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Es war lindes Vetter, aber neblig – ein richtiger, wolliger, undurchdringlicher Nebel. Knut und Erik saßen abends auf dem Geländer der »Celesta« und plauderten miteinander über die Begebenheiten des Tages. Die Mücken summten rings um sie, sie krochen ihnen in die Nasenlöcher und klebten sich in den Augenwinkeln fest, keine Sekunde hatte man Ruhe vor ihnen. Da hörten sie plötzlich ganz in der Nähe Ruderschläge, und eine klare Knabenstimme, die eine wunderhübsche Melodie sang:
A Dyre du og dig!
dingeli og lei
dikkedu og dikkedi
og dingelu og lei.
»Das müssen sicher Eskimos sein,« sagte Knut.
»Ja,« meinte Erik, »so hört es sich an.«
Das Boot kam immer näher, aber sie konnten es durch den Nebel noch nicht sehen. Der Gesang ging jedoch weiter, und die Knaben spitzten die Ohren.
Wohl sieben Jahre harrt' ich dein,
Wohl sieben Jahr war ich allein.
A Dyre du og dig
dingeli og lei –
Nun hörten sie ganz deutlich, daß es zwei Knabenstimmen waren, die den Kehrreim sangen. Im nächsten Augenblick stieß ein Bootskiel an die Schiffsseite und jemand rief:
»Hallo, Jungens!«
Die Knaben beugten sich über das Geländer und guckten hinunter. Da saßen die zwei Söhne des Kolonievorstehers, Age und Uffe, dort unten in einem Kahn und nickten ihnen zu. Sie trugen dieselben großkarierten feinen Knickerbockers wie das vorige Mal, aber dazu blaue »Anaraqs« aus Windzeug mit Kapuzen, und buntgestickte »Kamikken« an den Beinen, ganz wie die Eskimojungen. Age deutete auf ein paar Angelruten, die vorne im Boot lagen und rief durch die hohle Hand hinauf:
»Wir wollen uns 'n bißchen auslüften. Kommt ihr mit Lachsfischen? First class Fischwetter, da haben wir sicher Jagdglück.«
Erik und Knut bedachten sich keinen Augenblick, sondern kletterten flink die Leiter hinunter, und dann ruderten sie ans Land. Freilich war das eine sehr gefährliche Sache, weil es zwiefach verboten war. Erstens vom Kolonievorsteher und dann vom Schiffer. Aber das war ja eben das Spannende, um so mehr, als sie ja von den Söhnen des Vorstehers höchstpersönlich eingeladen waren. Morgen in aller Frühe stachen sie außerdem ja doch in See. Vorsichtshalber erkundigten sie sich aber noch ein wenig.
»Dein Vater wird aber vielleicht böse sein, wenn er darauf kommt,« begann Knut, aber im tiefsten Innern dachte er mehr an seinen eigenen Vater.
Age schüttelte sich vor Lachen.
»Und ob! Das würde keinen schlechten Tanz setzen! Aber heute Abend ist die Sache nicht gefährlich. Denn der Alte ist doch drüben beim Stationsarzt und spielt Bridge.«
Das Boot fuhr aus den Sand der Bucht auf, und die Jungen sprangen ans Land. Ganz aus der Nähe hörten sie das Rauschen eines Gießbachs.
»Jetzt heißt es aber die Klappe halten,« flüsterte Age, während sie das Boot ganz an den Strand zogen, »hier herum wimmelt es nämlich überall von Eskimos, und wenn einer von ihnen klatscht, dann versohlt uns der Alte nach allen Regeln der Kunst. Also, along boys!«
Mit Age an der Spitze gingen die Jungen im Gänsemarsch einen Bergpfad entlang. Erik merkte zu seinem Staunen, daß an den hängen überall ganz dicht gelbe, weiße und rote Blumen wuchsen. Auch kleine Zwergbirken waren da, die aus dem Nebel hervorguckten und ihnen zunickten. Überhaupt war es ganz merkwürdig, nach diesen vielen Wochen an Bord wieder auf dem Lande zu sein; er bekam förmlich Lust, auf einem Bein zu hüpfen und Hurra zu rufen. Das durfte er aber nicht, er mußte sich vielmehr mäuschenstill verhalten. Doch ein paar Blumen pflücken, das konnte man schon. Nur um die gute Erde zwischen den Fingern zu spüren. Erik tat es und wunderte sich von neuem; denn diese Blumen dufteten ganz so wie daheim. Zwischen den Sträuchern und Steinen zwitscherten kleine Vögel, und plötzlich piepste etwas ganz kläglich unter ihren Füßen. Erik sprang erschrocken zur Seite. Da entdeckte er ein paar kleine, schwarzgelbe Tierchen, die nach allen Richtungen weghuschten. Uffe sagte, das seien »Lemminge«. Erik hatte noch nie Lemminge gesehen, aber in der Schule hatte er von ihnen gelernt. Sie sollten so bösartig sein, daß sie vor Wut zersprangen, wenn man sie nur ein wenig am Bauch kitzelte. Erik beschloß daher, ein paar von ihnen in seiner Hosentasche an Bord zu schmuggeln und sie in der Kombüse zu verstecken – zu einem ganz bestimmten Zweck, von dem er keinem Menschen ein Sterbenswörtchen zu sagen gedachte. Er bückte sich, wie um seine Schuhbänder zu knüpfen. Dabei blieb er etwas hinter den andern zurück, und kaum waren sie im Nebel verschwunden, so stürzte er sich auf die Lemminge und hatte im Laufe weniger Minuten drei Stück gefangen. Sie bissen und kratzten und platzten beinahe vor Wut. Erik steckte sie in die Taschen und ging dann den andern nach.
Doch wo in aller Welt waren sie hingekommen? Erik ging immer weiter über den schmalen, geschlängelten Pfad, aber er hörte und sah nicht das Geringste von seinen Genossen. In seinen Hosentaschen gebärdeten sich die eingesperrten Lemminge wie toll, um loszukommen; Erik mußte sie immer wieder mit den Fäusten hinunter stoßen. Ich werde die Jungens schon finden, wenn ich nur den Pfad weitergehe, dachte er, ich will lieber nicht rufen!
So ging er denn getrost weiter. Als er etwa zehn Minuten gegangen war, merkte er, daß er nun schon ziemlich hoch oben im Gebirge war. Er mußte sich ein gutes Stück vom Fjord entfernt haben, denn er hörte das Wellenglucksen vom Strand gar nicht mehr. Der Nebel war hier oben auch dünner geworden, und er sah jetzt ein gutes Stück vor sich, mindestens zwanzig Meter. Links, gerade vor ihm lagen ein paar wunderliche Erdhütten oder Höhlen mit Türen aus Holzplanken und Wellblech. Aus einer der Behausungen kam ein uraltes Weiblein, die geradezu einer Hexe glich. Sie war schmutzig und häßlich, die Fellkleider hingen ihr in Fetzen vom Leibe, und der Kopf war beinahe kahl, nur hinten im Nacken hing ein ganz kleines, zerrauftes Schöpfchen. An diesem Schöpfchen erkannte Erik, daß es eine Frau war; denn wie alle Eskimofrauen hatte auch die Alte Hosen an. Er blieb wie angewurzelt stehen. Die Alte stolperte mit kleinen raschen trippelnden Schritten gerade auf ihn zu. Dicht vor ihm blieb sie stehen und starrte ihn aus zwei rinnenden, rotgeränderten Augen an. Sie machte ein paar wunderliche Gebärden mit den Fingern und stieß irgend etwas hervor, wovon Erik keine Silbe verstand, es klang wie ola-la-lai-tit oder so ähnlich.
»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Erik und versuchte an ihr vorbeizukommen. Aber die Alte packte ihn am Arm und lächelte. Das war kein schöner Anblick, denn sie hatte nicht einen einzigen Zahn im Mund. Ob sie am Ende eine wirkliche Hexe war? Da oben in Grönland war ja alles möglich.
»Haben Sie – hast du nicht drei andere Jungen gesehen?« stammelte er, um doch irgend etwas zu sagen.
Die Alte lächelte noch breiter mit ihrem zahnlosen Gaumen und nickte in der Richtung der Höhle.
Sie können doch um Gotteswillen nicht hier hinein gekrochen sein, dachte Erik ganz entsetzt und starrte die Türe an, um Gotteswillen, da kommt ja noch so ein Gespenst!
Aus derselben Erdhöhle kam ganz richtig ein neues wunderliches, zerlumptes Wesen. Es war ein alter Mann, der an einem Pfeifenstummel sog und aussah, als könnte er mit der Alten verheiratet sein, so alt und häßlich war er – aber dann mußten sie schon längst die diamantene Hochzeit hinter sich haben. Der Mann winkte, und widerstrebend ließ sich Erik zu ihm hinführen.
»Guten Tag, guten Tag,« sagte der Mann. Er redete also wenigstens norwegisch. Takupause, kavdlunak – olala-lai-tit! Nein, es war ja doch wieder solch ein Kauderwelsch! Er bedeutete Erik, in den Salon einzutreten. Erik trat vorsichtig ein.
Es war drinnen stockfinster, aber um riechen zu können, braucht man ja kein Licht. Und Erik taumelte förmlich zurück, solch eine Luft war drinnen in der Erdhöhle. Außerdem knurrte irgendetwas in einer der Ecken. Erik sah hin und gewahrte ganz unten am Boden zwei grünleuchtende Augen und ein kreideweißes Gebiß. Es lief ihm kalt über den Rücken, als er hörte, wie die alte Hexe die Türe zuschloß.
»Ikisisit?« sagte der Mann.
»Nein, danke,« antwortete Erik und schüttelte energisch den Kopf. Denn er glaubte, daß der Mann ihn einlud, Platz zu nehmen. Darin hatte er sich jedoch getäuscht. Denn Ikisisit bedeutet Zündhölzchen, aber das lernte er erst später. Die Alte rieb also ein Zündhölzchen an und entzündete ein kleines Tranlämpchen.
Erik stand wie auf Nadeln. Er befürchtete, daß die ganze Höhle von all den vielen giftigen Gasen, die sich dort angesammelt hatten, in die Luft gehen würde. Aber sie hielt durch. Das Knurren drüben in der Ecke wurde jetzt von einem zornigen Kläffen abgelöst, und da es nun einigermaßen hell geworden war, sah Erik, daß da eine große Hündin inmitten einer ganzen Menge von Jungen dalag, mindestens sieben oder acht Stück. Sie lag regungslos da und fletschte die Zähne, während sie mit ihren weißgrünen Augen jede seiner Bewegungen verfolgte.
»Ich will hinaus,« sagte Erik und ging auf die Türe zu.
»Aniniarpit? Naj, naj,« sagte der Mann und drückte Erik auf eine Art Hocker nieder. Erik wagte nicht, sich zu widersetzen. Er sah sich um. Das war wohl die elendste Hütte, die er je gesehen hatte, noch armseliger als die Zigeunerhütte, in die er einmal hineingeguckt hatte, als die Polizei die Bewohner verhaftet hatte. Unter der Decke trieben gelbe, giftige Torfschwaden, und durch diesen Rauch sah er undeutlich ein paar gedörrte Fische, die von gespannten Schnüren herabhingen. Mitten auf dem Boden schwälte ein ausgebrannter Holzstoß. Die Wände waren mit Fellen von Hunden, Robben und Renntieren behangen.
Unterdessen hatte das alte Ehepaar mit vereinten Kräften einen Stoß gelbe, weiße und schwarze Felle hervorgezogen und breiteten sie nun vor Erik aus, der immer verblüffter war.
»Tauschemik! Tauschemik!« sagte der Mann eifrig und wies lächelnd auf die Felle.
»Ich habe nichts zum tauschen,« antwortete Erik, und das war ja wahr.
»Essemik! Essemik!« sagte die Alte und steckte zwei schmutzige Finger zwischen ihre zahnlosen Gaumen.
»Danke, ich habe schon gegessen,« antwortete Erik. Das fehlte ihm gerade noch, in dieser Mistgrube sitzen zu bleiben und Eskimofutter zu kriegen. Alles hatte doch seine Grenzen!
Aber die zwei eifrigen Alten ließen nicht ab, und durch Gebärden und wunderliche Reden gelang es ihnen schließlich, Erik begreiflich zu machen, daß sie die Felle gegen Eßwaren, Kaffee und Tabak eintauschen wollten.
Erik meinte, daß er selbst weder für einen Pelzmantel noch für einen Muff Verwendung hatte; und er kannte auch niemand, dem er solches Pelzzeug verehren konnte. Außerdem lagen ihm im Augenblick ganz andere und wichtigere Dinge im Sinn. Wo in aller Welt konnten nur die anderen Jungen hingekommen sein?
Er wollte eben aufstehen und sich entfernen, als die Hüttentüre aufgerissen wurde und zwei Männer eintraten. Erik erstarrte. Es waren zwei ganz gewöhnliche Männer, mit ordentlichen Kleidern und Kragen: zwei von den Dänen, die heute früh an Bord gewesen waren.