, weißhaariges Professorlein suchte mich heim. Er hielt ein sehr schadhaftes, zerlesenes Buch in der Hand.

»Lieber Herr,« sagte er, »ich wollte Sie sehr bitten, mir zu helfen, ein großes Unrecht wieder gut zu machen. Als ich noch jung war, hab ich einmal in einer öffentlichen, großen Versammlung über dieses Buch gesprochen. Sehen Sie, und ich kannte es nicht. Ich hatte es kaum dreimal gelesen. Nicht wahr, wer kann nach wenigen Stunden ein Werk gerecht beurteilen, das ein anderer jahrelang in seinem Herzen getragen hat, darein er seine geheimnisvolle Seele gelegt hat, das er in seinen besten Stunden, mit seinem treuesten Fleiß, mit seinen besten Talenten geschrieben hat? Ich habe leichtsinnig das Buch verurteilt, das Werk vernichtet, den Mann, der es geschrieben, geschädigt und in seinem empfindlichsten Herzpunkt verletzt. Ich möchte das gutmachen. Ich kenne das Buch jetzt; wenigstens, ich kenne es auswendig. Und ich habe mir Mühe gegeben, es so gut zu erfassen, wie man das Werk eines anderen erfassen kann. Es ist manches mangelhaft an dem Buch, aber vieles ist schön. Das Schöne habe ich damals unterschlagen. Ich hatte noch keine Gewalt über meinen Geschmack. Das war's! Sehen Sie, und das möchte ich gutmachen, soweit es noch geht. Eine Lüge läßt sich ja zwar nie ganz widerrufen, sowie man das Gift, das man in einen Strom geschüttet hat, nicht tropfenweise wieder herausfischen kann; aber wenn Sie mir eine Besprechung des Buches in der neuen Zeitung gestatteten, wäre ich glücklich.«

Ich sah das reuige Professorlein gerührt an.

»Verehrter Herr,« sagte ich, »bei uns droben werden Bücher besprochen, die der Referent kaum durchblättert, ja, die er manchmal gar nicht gesehen hat.«

»Oh, das ist verbrecherisch!« rief mein Gast. Ich zuckte die Achseln.

»Es sind wenig Schriftsteller bei uns, die ihr Buch jahrelang im Herzen tragen, die mit Fleiß, Treue und Beruf daran schaffen. Und dann – es sind zu viel, zu viel! Was Ihnen ein verbrechen dünkt, ist oft nichts als Notwehr.«

Der Mann tröstete sich ein wenig und war glücklich, als ich seine Besprechung annahm.

Am nächsten Tage wagte sich Herr Schnaff zu mir und suchte meinen Zorn wegen des Zettelanschlags dadurch zu besänftigen, daß er mir eine »neue, eine ganz brillante Idee« brachte: einen Briefkasten mit zur Hälfte sehr witzigen und zur anderen Hälfte sehr gelehrten Antworten. Angefragt habe zwar niemand etwas, aber man könne das geschickt fingieren. Ich sagte Herrn Schnaff, ich sei unpäßlich, und schob ihn nebst seinem Briefkasten hinaus. Am selben Tag besuchten mich noch auf der Redaktion: siebzehn Theaterleute, vierzehn Lyriker, fünf Romandichter, zehn Großkaufleute, zwei Sprachforscher, ein Zauberkünstler nebst Frau Gemahlin, zwei Musikdirigenten, einundzwanzig Politiker, zwölf Autographensammler, neun Kuriositätenliebhaber, die namhafte Summen für die l., l00., lll., 333., 999., l000., 1001. und 7777. Zeitungsnummer, die gedruckt werden sollte, setzten, dann ein ungezähltes Heer von Stellungsuchenden und Bittstellern. Ich war daher am Abend beträchtlich müde, obwohl ich für die Zeitung nicht ein Wort geschrieben hatte.


Ich floh aus der Stadt hinaus auf einen stillen Wiesenpfad, den ich kannte. Ein Holunderstrauch stand am Wege, unter den setzte ich mich. Auf einem entfernten Wege sah ich den Prinzen Juvento der Stadt zugehen.

Müde schloß ich die Augen.

»Siehst du, das ist der Knicker!«

»Der schäbige Kerl, der uns kein Trinkgeld gegeben hat.«

Zwei Krähen! Zwei von den Krähen, mit denen ich gekommen war. Eine große Freude erfaßte mich. Wesen von droben, Wesen aus meiner Heimat!

»Kommt einmal her, o bitte, so kommt einmal her!«

Aber sie rissen die Schnäbel weit auf, streckten mir die Zungen entgegen und flogen fort. Ich sah noch, daß sie beide Briefe um die Hälse trugen.

Traurig sah ich ihnen nach. Sie flogen der Gegend zu, wo die Station Boberquelle lag. Ein paar Stunden, und sie waren droben, droben, wo die Berge sich weiß zum blauen Himmel dehnen, droben, wo die freie Luft weht, droben, wo die Menschen wohnen.

O, mit ihnen fliegen zu können! Nur auf eine Stunde! Nur einmal die Sonne leuchten sehen, oder in des Mondes liebes Freundesantlitz blicken, einmal die Hände in den Schnee stecken, einmal der Riesenberge freundliche Kuppen schauen, einmal hinschleichen an ein kleines Menschenhaus!

Die Krähen entschwanden am Horizonte wie kleine schwarze Punkte, die in weißer Milch zerrinnen, und ich setzte mich wieder unter den alten Fliederbaum. Eine heiße Reue faßte mich an. Was, tat ich diesen Vögeln ein Leid – diesen Erdenvögeln?! Was, verscherzte ich mir die Freundschaft derer, die allein mir nachkommen konnten in meine Einsamkeit?!

Das Heimweh überkam mich mit all seiner totschmerzlichen Fieberqual.

Und als ein Windhauch kam und mit leise gleitenden Harfnerfingern durch die Zweige des Baumes am Wiesenrand fuhr, hörte ich ein Lied:

Trafst in der Fremde du
Einen Feind,
Einen Feind aus der Heimat,
Einen, der dir wehe tat,
Aber dort wehe tat,
Wo du zu Hause, –
Den Freund, den dir die Fremde gab.
Wirst du verlassen,
An die Brust wirst du sinken dem Feind,
Dem Feind aus der Heimat,
Und mit seligen Tränen ihm sagen:
O, du mein Bruder!

Mitten heraus aus meiner großen Sehnsucht, aus meiner aufflammenden, heißen Menschenliebe erstand mir die Idee zu meinem Menschenroman, und bald am Anfang wollte ich das schildern, was ich in diesem immergleichen Lichte am schmerzlichsten vermißte, – die Nacht.


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