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Achtzehntes Kapitel. Eine Robinsonade im Eis

Am nächsten Tag ging Syver schon beim grauenden Morgen hinaus, um den Eisberg näher zu untersuchen. Der Sturm raste mit unverminderter Kraft, und die Kälte schnitt ihm ins Gesicht, so daß sein struppiger Walroßbart sich ganz weiß bereifte. Ab und zu waren die Windstöße so heftig, daß Syver auf allen Vieren kriechen mußte, um nicht in den leeren Raum hinausgefegt zu werden.

Als Syver etwa eine Viertelstunde lang eine breite Spalte hinaufgeklettert war, kam er auf eine große Hochfläche, die etwa hundert Meter lang und sechzig, siebzig Meter breit sein mochte. Sie war so flach wie ein Zimmerboden, und ungefähr in der Mitte hatte sich das Gletscherwasser zu einem großen Teich gesammelt, der noch keinen Ablauf gefunden hatte.

An der Südseite der Fläche ragten zwei hohe, unzugängliche Spitzen auf, eine auf jeder Seite wie die Wachttürme eines mittelalterlichen Schlosses. Sie verdeckten völlig die Aussicht. Gegen Osten und Westen hingegen war der Blick frei, und was Syver dort sah, erfüllte ihn mit Grauen. Soweit das Auge reichte, erblickte er nichts anderes als Eis und wieder Eis. Nur hier und dort konnte er eine kleine schwarze Kinne zwischen den Eiskolossen entdecken, von Leben war nichts zu sehen, kein Vogel, kein Seehund, nicht einmal eine elende kleine Robbe. Die große, eiskalte, furchtbare Öde umgab ihn auf allen Seiten. Er und seine jungen Freunde waren vom Tode errettet worden, gewiß. Aber welchem Schicksal gingen sie wohl jetzt entgegen, welche neuen Schrecknisse erwarteten sie wohl hier im Eis, wo sie des Allernotwendigsten entblößt waren, um sich am Leben zu erhalten, ohne Nahrung, ohne Feuerung und ohne Waffen! In diesen unwirtlichen Gegenden des Erdballs, das wußte er, läßt sich fast nie ein Schiff sehen. Ganz selten nur kommt es vor, daß eines der Expeditionsboote der Hudson-Bai-Company an diese Küste kommt, um bei den Eskimos Felle einzutauschen; aber auf eines von ihnen zu stoßen, das lag wohl außerhalb aller Hoffnung. Besser, sich schon jetzt auf das ärgste vorzubereiten, dachte Syver. Und dann schlug er den Weg zum Lager hinunter ein.

Die Jungs waren noch nicht aufgewacht. Sie saßen Rücken an Rücken und schlummerten friedlich, ohne etwas von der trostlosen Wirklichkeit zu ahnen, die um sie war.

Je länger sie schlafen, desto besser, dachte Syver, und so brach er eine Ruderbank entzwei und warf die Holzstücke auf den Scheiterhaufen in der Schneehütte. Es galt, das Feuer so lange als möglich brennend zu erhalten, wenn es einmal erloschen war, dann gute Nacht!

Die Jungs schliefen bis tief in den Vormittag. Dann erwachten sie, einer nach dem andern, und rieben sich beim Anblick des qualmenden Scheiterhaufens ganz verwirrt die Augen. Stück für Stück kam die Erinnerung daran, was am Tage vorher geschehen war. Und als sie im Schein des Feuers Syvers ganz versteinertes Gesicht erblickten, da wußten sie ja auch schon, wieviel es geschlagen hatte.

»wo sind wir denn?« fragte Erik und sah Syver mit ratlosen Augen an.

Syver bemühte sich, sie so schonend als möglich mit der Lage vertraut zu machen.

»Das ist noch gar kein Grund, den Mut sinken zu lassen,« fügte er hinzu, »es können Schiffe vorbeikommen, und etwas zu essen werden wir uns schon auf die eine oder andere Art zu verschaffen wissen!«

Aber in tiefster Seele dachte Syver ganz anders.

Den ganzen Tag dauerte der Orkan an. Es wurde ein furchtbarer Tag für die Leute auf dem Eisberg. Um sich warm zu halten und Brennholz zu sparen, versuchten die Jungs ein wenig miteinander zu ringen. Aber es ist sonderbar, in einer solchen Lage hat ein derartiger Zeitvertreib nichts Spannendes oder Lustiges. Außerdem quälte sie der Hunger. Sie hatten sich diesen Sommer gütlich getan und besaßen keine Übung im Fasten. Als sie am Abend wieder in die Schneehöhle krochen und das vorletzte Brett ins Feuer warfen, da war keiner wiederzuerkennen. Stumm und in sich gekehrt duckten sie sich um den flammenden Holzstoß. Jeder von ihnen wälzte seine eigenen trostlosen Gedanken im Kopfe herum, und plötzlich legte Knut das Gesicht auf die Arme und fing laut zu weinen an. Da fuhr Syver auf, nahm Knut bei den Schultern, schüttelte ihn und rief mit funkelnden Augen:

»Wenn du flennen willst, so mach, daß du hinauskommst! Den ersten, der sich wie ein altes Weib benimmt, prügle ich kurz und klein. Habt ihr verstanden?«

Aber nach einer kleinen Pause sagte er, und da war seine Stimme ganz sanft und freundlich:

»Hört mal, Jungs! Ich will ja nicht leugnen, daß wir in einer kleinen Klemme sind, aber das geht schon vorüber! Jetzt wollen wir Rätsel raten!«

Und nun begann Syver Rätsel aufzugeben.

Die Jungs fanden es hart, gerade jetzt Rätsel zu raten. So nach und nach fand Syver jedoch so viele schnurrige Dinge und bekam vor lauter Lustigkeit so viele Fältchen um die Augenwinkel, daß es nicht möglich war, länger an sich zu halten. Bald saßen sie alle da und lachten. Nein, dieser Syver, so einen gelungenen Burschen konnte man suchen! Und nun fing er gar an, Liedchen zu singen, eines drolliger als das andere, von den Erlebnissen der Schiffsjungen auf fremden Meeren, von Liebe und Treulosigkeit und tausend anderen Dingen. Ein Lied löste das andere ab; schließlich schlummerten die Jungs ganz sanft einer nach dem andern, zusammengeduckt, den müden Rücken an die Schneewand gelehnt und die Füße fast in dem qualmenden Holzstoß.

Syver hatte, als der Schlaf die Jungs so allmählich übermannte, die Stimme gedämpft. Und als alle schliefen, erhob er sich vorsichtig und schlich hinaus.

Draußen schien der Mond, und die Luft war sanft und lind.

Der Sturm war vorüber. Das Schneewasser rieselte und gluckste um Syvers Füße, wie er so in dem blauweißen Nachtlicht zur Hochfläche hinaufkletterte. Aus der Tiefe einer seiner Taschen gelang es ihm, ein winzig kleines Stückchen Kautabak hervorzuzaubern. Das half merkwürdig gut gegen den Hunger. Für einige Augenblicke jedenfalls sah das Leben heller aus. Vielleicht würde doch irgend etwas auftauchen, das neue Hoffnung gab. Das Leben hat doch immer etwas in der Hinterhand, dachte Syver, und man darf nicht verzweifeln, bis man nicht endgültig und unwiderruflich mit der Nase in der Luft daliegt.

Er war nun auf die Hochfläche hinaufgekommen. Der weiße Mond spiegelte sich in dem Gletschersee, und ein heimlicher Föhn zog durch die Luft. Halb staunend, halb erschrocken sah Syver, daß der Eisberg sich von seinen tausend Gefährten getrennt und seinen eigenen Kurs eingeschlagen hatte. Einige hundert Meter entfernt konnte er im Mondschein die Eisbarriere sehen, die wie eine undurchdringliche Mauer das kanadische Festland absperrte. Aber zwischen der Eismauer und Syver war eine breite schwarze Rinne, auf deren kleinen Wellchen der Mond glitzerte.

Syver wußte nicht, was er glauben sollte, vielleicht war dies schlimmer als zuvor, vielleicht besser. Die Gefahr, vom Eis heruntergepreßt zu werden, war vorüber; aber was nun? Vielleicht trieben sie jetzt ganz hinaus in die Einsamkeit, fort von jeder Möglichkeit einer Rettung.

Plötzlich zuckte Syver zusammen. Im Norden glaubte er einen Schattenriß schimmern zu sehen, der sich vom graublauem Eise scharf abhob. War das nicht ein Schiffsrumpf, der sich dort oben wiegte? Waren das nicht die altvertrauten Maststumpfe von »Grönlands Schrecken«, die sich da schattenhaft vom Eise abzeichneten? Syver starrte und starrte, bis ihm die Augen weh taten und trüb wurden. Und als sich der Blick an das blaue Zauberlicht gewöhnt hatte, das diese einsame Welt in den unheimlichen, aber bezaubernden Schleier des Märchens hüllte, begann sein Herz in einer Freude zu schlagen, die er sich noch nicht recht eingestehen wollte. Erwartungen durchzogen ihn, an die er noch nicht zu glauben wagte. Wenn das nicht die »Celesta« war, die auf ihn zutrieb, dann war er krank und hatte Fieber, und dann ging es wohl bald mit ihm zu Ende. Aber was konnte es sonst sein, wenn er seine Sinne noch beisammen hatte und der kohlschwarze Schiffsrumpf dort drüben der Welt der Wirklichkeit angehörte?

Syver hatte die Fäuste in der Tasche geballt und wanderte rastlos auf und ab. Wenn das Tageslicht doch nur endlich einmal käme! Wenn doch der erste Sonnenstrahl die Dunkelheit durchdringen und frohe Gewißheit bringen wollte.

Die Zeit schleppte sich schneckenartig weiter. Syver glaubte Tage zu durchleben. Tausend Gedanken kamen und gingen. Was war sein eigenes Schicksal, verglichen mit dem der Jungen dort unten in der kalten Schneehütte? Sie hatten das Leben vor sich. Sie begannen ja kaum das Dasein zu ahnen. Er selbst hatte nicht soviel zu verlieren. Niemand außer ein paar, hier und dort in der Welt zerstreuten Freunden würde wohl ihn vermissen, wenn er hier oben im Niemandsland verschwand. Ach nein – aber mit den übrigen war es eine andere Sache. Und Syver sah vor sich ein trauliches kleines Häuschen bei Alesund, wo Schiffer Rise seine kleine Welt hatte und wohin sicherlich Knuts Gedanken heute Nacht schweiften, während er neben dem verlöschenden Holzstoß schlummerte. Und er dachte an Per, an Hjalmar und an Erik, die hier auf Erden nichts anderes ihr Eigen nannten als eben die Anwartschaft auf jene Zukunft, die bei aller Ungewißheit soviel Lockendes in ihrem geheimnisvollen Dunkel bergen kann.

Und Syver, der immer so sorglos und lächelnd durch das Leben gegangen war, voll Freude an seiner ewig wechselnden Schönheit, unbeschwert von Angst vor dem morgigen Tag, sagte sich in diesen endlosen Stunden der Nacht, daß nur eines hier auf der Welt von Belang war: daß das Schicksal sich barmherzig zeigte und diese jungen, noch unfertigen Menschen dem Leben wiedergab, sie ihre Möglichkeiten erproben ließ und sie nicht auslöschte, ehe sie noch den Lufthauch des großen, wirklichen Lebens um die Stirne wehen gefühlt hatten.

So geschah es denn endlich, daß der erste goldene Tagesschimmer einen ergrauten, bärtigen Mann, ganz durchfroren und von Hunger und Kummer gebeugt, hoch oben auf einem blauen Eiskamm traf, nach Norden ausspähend.

Ein Zittern ging durch Syver, wie er nun die Hand über die Augen hielt und den Schattenriß anstarrte, den er die ganze Nacht hindurch schimmern gesehen hatte.

Dieser Schatten war immer näher gekommen. Er war nun fast doppelt so groß. Und er glich jetzt keiner Fiebervision mehr.

Es war die »Celesta«, die auf den Eisberg zugetrieben kam. Und auf der Back dieses guten alten, verhaßten und verachteten, aber doch so lieben Schiffes unterschied Syver ganz deutlich einen kleinen Burschen, der ratlos auf und abging, aus dem Fuße gefolgt von einem zottigen, vierbeinigen Wesen, das ab und zu aufsprang und seine Vorderpfoten um den Hals seines jungen Herrn legte.

Syver war ein einfacher, gerader Kerl, der die Schickungen des Lebens immer so hinnahm, wie sie eben kamen. Aber nun beugte er das Knie und murmelte etwas ihm selbst Unverständliches, indes die Sonne immer höher und höher über der Davisstraße aufstieg und Leben, Glauben und Zuversicht um sich verbreitete.

*

Als Syver die Jungen weckte, war irgend etwas in seiner Stimme, das ihre Gesichter aufleuchten ließ.

»Kommt mit, Jungs, ich will euch etwas Merkwürdiges zeigen.«

Es war das reine Wunder, daß die Schneehütte nicht einfiel, als sich die Jungen auf allen Vieren aneinander vorbei durch die enge Türöffnung drängten. Syver nickte jedem, der herauskam, mit einem munteren Augenblinzeln zu.

»Mir nach,« sagte er nur und begann zur Hochfläche hinaufzuklettern. Und die Jungs hintendrein, im Gänsemarsch.

»Legt die Jacken ab,« sagte Syver, als sie oben standen, »und wedelt damit, so lange ihr nur könnt!«

Die Jungs sahen etwas verdutzt drein. Aber plötzlich brüllte Hjalmar Hurra, daß es dröhnte, und wies nordwärts. Die anderen blickten hin. Dort, kaum hundert Meter entfernt, kam die »Celesta« auf sie zugetrieben, alt und häßlich und anscheinend dem Sinken nahe; aber nie ist wohl eine Schute so stolz und fröhlich geradewegs in fünf Menschenherzen hineingesegelt, als »Grönlands Schrecken« an diesem milden strahlenden Julimorgen.

Es dauerte nicht viele Minuten, und Angusuak hatte seine Kameraden auf dem Eisberg entdeckt. Sofort fing er an wie ein Wahnsinniger zu winken, während Tungujuluk ganz toll um ihn herumsprang, als hätte auch er verstanden, was vorging; und das hatte er auch sicherlich.

Vor Spannung zitternd sahen die Leute auf dem Eisberg, wie Angusuak für einen Augenblick verschwand, und dann, seinen Kajak schleppend, wieder zurückkehrte. Sie sahen ihn mit ein paar Fangleinen hantieren, die er an den beiden Enden des Kajak befestigte. Dann verschwand er wieder, und diesmal blieb er mehrere Minuten weg. Als er wieder heraufkam, war er schwer mit Paketen beladen.

»Hurra!« brüllten die Jungs und glaubten schon das Essen zu riechen, »hoch Angusuak!«

Und mit Erik an der Spitze kletterten sie alle die Rinne hinunter, so rasch als es nur gehen wollte, um Angusuak unten am Strand zu empfangen, der niedrigen Eiskante, an der sie selbst vor vierzig Stunden in so wunderbarer Weise gelandet waren. Es verging eine gute Weile, und kein Angusuak ließ sich sehen.

»Alles nur mit der Ruhe!« sagte Syver, als er sah, daß die Kameraden ungeduldig zu werden begannen. »Er muß doch erst den Landungsplatz finden.«

Und kaum hatte Syver das gesagt, tauchte auch schon der Kajak auf. Mit einigen wenigen raschen Paddelschlägen legte Angusuak an der Eiskante an.

Angusuak weinte strömende Tränen, aber lachte dabei zugleich über das ganze Gesicht. Er konnte kein Wort hervorbringen; er wackelte nur immerzu mit dem Kopfe. Dann wischte er sich die Tränen mit dem Anarakärmel ab, beugte sich über das Kajakloch und zog rasch ein Paket nach dem anderen heraus, zum Schluß einen großen Kaffeekessel.

»Hast du auch Tabak mitgebracht?« fragte Syver, und seine Stimme zitterte.

»Ja, ja, ja, Itordleq (allerältester Mann),« antwortete Angusuak, »Masse Dobba und Ikitsisit! Angusuak denken an alles!«

Stolz reichte er Syver eine Rolle Kautabak und ein Päckchen Zündhölzer.

Syver strahlte und begann sofort eine lustige Melodie zu pfeifen.

Die anderen hatten sich, ohne ein Wort zu verlieren, auf die Eßpakete gestürzt und saßen nun schon vertieft in die Mahlzeit da, stumm wie fressende Raubtiere. Nur ab und zu hörte man ein leises Knurren der Wonne und Glückseligkeit.


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