Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Kerkernacht.

Als ich erwachte, stand Dr. Schnugu neben mir. Ich besann mich mühsam, glaubte eine Fiebervision zu haben und schloß die Augen wieder.

Mir war so schwer im Kopf.

Nach einiger Zeit hörte ich Dr. Nein flüstern. Dann fühlte ich, daß jemand leise meine Hand küßte. Ich hob die Augenlider ein wenig und sah Stimpekrex stehen. Er jauchzte laut, als er mich die Augen öffnen sah, und da erblickte ich auch wieder den Dr. Schnugu. Der sah mich freundlich an und sagte leise:

»Seien Sie ganz ruhig, lieber Freund, es wird alles gut.«

»Wie – wie bin ich zu Ihnen gekommen?« fragte ich.

Da beugte sich Dr. Nein über mein Lager.

»Wir sind hier alle miteinander –«

»Halten Sie das Maul!« zischte ihn der Walddoktor an. Dann wandte er sich an mich.

»Seien Sie ganz ruhig! Regen Sie sich gar nicht auf! Sie sehen, daß alle Ihre guten Freunde bei Ihnen sind.«

Ich lächelte und schloß die Augen wieder. Ein Halbschlummer umfing mich. Es war ganz still um mich. Aber nach einiger Zeit hörte ich, daß Dr. Nein und Dr. Schnugu leise miteinander zankten.

»Ich fürchte, die kalten Umschläge schaden ihm,« sagte Dr. Nein. »Das viele Wasser ist immer bedenklich.«

»Kümmern Sie sich um sich!« antwortete der Arzt. »Davon verstehen sie keine Spur und sollen mir also nicht immer hineinreden. Wenn Sie sich mehr ans Wasser gehalten hätten in Ihrem Leben, dann würden Sie nicht leberkrank sein und außerdem einen viel gewascheneren Mund haben.«

»Ist das ein grober Kerl! Und mit so einem Manne hat man das Vergnügen, zusammen eingesperrt zu sein!«

Da kam ich vollends zur Besinnung. Ich setzte mich auf.

»Sind wir denn eingesperrt?«

»Da habt Ihr's! Nun hat er ihn aufgelärmt! Seien Sie doch ruhig, lieber Freund, bleiben Sie doch liegen!«

»Nein, ich bin bei mir! Ich fühle mich ganz wohl! Ich will wissen, wo ich bin!«

»Natürlich will er wissen, wo er ist,« polterte Dr. Nein los. »Lieber Herr Chef, wir sind hier in einer ganz hundselenden Spelunke eingesperrt. Und das Allerschlimmste ist, mit diesem Dr. Schnugu zusammen, mit dem sich kein Mensch vertragen kann.«

»Hamrigula hat uns verhaften lassen?«

»Ja, und Sie haben einen Kolbenschlag bekommen und waren deshalb so lange bewußtlos.«

Stimpekrex eilte an mein Lager.

»Wollen Sie mir verzeihen, wollen Sie mir ganz verzeihen?« sagte er und kniete an meinem Bette nieder. Ich sah ihn freundlich an.

»Es ist Ihnen ein lieber Glaube zusammengebrochen, mein Freund! Der Glaube an die unbedingte Zuverlässigkeit und Treue aller Großen.«

Er preßte seine Stirn auf mein Bett, und ich streichelte ihm den Kopf.

»Wie kommen aber Sie hierher, lieber Herr Doktor Schnugu?«

Das Gesicht des alten Arztes wurde rot bei der Frage. Er setzte sich neben mein Bett auf einen Stuhl.

»Ich wollte jetzt noch nicht mit Ihnen darüber sprechen.«

»O, tun Sie's doch! Ich fühle mich ganz kräftig. Ich weiß alles wieder ganz genau, was geschehen ist.«

Der Doktor zitterte vor Erregung.

»Hamrigula hat auch mich einsperren lassen.«

»Hamrigula! O, ich dachte es mir! Aber warum tat er's, warum wagte er das?«

»Goldina ließ mich ins Schloß rufen, um dort im Laboratorium die Scherben des heiligen Pokals und das Wasser der goldenen Kanne zu untersuchen.«

»Goldina wünschte die Untersuchung? Nicht der Prinz?«

»Goldina! Der Prinz wußte gar nichts davon, bis er zufällig dazu kam, oder vielmehr nicht zufällig, sondern weil er beständig um die Prinzessin herumspioniert. Ich stellte fest, daß das Wasser, das noch in der goldenen Kanne war, ganz rein, der Pokal an sich aber vergiftet war.«

»O, der Prinz hat gerade das Umgekehrte behauptet.«

»Er hat mein Urteil gefälscht,« schrie der alte Mann auf, »hat es verdreht, um einen Unschuldigen zu bezichtigen, beruft sich auf mich! Und ich sitze hier, hier in dieser Höhle, muß dulden, daß in meinem Namen ein ungeheures Verbrechen geschieht, und kann nicht hinaus, kann nicht allen Leuten ins Ohr schreien: Lüge! Lüge! Lüge!«

Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Es war eben nicht klug von Ihnen, die Analyse im Schlosse zu machen,« wagte Dr. Nein einzuwenden.

Aber da kam er schlecht an.

Der alte Arzt sprang auf.

»Mann! Was geht denn das Sie an? Red' ich denn überhaupt mit Ihnen? Was haben Sie sich denn hineinzumischen? Warum haben Sie sich denn fangen lassen, Sie Hans Alleswisser?«

Dr. Nein gab sich Mühe, einen ruhig vornehmen Ton anzuschlagen.

»Herr Doktor, wenn es die augenblickliche Lage gestattete, würde ich Sie nach diesen Beleidigungen verlassen, Sie gewissermaßen stehen lassen.«

Dr. Schnugu grunzte.

»Wenn es die augenblickliche Lage gestattete! Wenn es die augenblickliche Lage gestattete, d.h. wenn nicht die Türen und Fenster verschlossen wären, würde ich Sie hinauswerfen.«

»Da wir nun aber doch zusammen sein müssen,« sagte ich besänftigend, »so ist es doch besser, wenn sich die Herren vertragen.«

»Unmöglich!« schrie Dr. Nein.

»Ausgeschlossen!« knurrte Dr. Schnugu.

Dann kam eine große Stille. Keiner wußte etwas zu sagen, Stimpekrex lehnte an einer Mauer und stierte vor sich hin. Er hatte wohl schlimme Herzenskämpfe zu bestehen. Er, der das Vaterland liebte, der mit fanatischer Treue an seinem Herrscherhause hing, war im Namen dieses Vaterlandes, von einem Mitgliede dieses Herrscherhauses gefangen genommen worden.

Wie ein gemeiner Rebell!

Und seine Zukunft lag öde und vernichtet vor ihm. Wie schnell war alles gekommen! Vor einer Woche noch hatte das Leben so sonnig vor ihm gelegen. Da hatte er mir glückselig erzählt, Elkaguntascha, das kleine Fräulein, das ich im Eichhörnchennest kennen gelernt hatte, habe ihm nun ihr Herz und ihre Hand ganz geschenkt und ich müsse zu seiner Verlobungsfeier kommen, die schon nach sechs Tagen sein sollte.

Heute war wohl dieser sechste Tag. Und er, der sich an seinem Regenten tätlich vergriffen hatte, lehnte an der schwarzen Kerkerwand in Not und Schande.

Ringsum war Finsternis, graue Sorge, wilder gefangener Zorn, vielleicht dräuende Todesnot.

Ich hatte mich auf mein Lager zurückgelegt. Jetzt erst achtete ich auf meine Umgebung. Ich lag auf Moos und Stroh und hatte eine wollene Decke auf den Beinen.

Wir waren offenbar in einer runden Erdhöhle, die ganz ohne Fenster war. Nur zwei Türen sah ich. Die eine hatte ein Fensterchen, das aber ganz dunkel war und nicht ins Freie zu führen schien.

Eine graue Dämmerung umfing uns. In einem Winkel brannte eine Öllampe. Ich schloß die Augen und versuchte nachzudenken über alles, was ich in den letzten Tagen erlebt hatte.

»Das düstere Geheimnis des Königsmordes quält mich unaufhörlich,« sagte ich leise.

»Den König hat Hamrigula vergiftet,« sagte Dr. Nein rauh. »Da ist kein Zweifel daran! Wer solcher Schuftereien fähig ist, wie der, dem kommt es auch auf einen Mord nicht an, wenn es die Erreichung des Zieles gilt.«

Dr. Schnugu und Stimpekrex schwiegen; sie hatten auf die furchtbare Anklage des Parlamentariers nichts zu erwidern.

»Der König hielt zu Juvento,« fuhr Dr. Nein fort. »Auf die Dauer ließ sich das Verhetzungsmanöver mit der »Posaune« ohne Gefahr nicht fortsetzen; Hamrigula mußte also bald ans Ziel kommen. Der Krieg mußte ausbrechen, er, Hamrigula, mußte der Anführer sein in diesem Kriege, um sich Sieg und Krone zu gewinnen, und so mußte der alte Friedenskönig, der diesen Plänen im Wege stand, sterben. Nun hat er alles, was er will: Der König ist tot, Juvento ist der Feind, er, Hamrigula, der Führer, ja eigentlich schon der König des Landes.«

»Auch für mich ist kein Zweifel an Hamrigulas Schuld,« sagte Dr. Schnugu, »Die Tatsache, daß er die Aufklärung des Sachverhaltes verhindert, daß er mein Urteil gefälscht, daß er mich, den unbequemen Zeugen, beiseite gebracht hat, beweist seine Schuld klar und deutlich. Er hat den Pokal vergiftet, er, oder sein Helfershelfer, irgend ein bestochener Schuft unter den Wächtern oder Dienern des verbotenen Berges, wie er aber im voraus wissen konnte, daß der König den heiligen Pokal holen lassen, daß er aus ihm trinken würde, das kann ich nicht begreifen. Konnte er denn das im voraus berechnen?«

Ich dachte eine Weile nach und sagte dann:

»Unmöglich war auch diese Berechnung nicht. Kurze Zeit vorher hatte uns der König den heiligen Pokal gezeigt, hatte uns die Wunderkraft erklärt, daß er in hoher Not erstorbene Freundschaft erneuen könne. Damals entstand Hamrigulas Plan. Schaffe die Not, laß den König trinken und sterben! Das war der Gedanke, der wie ein Blitz fiel im Dunstkreis dieser schwülen Seele, in der Klugheit und Bosheit sich ewig berühren wie gewitterschwere Wolken.«

»Richtig!« rief Dr. Nein, Hamrigula ließ den Artikel über den Pokal in der »Posaune« erscheinen, der die leicht erregbaren Völker unmittelbar zum Bruderkriege aufreizte, und es war eines gegen hundert anzunehmen, daß der König den rettenden Pokal, um den sich der ganze Streit drehte, kommen lassen würde, um in der hohen Not des drohenden Bruderkrieges mit dem fremden Königssohne Freundschaft zu trinken. Es wäre Hamrigula auch ein leichtes gewesen, dem König diesen Gedanken geschickt nahezulegen, wenn er nicht selbst darauf verfallen wäre. Er war der Regisseur dieses ganzen Dramas, in dem der König als Opfer fiel.«

»Das ist wohl im ganzen richtig gedacht,« sagte Dr. Schnugu kopfschüttelnd, »aber eines konnte Hamrigula unmöglich im voraus berechnen: die Rolle, die der Erbprinz dabei spielen würde.«

Dr. Nein lachte spöttisch.

»Mit wem sollte denn der König Freundschaft trinken, wenn nicht mit dem einzigen Vertreter des verfeindeten Nachbarlandes, der anwesend war? Es ist selbstverständlich, daß Juvento dabei beteiligt sein mußte. Das, dächte ich, könnte ein jeder begreifen.«

»Aber es war nicht selbstverständlich von vornherein, daß er sich das Wasser würde von Juvento einfüllen lassen,« antwortete Dr. Schnugu gereizt, »das konnte er sich von einem Priester, einem Diener oder sonst jemand eingießen lassen, und die Weisheit, dächte ich, könnte erst recht jeder begreifen.«

»Herr Dr. Schnugu,« sagte ich, »Sie haben ganz recht! Daß sich der König das Wasser würde vom Erbprinzen eingießen lassen, konnte Hamrigula im voraus nicht wissen. Aber darauf kam es ihm auch gar nicht an. Das war ein nebensächlicher, ihm höchst günstiger Zufall, den er natürlich nachträglich ausgenutzt hat. Notwendig war das aber nicht. Auch wenn sich der König den Pokal von einem Priester füllen ließ, geschah dasselbe: Der König starb, die schon erregte Volkswut steigerte sich zur Siedehitze, die Schandtat wurde durch Hamrigula auf diese oder jene Weise dem wegen des Pokals neidischen Nachbarvolk in die Schuhe geschoben, speziell dem Erbprinzen, dieser ohnehin schon verhaßt gemachte Mann mußte fort, es entstanden Tumult, Unordnung, Krieg, das führerlose Land mußte Hamrigula an seine Spitze stellen, kurz und gut, der Prinz erreichte sein Ziel ebensogut wie jetzt.«

Dr. Schnugu sagte nichts mehr.

»Endlich scheint er's kapiert zu haben,« sagte Dr. Nein, indem er sich platt auf den Fußboden setzte und eine Zigarre anzündete.

»Kerl!« schrie Dr.Schnugu, »wie können Sie sich unterstehen hier zu rauchen? Hier, wo ohnehin die Luft so schlecht ist, und wo wir einen Kranken haben!«

»Stört es Sie, wenn ich rauche, Herr Chef?« fragte Dr. Nein in aller Seelenruhe. »Ich hab' zufällig noch ein halbes Dutzend eingesteckt. Ganz gutes Kraut! Stück vier Gulden!«

»Rauchen Sie nur, lieber Freund! Mir macht das gar nichts. Es ist mir ganz angenehm.«

»Haben Sie gehört, Herr Medikus? Ich weiß besser als Sie, was für einen Kranken gut ist! In einer solchen Pesthöhle, wo es nach Mäusen, Ratten, Wasserjauche und allem Möglichen duftet, ist eine Zigarre zu vier Gulden eine Wohltat, ist ein Raucher ein Desinfektor!«

Und er legte sich lang auf den Boden und blies den weißen Rauch über sich.

Es wurde ganz still. Stimpekrex hatte die ganze Zeit an der Mauer gelehnt und vor sich hingestarrt. Jetzt begann er auch zu reden. Mit trauriger Stimme sprach er zu mir:

»Ich habe Sie in dieses Land geführt, in das Sie eintraten mit dem Glauben und reinen Vertrauen eines Kindes. Nun haben Sie einen Grad der Verworfenheit bei uns gefunden, die Ihnen gewiß ganz fremd ist.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich kam nicht als Kind zu Ihnen. Nicht mein erstes Märchen ist es, das ich bei ihnen erlebe; es ist mein letztes. Auch die Menschen haben in ihrer Geschichte so manchen Parricida gehabt, öfters in ihrer Königsgeschichte, unzähligemal in ihrer privaten Geschichte. Sie spinnen Intrigen wie dieser Prinz, und auch bei uns sind die Klügsten die Schlimmsten. Und vergessen Sie nicht, wer der elende Helfershelfer dieses Prinzen war! Ein Mensch! Hamrigula sündigte um eine schimmernde Krone, jener Mensch um schmutziges Geld.«

»Kennen Sie den Redakteur der ›Posaune‹?!«

»Ja, ich habe vor wenigen Wochen seinen wahren Namen erfahren. Ich kannte ihn schon droben. Dort war er auch Redakteur. Dort übte er sich unter dem Deckmantel idealer Überzeugung in bürgerlichen, politischen und religiösen Verhetzungen seiner Mitmenschen. Hamrigula war schlau genug, um zu wissen, wo er den geeigneten Schuft für seine Zwecke finden konnte. Und ich sage Ihnen, es mußte nicht gerade dieser sein; er hatte die Auswahl!« –

Das dunkle Fenster an der einen Tür knarrte, und ein Kopf erschien von draußen im Dunstkreis unserer kleinen Öllampe.

»Lillebolle!« schrie ich und sprang von meinem Lager auf.

»Ja, natürlich, Lillebolle!« sagte Dr. Nein, »das hahen wir ja ganz vergessen, Ihnen zu sagen, Lillebolle ist unser liebenswürdiger Kerkermeister. Wir befinden uns nämlich hier in einem Privatgemache des Wirtes der ›kühlen Eule‹, direkt unter dem Lokal.«

»Ist das möglich? Lillebolle, ist das möglich, daß du uns gefangen hältst?«

Der Zwerg grinste, sagte aber kein Wort.

»Sehen Sie, Herr Chef, wie er grinst? Wie er sein blödsinniges Maul verzieht und seine stumpfsinnigen Nasenlöcher aufreißt? Er ist ein zehntausendmal scheusäligeres Subjekt als sein Geldgeber, der Prinz Hamrigula. Hör mal, Lillebolle, du katz-, hundeelender Schuft! Du verkrüppelter Zwerg von Ehrlichkeit und Ausgeburt aller Giftmischer und Weinhändler! Hör mich an! Wenn du eine Ahnung davon hättest, was Schamgefühl ist, wie könntest du dann durch diese verruchte Fensterluke deine Galgenvisage hereinhängen? Im Angesicht von uns! Wo ich deinen Wein getrunken habe, ich, der doctor philosophiae, der Parlamentarier, der Parteiführer, der Volkstribun, deinen gottverlassenen, elenden, verbotenen, saueren Wein! Ich war dein jahrhundertelanger Kunde. Nicht bloß meine Gesundheit habe ich riskiert, auch meinen guten Ruf, meine Stellung, meine Freiheit! Alles bloß, um dich staatsverbrecherischen Schleichhändler nicht verhungern zu lassen. Zum Danke dafür sperrst du mich ein, mich und diesen Dr. Schnugu und diesen vornehmen Herrn von Stimpekrex und diesen großen Dichter und Staatsmann Dr. Barragu, der schon bei Lebzeiten unsterblich geworden ist, weil er uns die Alkoholfreiheit gebracht hat.«

Da verzog der Zwerg seinen breiten Mund und stieß ein spitzes Gelächter aus.

»Und er lacht noch?!«

Eine Wasserflasche sauste nach der Fensterluke. Sie fuhr hinaus ins Dunkle, denn der Zwerg war blitzschnell verschwunden – um gleich darauf wieder vergnüglich lächelnd zu erscheinen.

Dr. Nein schäumte und taumelte nach der Tür. Schnugu hielt ihn zurück.

»Halt! Sie sind gar nicht imstande, unsere Sache zu führen; dazu sind Sie viel zu grob, Sie parlamentarischer Sprachbandit!«

»Zu grob – ich? Was sind Sie denn? Sie Quacksalber! Sie Rattendoktor und Mäuseprofessor!«

Ein wütender Zank zwischen den beiden Doktoren brach aus zum spitzbübischen Vergnügen Lillebolles, der bald ein gackerndes Gelächter, bald ein amüsiertes, nadelscharfes Quietschen ausstieß und Grimassen einer scheußlich anzusehenden Vergnüglichkeit schnitt.

Zum Schluß warf er Dr. Schnugu einen Brief und Dr. Nein einen Schlüssel an den Kopf und war blitzschnell verschwunden, wobei er das Fenster von draußen schloß.

Die beiden Kampfhähne ließen ab von einander, Dr. Nein hielt sich den Kopf, hob aber alsbald den Schlüssel auf und probierte ihn an der Tür, dahinter Lillebolle verschwunden war. Der Schlüssel paßte nicht.

»Die Kanaille will uns foppen,« sagte er und warf den Schlüssel in eine Ecke.

Dr. Schnugu hatte inzwischen den an ihn adressierten Brief geöffnet und las ihn beim Schein der Öllampe. Ein tiefes Schweigen griff Platz, wir sahen gespannt nach dem Walddoktor. Als er fertig war, ging ein unendlich verachtungsvolles Lächeln über sein verrunzeltes Gesicht.

»Auch das tut er dem alten Doktor noch an – auch das noch! – Meine Herren, Sie können binnen wenigen Stunden frei sein, wenn Sie wollen. Der Prinz schreibt an mich. Es liege ihm gar nichts an unserem Tode, sagt er, vielmehr wünsche er zum Besten des Vaterlandes (so schreibt er wirklich!) unsere Unterstützung. Er wisse wohl, einen wie großen Einfluß wir auf das Volk ausüben könnten. Er habe auch Vertrauen zu uns. Um uns das zu beweisen, schlägt er uns folgenden Vergleich vor: Ich soll das ausgestreute Urteil bezüglich der Vergiftung des Wassers in der goldenen Kanne schriftlich bestätigen, Sie sich schriftlich als Verfasser des verbreiteten Extrablattes bekennen. Außerdem sollen wir uns ehrenwörtlich verpflichten, nie etwas zu ungunsten des Prinzen zu unternehmen. Dann wird er uns sofort freilassen, und es bleibt uns bloß noch die Pflicht, eine Fabel zu erfinden, wie wir von Beauftragten des Erbprinzen gefangen und durch die Fürsorge Hamrigulas wieder freigekommen sind, was dann für uns folgt, ist Freiheit und hohe Ehre im neuen Reiche. Im Falle unserer Weigerung ist uns der Tod sicher. Vierundzwanzig Stunden sind uns zur Überlegung gegönnt, dann blüht uns die Freiheit oder das Ende.«

Tiefe Stille.

»Also müssen wir sterben!« sagte ich nach einer Weile. »Keiner von uns wird ein Leben der Schande und des Verbrechens dem Tode vorziehen. Es bleibt uns kein Ausweg.«

»Nein, keiner,« sagte Dr. Nein. »Außerdem würde der Prinz uns auf keinen Fall freilassen. Das wäre viel zu gefährlich für ihn. Es ist ihm nur um die Dokumente zu tun. Wir müssen uns auf das Ende gefaßt machen.«

Stimpekrex, lehnte sich mit dem Kopf gegen die Mauer, ich lag ganz still aus meinem Bette; der alte Walddoktor hielt meine Hand. Eine schwere, schwere Stille. Das Todesurteil war uns gesprochen worden. Dr. Nein begann endlich mit seltsam veränderter Stimme:

»Mich reut jetzt etwas. Am Sonntag vor drei Wochen habe ich einen Mann über die Treppe meines Hauses hinuntergeworfen, den ich höflich hätte dabehalten sollen; denn dieser Mann war ein Lebensversicherungsagent.«

Das war nicht im Scherz gesagt; nein, in jenem Humor, durch den die Tränen leuchten.

Dr. Nein hatte eine Frau und fünf Kinder.

Es quiekte hinter der Tür. Lillebolle. Dr. Nein sprang auf.

»Lillebolle! Hör mich mal jetzt in Vernunft an! Du hast gehorcht, du weißt, daß es uns an den Kragen geht. Nimm mir nicht übel, daß ich dich getränkt habe. Ich meinte es stets aufrichtig zu dir. Also tu mir den Gefallen und schicke nach der Invalidenstraße Nr. 96. Dort wohnt der Agent Mischkurwian, den bitte her! Ich will mich versichern. Dr. Schnugu ist da, der kann mich untersuchen und bestätigen, daß ich kerngesund bin. Mischkurwian tut's, er versichert mich. Und er kann's auch, denn seine Gesellschaft ist steinreich, und meine Leute sind arm.«

Ein rasselndes Gelächter erfolgte. Da trat auch Dr. Schnugu an die Tür.

Lillebolle, ich muß mit dir reden! Obwohl mir's schwer fällt! Ich muß dir sagen, daß es deine Pflicht ist, uns frei zu lassen! Als du auf die Welt kamst, habe ich deiner Mutter und dir das Leben gerettet. Ihr wäret verloren gewesen ohne mich – beide! Es war eine schwere Stunde. Deine Mutter war jung; sie wollte leben; du warst ein krankes Geschöpf, aber leben wolltest du auch. Und ich half dir zum Leben. Deine Mutter war schön, du warst nicht schön. Aber deine Mutter hat doch gelacht in ihren Todesschmerzen, gelacht, weil sie ein Kind hatte. Da ist etwas, das ich für dich getan habe. Von dem andern will ich schweigen. Es ist das erstemal in meinem langen Leben, daß ich von jemand Dank verlange. Aber du darfst den Mann, dem du das Leben verdankst, nicht dem Tode verfallen lassen. Ich will leben – wir alle wollen leben, Wir müssen leben! Wir müssen unseren ehrlichen Namen retten, ehe wir sterben! Laß uns heraus! Fliehe! Versteck dich, wenn du den Prinzen fürchtest! Seine Stunde wird bald schlagen. Und hoffe nicht auf Lohn von ihm! Er wird dich betrügen und verderben! Lillebolle, hörst du mich?«

Ein Schluchzen heulte kurz auf, dann war es still draußen, und es kam kein Zeichen mehr auf alle Anrufe.

Aber ein Lächeln lag auf des Walddoktors liebem Gesicht. Wenn ein häßliches Gesicht plötzlich schön wird, das ist ein rührendes Wunder. Und Dr. Schnugus verrunzeltes Gesicht wurde schön, innig schön, wenn er lächelte, wenn ein Sonnenstrahl aus seinem lieben Herzen seine rauhen Züge erklärte.

»Seien Sie getrost, mein Freund, ich habe noch Hoffnung.«

So sagte er zu mir und legte mir die Hand auf den Scheitel.

»Ich weiß ja, wie schwer das Sterben für die Jugend ist; ich weiß, daß alles junge Blut schaudert, wenn es an die kalte Grube tritt. Immer! Auch wenn es die Ehre erfordert! Es ist wider alle Natur, daß junge Leute sterben wollen. Wie leidenschaftlich, wie verzweifelt haben mich die jungen Kranken manchmal um Leben und Gesundheit gebeten. Und dann war ich immer glücklich, wenn ich ihnen sagen konnte: »Seien sie getrost; ich habe noch Hoffnung!«

»Sie vertrauen auf den Zwerg?«

»Ja, ich habe ihn nie für schlecht gehalten. Und sie haben auch gehört, daß er geweint hat.«

Dr. Nein hatte aufmerksam zugehört. Bei den letzten Worten erhellte sich sein Gesicht. Dann stand er auf und suchte den Schlüssel hervor, den er in die Ecke geschleudert hatte.

»Hurra, Herrschaften, der Schlüssel paßt in diese zweite Tür!«

Dr. Nein hatte in der Tat die zweite Tür, die in dem Erdloche war, geöffnet. Gespannt schauten wir hin.

»Lassen Sie mich kundschaften gehen; ich komme gleich wieder.«

Er nahm unsere Lampe und ging hinaus.

Nach kurzer Weile kam er zurück. Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Haben Sie einen Ausgang gefunden?«

»Nein, Ausgang leider nicht! Es ist gerade so ein verschlossenes, elendes Nest wie dieses, aber –«

»Aber?«

»Aber zehn Weinfässer liegen drin. Gläser sind auch da und Hähne auch. An drei Fässern habe ich gerochen: Rüdesheimer, Burgunder, Tokayer!«

Und ob es gleich eine Enttäuschung war, die unverwüstliche Lebensfreude dieses Mannes tat mir wohl.

Nicht lange darauf brachte Dr. Nein drei Becher Weines, wir wollten zulangen, aber er wehrte ab. Halt! Hände weg!« befahl er. »Diese drei Becher sind für mich! Wer kann wissen, ob der Wein nicht vergiftet ist. Prosit, ihr Leidensgenossen! (Er trank den ersten Becher.) – Der Rüdesheimer – der Rüdesheimer ist rein! – Ihr möget noch lange leben und vielen Ruhm gewinnen, ihr Männer der Weisheit! (Er trank den zweiten Becher.) Der Burgunder – der Burgunder ist klar wie Gold! – So möge euch Gott behüten, ihr lieben Freunde! (Er trank den dritten Becher.) Oh, ich gebe euch mein Wort, ihr Geliebten, auch in diesem Tokayer ist nicht ein Tröpflein Gift.«

Bald darauf brachte er neue Humpen. Auch Dr. Schnugu stellte er einen hin. Dabei sah er ihn wehmütig an.

»Also, alter Herr, übermorgen sind Sie tot! Was haben Sie nun davon, daß Sie sich immer mit mir herumzankten? Was haben Sie davon, daß Sie mir immer vorpredigten, vom Trinken bekäme ich eine verfaulte Leber? Ich bitte Sie, was sollte ich jetzt mit einer gesunden Leber anfangen? Trinken Sie, alter Herr, und schließen Sie Frieden mit mir! Aller Kampf und aller Gram sind am Ende eitel.«

Dr. Schnugu nickte, reichte ihm die Hand und trank.

Die Stunden schlichen dahin, die Zeit der Nacht kam. Nichts ereignete sich, das uns Hoffnung auf Befreiung gegeben hätte. Der Zwerg erschien nicht mehr. Speisen fanden wir reichlich im Nebenraume. Wir rührten sie kaum an. Auch der Wein wollte uns nicht mehr schmecken.

Es war nur ein einziges Lager da. Ich erhob mich und bot dem alten Walddoktor das Bett an. Er lehnte es entschieden ab. Auch die beiden anderen.

»Sie haben das Vorrecht!« sagte Dr. Nein mit einem letzten Aufglimmen seines grimmen Humors, »denn Sie sind Gast in diesem freundlichen Lande. Wir sind hier zu Hause! Und man gewöhnt sich derweil, mit dem blanken Rücken auf der Erde zu liegen.«

Er streckte sich lang aus.

»O, es liegt sich ganz gut! Bloß, daß ich den Agenten die Treppe hinuntergeworfen habe, das reut mich.«

Er fing leise an zu rechnen, während er sich unruhig hin und her wälzte, und einmal seufzte er auf:

»Es wird schwer gehen! Es wird sehr schwer für sie sein, durchzukommen.«

»Sie haben einen sehr netten, kleinen Jungen,« sagte Dr. Schnugu. »Nannten ihn nicht die Leute das kleine Dr. Neinchen?«

»Ja,« sagte Dr. Nein mit heiserer Stimme, und dann sprach er kein Wort mehr.

Es wurde nun ganz still. Dr. Schnugu und Stimpekrex hatten sich in eine Ecke gesetzt und hielten sich fest an den Händen. Oheim und Neffe! Sie hatten manchen lustigen Strauß miteinander gehabt, nun verbanden sie sich still zum großen, letzten Streit.

Ich starrte nach der dunklen Decke über mir. Es fiel mir ein, ich könne versuchen, zu schlafen. Aber ich hatte noch so viel Zeit, zu schlummern, und nur noch so wenig Zeit, zu wachen.

Die Lampe ging aus. Es war eine Qual, zuzusehen, wie das einzige, kleine Lichtlein in der Kerkernacht kleiner und kleiner wurde, wie es vergebens ein paarmal nach oben züngelte, lechzend nach Luft und Kraft, und müde dahinstarb.

Unausgesetzt schaute ich auf den roten, verglimmenden Punkt, mit der schweren Trauer, mit der man ein verlöschendes Leben beobachtet.

Jetzt erstarb es. Ein Qualm fiel mich an. Der Totengeruch des gestorbenen Lichtes!

Was ich gedacht habe in dieser furchtbaren Nacht, wie ich Rechnung gemacht habe mit meinem Gott, meiner Welt, wie ich Abschied nahm von der Braut, von den Eltern, von allem, was ich geliebt hatte, davon rede ich nicht. Diese intimen Güter meiner Seele gehören nur mir.

Verschollen, – gestorben! Verunglückt im Märchenland, verunglückt auf dieser letzten Fahrt, weil die alten, weltkundigen Augen einen Schuft entdeckt hatten!

Die Zeit rückte langsam, langsam weiter. Aber das ist das Gute, daß die Furcht leicht ermüdet. Man kann sich nicht lange heftig fürchten.

So weiß ich, daß mir auch in jener Kerkernacht die Phantasie nicht gelähmt war; ich konnte auch in jener schweren Sorge an den kleinen Geschehnissen um mich her nicht vorbei sehen.

Eine graue Erddämmerung herrschte in der fensterlosen Höhle auch trotz des erloschenen Lichtes.

Da sah ich zwei glitzernde Wassertropfen an der Wand heruntergleiten. Sie kamen herab wie zwei mächtige Wellen, bildeten je einen Flußlauf mit vielen Krümmungen, Stauungen, Stromschnellen, liefen ineinander wie zwei Zwillingsströme und mündeten gemeinsam in ein winziges Meer, das auf einer Mauerkante war. Und ich dachte an die Infusorienfischlein, die in den Flüssen schwammen, an die grausen Ungeheuer, die ihnen nachstellten, an das tausendgestaltige Leben, an den Kampf, der in dem kleinen Flußsystem war, und zuletzt war es mir, als ob ich die Brandung des kleinen Meeres auf der Mauerkante hörte, das an seine Klippen- und Felsenküste anschlug.

Dann kam eine Spinne an einem grauen Seile zu mir herabgetlettert. Sie hielt dicht vor meinem Gesicht und starrte mich an. Mit viertausend Augen! Diese Ziffer hatte ich einmal in der Schule gelernt. Die Spinnen sind in allen Kerkergeschichten die Gesellschafter der Gefangenen. Aber es sind keine tröstlichen Gesellschafter! Mit ihren starren, öden Sphinxaugen erwecken sie der Seele neue Angst. Und es ist auch nichts Merkwürdiges um ihre viertausend Augen. Der Mensch hat viel mehr. An jedem Tage x-tausend Augen mal zwei. Ich scheuchte die Spinne, und sie klomm nach der Decke zurück.

Die Freunde rührten sich nicht. Aber ich glaubte nicht, daß einer schlief. Einsam war ein jeder bei stillen Gedanken.

Die Schatten – die Schatten!

Was sagen die Physiker? Der Schatten ist der verdunkelte Raum hinter einem beleuchteten, undurchsichtigen Gegenstand. Ich habe ganz andere Schatten gesehen, Schatten, die selbständig hin- und herwandelten, sich zusammenduckten, sich riesengroß emporreckten und ihre unheimlichen Formen beständig veränderten, Schatten mit schwarzen, verrenkten Gliedern, die mich bedrohten und in wilden Geberden verhöhnten, – Riesen, Hexen, Katzen, Galgengelichter.

Kerkergespenst!

Die Todesangst packte mich, als ich das schwarze Gesindel tanzen sah, und eine Frage ging mir heiß durch die Seele und durchglühte den jungen Leib:

»Warum freuen sie sich so? Warum höhnen sie so? Wird das Ende so qualvoll sein?«

Ich preßte das Gesicht auf meine Lagerstatt und versuchte, die Angst abzuschütteln. Ich sprach selbst zu mir in meinem Herzen ... lange ... eindringlich ... vernünftig.

Als ich die Augen wieder öffnete, waren die Schatten fort, die Höhle wieder einförmig grau.

Nun wollte ich schlafen.

Ein alter, frommer Kinderreim klang mir wohltätig durch die Seele:

»Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe beide Äuglein zu;
Vater, laß die Augen dein
Über meinem Bette sein!«

Da fing ein großes Strahlen an in einer weißen Welt. Es war ein Glanz und ein Leuchten um mich, und mein Fuß ging wie auf schimmernden, weichen Wolken.

Neben mir ging Angelika. Wir führten uns an den Händen und sprachen kein Wort.

Wohin gingen wir? Wohin?


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