Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel. Angusuak bekommt einen Kajak und findet das »Haus der Toten«

Eines Morgens bekam das kleine Lager in der Exeter Bai seltsamen Besuch. Ein Eskimostamm von zwanzig, dreißig Mitgliedern kam in die Bucht gepaddelt, in Kajaks und zwei großen Umiaks voll Frauen und Kindern. Verlegen kichernd und leise plaudernd ließen sie sich am Strande nieder. Angusuak, der noch nie im Leben seine entfernten Verwandten aus Baffinsland gesehen hatte, war ganz glücklich über diesen unerwarteten Besuch und lief schnurstracks zu ihnen hinunter, um ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen. Obwohl Angusuak »Grönländer« war, also sozusagen zivilisiert, und die Neuankömmlinge »wilde Eskimos«, zeigte es sich bald, daß die Sprache der Unterhaltung kein Hindernis in den Weg legte – sie plapperten bald miteinander, als ob sie demselben Stamm angehörten. Und nach Verlauf einer halben Stunde kam Angusuak mit einem uralten Eskimo an der Hand in die Räucherei hinauf. In sehr feierlicher Weise, mit vielen Verbeugungen und Handbewegungen und noch mehr Gekicher wurde der alte Ehrenmann Syver als Nanuktut vorgestellt – der »große weiße Bär« – der Häuptling eines Stamms, der sein Lager zwei Tagesreisen tiefer im Fjord hatte. Durch ein paar ihrer Fänger hatten sie von den Weißen in Tinikdjuarbing gehört, und nun waren sie gekommen, »um Gaben darzubringen und Geschenke zu empfangen, was man auch tauschen nennt.«

An diesem Abend ging es im »Celesta«-Lager hoch her. Syver und die Jungs tauschten sich die herrlichsten Eskimokleider für so gut wie gar nichts ein. Am seligsten aber war Angusuak; er wollte beinahe seinen eigenen Augen nicht trauen, als Syver ihm nach langen und unverständlichen Fingersprachverhandlungen mit Nanuktut einen funkelnagelneuen, ganz ausgerüsteten Kajak schenkte! Angusuak kreischte vor Entzücken und führte einen wilden Freudentanz zu Ehren seines »Inua«, seines Hilfsgeistes auf, der in so wunderbarer Weise seine schützende Hand über ihm hielt. Als der Handel abgeschlossen war, wurde die ganze Eskimoschar mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Und als Abschluß des Festes führten die Eskimos ihre schönen lustigen Tänze mit Gesang und Trommelbegleitung auf. Auch gab sich Gelegenheit zu einigen spannenden Ringkämpfen mit ein paar ganz unglaublich starken Eskimojungen; die Eskimos siegten erst, als die Jungen von der »Celesta« vom Kampfe völlig ermattet waren. Und da meinten sowohl die Jungen wie die Zuschauer, daß man das eigentlich gar keine Niederlage nennen könne.

Als der Stamm gegen Mitternacht den Heimweg antrat, konnte Angusuak natürlich nicht der Versuchung widerstehen, ihnen in seinem neuen Kajak ein Stück Wegs das Geleite zu geben, und erst in den Morgenstunden kehrte er heim.

Da war jedoch eine seltsame Veränderung mit ihm vorgegangen. Er war sichtlich verstört und verkroch sich in die allerdunkelste Ecke der Räucherei. Dort hörten ihn seine Freunde unablässig etwas murmeln, das wie Beschwörungen klang. Die Jungen hatten im Laufe der Zeit Angusuak so gut kennen gelernt, daß sie vorerst gar nicht versuchten, ihn zu fragen, was geschehen sei. Im Laufe des Vormittags verließ der Grönländer seinen Winkel und begann ganz verworrene Reden vom »Haus der Toten« zu führen, auf das er gestoßen war, als er bei Tagesanbruch zum Lager zurückpaddelte.

Man kann sich denken, daß die Jungen vor Neugierde beinahe platzten, aber wieviel sie auch fragten und forschten, sie bekamen nichts anderes von ihm heraus, als daß die Toten in einem großen Hause ein paar Stunden Kajakfahrt von hier in der Exeter Bai wohnten und ihm nach einem furchtbaren Kampfe seinen kostbarsten Besitz aus Erden, den er auf dem Leibe trug, seit er ein winzig kleiner »Nukaberangoaq« war, entrissen hatten: seinen »Arnuaq«, das Halsband-Amulett, das einen » Teriak« enthielt. Das stand in magischer Verbindung mit seinem Inua. Was das alles zu bedeuten habe, konnte er jedoch in seiner jetzigen Aufregung nicht recht erklären, er schwätzte nur ganz verworrenes Zeug zusammen.

Den ganzen übrigen Tag ging er für sich allein herum, und so heißhungrig er sonst stets bei den Mahlzeiten war, heute weigerte er sich hartnäckig, einen Bissen zu sich zu nehmen. Am Abend paddelte er mit seinem Hund zur »Celesta« zurück, und noch stundenlang konnten ihn die Knaben rastlos auf dem Verdeck hin und her wandern sehen, gefolgt von seinem treuen Aipaq Tungujuluk. Bevor er hinüberfuhr, hatte er etwas gemurmelt, die Toten könnten ihn draußen auf dem Meere nicht erreichen, aber hier auf dem Lande würden sie ihn sicherlich erwischen.

»Der Junge scheint ja vollkommen übergeschnappt zu sein,« murmelte die Seekrätze. Die andern meinten jedoch, es müsse doch einen Grund für Angusuaks Verstörtheit geben, und Hjalmar, Knut und Erik erbaten von Syver die Erlaubnis, am nächsten Morgen eine Erkundigungsfahrt mit der Schaluppe der Bucht entlang zu unternehmen.

Als sie gegen fünf Uhr aufstanden, schimmerte der Fjord wie blankes Quecksilber. Die Eisberge trieben langsam durch die glatte See, und ihre Spiegelbilder waren beinahe unwirklich klar. Wenn die Alken, die auf dem Eisberg saßen, ihre Brustfedern auszupften, sahen die Jungen auch, wie sie tief unten im Wasser ihre Brustfedern auszupften. Das Ganze war wie ein seltsames Märchen.

Die Jungen ruderten die Küste entlang immer weiter hinunter und hielten die ganze Zeit scharfen Ausguck auf das Land. Sie hatten in diesem Sommer Kräfte gesammelt; die schwere Schaluppe glitt ganz wie von selber dahin. Die Luft war so wunderlich schwer und schwül, daß sie bald die Jacken abwarfen und in Hemdärmeln ruderten – zum ersten Male in diesem Sommer.

Sie mochten jetzt wohl eine Meile in den Fjord hineingefahren sein und steuerten eben durch eine enge Bucht, als Hjalmar plötzlich aufsprang, die Augen mit den Händen beschattete – denn das Licht war furchtbar scharf, fast blendend – und rief:

»Jungs, liegt dort drinnen nicht ein Wrack?«

Die Jungen ruderten näher heran, und ganz richtig, da lag das Wrack. Es schien das Achterteil einer großen Eismeerschute zu sein und war ganz von Algen, Tang und toten Muscheln überwachsen. Ein kalter, unheimlicher Hauch schlug den Jungen entgegen. Das mußte Angusuaks »Haus der Toten« sein, das ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte.

»Das ist aber gruslig,« sagte Knut, als sie die Schaluppe verankert hatten und ans Land gingen.

»Wir wollen hineinkriechen,« meinte Hjalmar.

»Ach, lassen wir das lieber,« murmelte Erik schaudernd.

»Warum denn?« sagte Hjalmar. »Also ich krieche hinein, ihr könnt ja draußen bleiben, wenn ihr solche Angsthasen seid.«

Damit kletterte Hjalmar auf das Wrack und war im nächsten Augenblick durch eine Luke des Verdecks verschwunden. Die Jungen hörten eine Treppe knarren, dann vernahmen sie nichts mehr. Es dauerte und dauerte, aber Hjalmar kam nicht wieder zum Vorschein.

»Er muß etwas ganz Besonders gefunden haben,« meinte Knut, und obwohl ihnen beiden ein unheimliches Gefühl durch die Adern lief, kletterten sie doch ebenfalls auf das Verdeck. Als sie gerade oben angelangt waren, steckte Hjalmar den Kopf durch die Luke heraus. Er war grünlichgelb im Gesicht und zitterte am ganzen Körper.

»Kommt her, Jungs!« flüsterte er heiser.

Eine dumpfige, modrige Luft schlug ihnen aus dem dunklen Raum entgegen, ein Gemisch von trübem Wassergeruch, Schimmel und irgendetwas anderem Unbestimmbaren. Lautlos wie ein Gespenst nahm Hjalmar Knuts Hand und führte ihn durch einen engen Gang. Erik folgte dicht hinterdrein. Nun rieb Hjalmar ein Zündholz an und flüsterte:

»Seht her, Jungs!«

Knut und Erik blieben wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Die Kehle schnürte sich ihnen zusammen, das Herz schlug wild, der kalte Schweiß trat ihnen auf die Stirne.

Dort, auf dem Boden, lagen zwei Skelette, zusammengekauert und verzerrt, mit einigen verwitterten, verschimmelten Fetzen bedeckt. Auf den morschen Trümmern eines ehemaligen Sofas saß ein drittes Skelett über den Tisch gebeugt, als schliefe es. Aus den schwarzen Augenhöhlen der Totenschädel wuchs welker Tang; die Schalen toter Riesenkrabben schimmerten fahl zwischen den Rippen durch.

Hjalmar war der erste, der das Schweigen brach.

»Davor braucht man sich doch nicht zu fürchten, die können uns nichts mehr tun! Wir müssen untersuchen, was hier geschehen ist.«

Damit schritt er über die zwei auf dem Boden hinweg und öffnete mit einiger Anstrengung eine Luke, so daß das Tageslicht in diese Wohnstätte des Grauens rieselte. Das half – die liebe Sonne kann viel Unheimliches verjagen. Auch Knut und Erik hatten sich jetzt schon etwas von ihrem Schrecken erholt und halfen bei der Untersuchung der Kajüte. Zuerst fanden sie eine große, verrostete Eisenkassette, die fest versperrt war. In einem Wandschrank, den sie erbrachen, fanden sie vier ganz verrostete Gewehre und einige Schachteln Munition, aber alles so vom Rost verzehrt, daß es gar nicht die Mühe lohnte, es mitzunehmen.

Plötzlich fiel Eriks Blick auf einen kleinen Beutel aus rotem und grünem Leder, der von einem der Skelette auf dem Boden hervorschimmerte. Er erkannte ihn sofort, denn er hatte ihn schon all die Wochen her an Angusuaks Hals baumeln sehen – das war das kostbare Amulett des kleinen Grönländers, von dem er sich um keinen Preis der Welt hatte trennen wollen.

»Seht her, Jungs, da liegt Angusuaks Amulett,« flüsterte er den andern zu. Als sie das Beutelchen sahen, waren sie ebenso entsetzt wie Erik. Das war wirklich unheimlich! Da lag es, Angusuaks Heiligtum, dicht neben der rechten Hand des einen Toten, so als hätte er es ihrem Freunde weggeschnappt!

»Sehen wir, daß wir von hier wegkommen,« meinte Knut.

»Aber das Amulett?« fragte Erik, und er sah seine Freunde mit ganz verwirrten Augen an.

»Nimm du es!« sagte Knut.

»Nie in aller Ewigkeit!«

»Du kannst es mit einem der Gewehre hervorscharren,« schlug Hjalmar vor, und mit zitternden Händen folgte Erik der Weisung.

Dann nahmen sie die eiserne Kassette auf und schleppten sie nach oben.

Hierauf ruderten sie heimwärts.

Die Unheimlichkeit ihres Erlebnisses hatte sie bis jetzt gar nicht merken lassen, welche Veränderung mit dem Wetter vorgegangen war. Erst jetzt sahen sie, daß gewaltige schwarze Wolkenmassen sich im Norden zusammenballten und ein kalter Wind sich erhoben hatte. Offenbar zog ein Unwetter herauf. Nun galt es, so rasch wie möglich heimzukommen, denn in diesen Gegenden schlägt das Wetter unglaublich schnell um. Bald begann auch die See weiß zu gehen, und die Jungen bekamen jetzt zu spüren, wie schwer die Schaluppe bei diesem Wetter zu rudern war. Der Wind wurde stärker und stärker, und sie mußten alle Kraft einsetzen, um das Boot im rechten Kurs zu erhalten.

Als sie nach vier Stunden endlich in die Exeter Bai einliefen, konnten sie kaum mehr ein Glied rühren. Km Ufer unterhalb der Räucherei standen Syver und die Seekrätze und winkten. Mit Aufgebot ihrer allerletzten Kräfte gelang es den Jungen, das Land zu erreichen. Da war der Wind zum Sturm angewachsen. Das war die schärfste Ruderfahrt, die sie in ihrem Leben gemacht hatten, schärfer noch, meinten sie, als damals im Frühsommer, wie sie die »Celesta« vor dem Eisberg her bugsierten.

Syver und die Seekrätze mußten die eiserne Kassette in die Räucherei hinauftragen, denn die Jungen selbst waren dazu nicht mehr imstande.

Aber nachdem Syver, als der Tausendkünstler, der er war, kurz darauf die Kassette geöffnet hatte, war von der Müdigkeit der Jungs nicht mehr viel zu merken! Sie drängten sich um Syver und platzten beinahe vor Neugierde. Syver ließ sich ganz gemächlich Zeit, hauptsächlich um die Jungen zu necken, denn er war ja selbst ebenso gespannt wie alle anderen. Langsam und umständlich nahm er den Inhalt aus der Kassette. Zuerst lag da ein ganzer Stoß Papiere, in dem er bedächtig zu blättern begann. Aber plötzlich zuckte er zusammen.

»Donnerwetter!« rief er. »Das ist ja die ›Mary Rose‹.«

»Wer, sagst du?« fragten die Jungs durcheinander und streckten die Hälse, um zu sehen, was in den Papieren stand.

»Die ›Mary Rose‹, der Walfänger, der vor zehn, zwölf Jahren verschollen ist. Die ganze Mannschaft ist umgekommen, und niemand hat je eine Spur der Schute gefunden! Da habt ihr wirklich Glück gehabt, Jungs!«

Die Jungen dachten im stillen, daß man über das Wort Glück verschiedener Meinung sein kann; aber sie sagten nichts, sie waren viel zu gespannt auf den übrigen Inhalt der Kassette.

»Leeren wir sie doch aus!« drängte Knut.

Syver stülpte die Kassette um.

Ein dickes Bündel länglicher weißer Papiere fiel auf den Tisch – lauter funkelnagelneue Dollarnoten.

Soviel Geld hatte Syver in seinem ganzen Leben nicht in seinen Händen gehalten. Die Kassette enthielt etwas über dreitausend Dollar.

Die Jungs sahen sich an. Syver nahm jedoch kaltblütig das Geldpaket an sich und steckte es in seine Brieftasche.


 << zurück weiter >>