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Wäre Schiffer Rise, der Rapitän der »Seeschwalbe«, kein so kräftiger Mann gewesen, so hätte ihn sicher der Anprall die Kajütentreppe hinuntergeworfen.
»Verzeihung, verraten Sie mich bitte nicht!« keuchte der Urheber des Zusammenstoßes, ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit rotem heißen Gesicht und zerzaustem strohgelbem Haar. Die Stimme klang so flehend und die Augen blickten so verzweifelt und hilflos, daß es der Schiffer nicht übers Herz brachte, seine ursprüngliche Absicht auszuführen und den Eindringling, der ihm immer noch in den Armen hing, umgehend an die frische Luft zu setzen.
»Merkwürdige Art, Besuch zu machen!« brummte er und stellte den Jungen aus die Beine. »Marsch 'rein in die Kajüte!« Er schob den plötzlichen Gast vor sich her.
»So, was ist los mit dir?« sagte er dann, als sie in der Kajüte standen. »Zunächst mal: wie heißt du?«
»Erik Höienhall,« antwortete der Junge, noch ganz außer Atem, »und –«
»Erik Höienhall?« fuhr ihm der Schiffer dazwischen. »Und wie heißt dein Vater?«
»Thorbjörn Höienhall, aber er lebt nicht mehr. Und meine Mutter ist auch tot, und deshalb wollen sie mich ins Erziehungshaus stecken, und da bin ich davongelaufen, und –«
»Soso?« meinte Rise. »Du hast wohl Angst, du müßtest dort zu viel arbeiten?«
»Nein, vor der Arbeit habe ich keine Angst. Aber ich will mir mein Brot auf eigene Faust verdienen.« Erik sah den Schiffer mit leuchtenden Augen an.
Rise brummte etwas. Es war wohl kein Tadel, denn er lächelte dazu. Und dabei ließ er seinen Blick mit so seltsamem Ausdruck auf dem Jungen ruhen, daß der ganz verlegen wurde.
Plötzlich fuhr Erik zusammen. Schritte polterten auf dem Deck, und eine Stimme rief: »Hält sich hier ein Junge namens Erik Höienhall verborgen?«
Schiffer Rise trat vor die Tür und gab zurück: »Wenn Sie meinen Kombüsenjungen Erik Höienhall meinen, der ist hier. Aber Sie müssen sich beeilen, wenn Sie ihn noch sehen wollen; er fährt nämlich morgen mit der ›Seeschwalbe‹ hier nach Grönland.«
Erik spürte ein merkwürdiges Gefühl in den Knien – wie wenn sie ganz weich würden. Er mußte sich setzen, sonst wäre er einfach umgefallen. Hatte er richtig verstanden? Kombüsenjunge? Grönland?
Er hörte, wie der Schiffer die Treppe emporstapfte, wie er mit jemand auf dem Verdeck auf und ab ging und sprach. Nach einer Weile kam Rise zurück.
»Die Sache ist in Ordnung. Du brauchst nicht ins Erziehungshaus, du fährst mit uns als Kombüsenjunge. Einverstanden?«
Erik konnte nur krampfhaft nicken. Er hätte losgeheult vor Glück, wenn er nur ein einziges Wort herauszubringen versucht hätte.
Der Schiffer gab ihm die Hand, »Also schlag ein. Das Schiff hier ist die ›Seeschwalbe‹ und ich bin Schiffer Rise. Ich hoffe, daß du deinem –« er stockte einen Augenblick, »– dein Wort hältst und vor der Arbeit keine Angst hast. Denn arbeiten heißt es hier feste!«
Erik nahm die Hand. Er war entschlossen, nicht nur feste zu arbeiten, sondern, wenn es sein mußte, sich für Schiffer Rise totschlagen zu lassen.
»Ich verspreche Ihnen –« mehr brachte er nicht heraus. Die Tränen schössen ihm aus den Augen; da war gar nichts dagegen zu machen.
»Ist schon gut.« Der Schiffer klopfte ihm auf die Schultern, dann rief er: »Knut!«
Es gab ein Gerumpel und Gepolter, daß das ganze Schiff zitterte. Die Tür ging auf. Erik sah durch den Schleier vor seinen Augen einen Jungen, der ungefähr so alt sein mochte wie er selbst.
»Hier, Knut, ist unser neuer Kombüsenjunge,« sagte der Schiffer. »Er heißt Erik Höienhall. Erklär ihm mal ein bißchen, wie es auf der ›Seeschwalbe‹ zugeht. Ich habe noch in der Stadt einiges zu besorgen.« Damit ging er hinaus und ließ die beiden Jungen allein.
»Ich heiße Knut Rise,« sagte Knut und streckte Erik die Hand hin. »Der Schiffer ist mein Vater. Kannst du priemen?«
Erik hatte sich wieder gefaßt. Etwas beschämt schüttelte er Knuts Hand.
»Ich habe es schon versucht,« antwortete er.
»Du bist wohl eine richtige Landkrabbe,« meinte Knut. Es tat ihm sichtlich gut, den erfahrenen Seemann spielen zu können. »Na, an Bord der ›Seeschwalbe‹ wirst du bald in Form kommen. Das ist ein prima Kasten mit prima Jungs drauf. Der Koch ist ja so eine Marke für sich. Da hast du Pech, daß du gerade den zum Vorgesetzten kriegst. Er heißt Salve Karolus Berg und ist vor ein paar Jahren einmal in den Laderaum gestürzt. Seitdem stimmt's bei ihm nicht mehr ganz im Oberstübchen. Er glaubt an Geister und solche Sachen. Aber nicht an richtige Seegeister, etwa an den Klabautermann, sondern er hat eine Zauberdose, wenn man bei der an einer Kurbel dreht, dann beantwortet sie alle möglichen Fragen. Die Fragen und Antworten stehen auf einem Streifen Papier, wie es genau vor sich geht, weiß ich nicht, aber die Lampe muß man mit einem roten Seidentuch zuhängen, sagt der Koch, und fünfzehn Dollars hat die Dose gekostet. Für so einen Haufen Geld kann man doch was verlangen? Also mit dem Koch, da mußt du dich vorsehen.
Aber die andern, das sind seine Kerls. Syver zum Beispiel, der ist schon auf allen Meeren, die es überhaupt gibt, gefahren und den kannst du fragen, was du willst, der weiß einfach alles. Dann ist die Seekrätze –«
»Seekrätze?« fragte Erik erstaunt.
»Eigentlich heißt er Per Hovde und ist der Bruder von Sivert Hovde, dem ›Robbenkönig‹, von dem hast du doch sicher schon gehört. Und diesen Per, den heißen wir ›Seekrätze‹, weil er beim Fischen immer aufgesprungene Hände kriegt. Der Sterz-Ulrich –«
»Sterz-Ulrich? was bedeutet denn der Spitzname?« verwunderte sich Erik.
»Das weiß ich offengestanden selber nicht. Aber ich finde, er paßt prima. Der Sterz-Ulrich heißt mit seinem richtigen Namen Ulrich Ryvingen. Er hat sogar einen Bauernhof mit Äckern. Aber dort hält er's nicht aus, weil er immer denkt, was er beim Fischen verdienen könnte. Und wenn er auf See ist, dann würde er am liebsten wieder heimfliegen, um zu sehen, was seine Haushälterin mit dem Hof macht. Wenn man sich in zwei Teile spalten könnte, der Sterz-Ulrich würde es sicher tun. Ja, und dann ist noch Bootsmann Vik und der Maschinist – aber das kannst du dir auf einmal doch nicht merken. Du wirst sie schon noch kennenlernen.
Menschenskind, das wird eine Fahrt, sage ich dir! Im Fuglafjord kriegen wir sogar noch Zuwachs, hat mein Vater gesagt, die ›Celesta‹, einen ganz alten Kahn. Den schleppen wir sozusagen als Fischlager mit. Dann sind wir beinahe eine richtige Fischerflottille. – hast du übrigens Ölzeug?«
Erik schüttelte den Kopf.
»Tja,« Knut sah bedenklich drein, »das müßtest du eigentlich haben. Bist du noch gar nie auf See gefahren? Das ist natürlich nicht so einfach für einen Neuling –.« Er schob ein Stück Priem zwischen die Zähne und genoß mit stillem Stolz Eriks Betroffenheit.
Erik wurde es schwer ums Herz. Woher sollte er Ölzeug nehmen? In die Stadt getraute er sich nicht; und wenn er's auch gewagt hatte, er hatte ja gar nicht soviel Geld, um sich eine richtige Ausrüstung zu kaufen.
»Schließlich kannst du ja bei hoher See in der Kombüse bleiben,« meinte Knut.
»So siehst du grade aus!« gab Erik zurück.
Knut lachte spöttisch: »Landratte!«
Das konnte Erik nicht auf sich sitzen lassen. Es gehört sich doch nicht –, dachte er, aber da war ihm die Faust schon ausgerutscht, und nun mußte er sich gegen Knuts stürmischen Gegenangriff wehren. Sie kämpften so verbissen, daß sie es nicht einmal merkten, wie die Tür aufging.
»Ihr seid anscheinend schon dabei, gute Freunde zu werden,« lachte Schiffer Rise. Er zog die zwei Streithähne am Kragen auseinander. »Aber in Zukunft braucht ihr das nicht gerade in meiner Kajüte zu machen. Hier ist dein Seezeug, Erik, und jetzt marsch hinaus!«
Erik stand im dunkeln Gang und sah abwechselnd auf das Paket in seiner Hand und auf Knut. Dann streckte er plötzlich Knut die Hand hin.
»Einen feinen Alten hast du,« sagte er.
»Und ob!« Knut schüttelte kräftig Eriks Hand.
Als Erik an diesem Abend in seiner engen Koje einschlief, konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, jemals so selig gewesen zu sein. Nur eine Sorge drückte ihn: er könnte am andern Morgen aufwachen und merken, daß alles nur ein Traum gewesen war.
Der Morgen kam. Und als Erik sich in der Koje aufrichtete, stieß er sich den Kopf so heftig an die Decke, daß er aus dem tiefsten Traum hätte aufwachen müssen.
Er rieb sich den Schädel. Das brummte und rauschte! Oder war das gar nicht sein Schädel? Erik lauschte angestrengt. Tack – tack – das war Maschinengeräusch, und das Rauschen, das kam vom Wasser, das die Planken der »Seeschwalbe« entlang strömte – der »Seeschwalbe«, die aus dem Nest geflogen war und hinauf fuhr – nach Norden.
»Erik! Erik! Wo steckst du denn, du Faultier?« erscholl eine krächzende, verschlafene Stimme.
Die Pflicht rief, in Gestalt des Kochs Salve Karolus Berg ...