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Siebzehntes Kapitel. Unerwarteter Aufbruch

Unterdessen nahm der Sturm mit jeder Minute an Stärke zu, und bald ging ein Unwetter ohnegleichen über Tinikdjuarbing nieder. Die Jungen hatten gar keine Zeit, sich über den Fund des Schatzes zu freuen, denn Syver begann sich um die Verankerung der »Celesta« zu ängstigen und beschloß, mit ihnen sofort an Bord des alten Kastens zu rudern, wo Angusuak jetzt ganz allein mit seinem Hund war. Als sie aber aus der Räucherei kamen, machten sie entsetzte Augen!

Die »Celesta« hatte sich schon losgerissen.

Über die erregte See trieb das Leichterschiff dem Eisgürtel zu, der nun von dem Unwetter zu einer unermeßlichen, undurchdringlichen Mauer von nadelfeinen, blaugrünen Spitzen und Zinnen zusammengedrängt war.

»Wir machen die Schaluppe flott!« kommandierte Syver. Sie liefen zur Bucht hinunter und schoben das Boot ins Wasser. Glücklicherweise wehte der Sturm vom Lande weg, sonst wäre es ihnen nie gelungen; aber sogar jetzt kostete es sie schwere Mühe.

Als es endlich so weit war, fetzten sich die Jungs an die Riemen und ruderten auf die »Celesta« zu. Regungslos und kalt stand Syver am Steuer. Sein Gesicht verzog unter dem Südwester keine Miene; die Augen aber folgten jeder Bewegung der See, und kurz und knapp brüllte er seine Weisungen durch den tosenden Sturm. Die Burschen setzten alle ihre Kräfte ein. Doch die Wellen waren hoch und der Vorsprung der »Celesta« war groß. Alle Anstrengungen schienen vergeblich. Plötzlich wälzte sich auch noch Nebel von den Bergen herab, so dicht, als wäre dort oben ein Krater im wilden Ausbruch und schleuderte ungeheure Rauchmassen hinaus. Bald war der ganze Fjord in dicke, feuchte Wolken gehüllt, und auf einmal merkte Syver an dem starken Seegang, daß sie an der Landspitze vor der Exeter Bai vorbei sein mußten und sich nicht mehr im Schutze der Berge befanden.

Ein Stück vor sich sah er noch undeutlich die schattenhaften Umrisse des Rumpfes der »Celesta«, der sich durch die mächtigen Wellen seinen Weg bahnte. Er versuchte die Ruderer anzufeuern, aber seine Worte gingen in dem Tosen des Sturmes unter. Alle Gewalten des Meeres schienen jetzt entfesselt zu sein. Ein beklemmendes Angstgefühl schlich sich in Syvers sonst so heiteren und unerschrockenen Sinn. Er kannte das Meer und diese Gewässer, kannte die Macht des Sturms und die Schrecknisse des Eises. Sollte er das Ganze aufgeben und umkehren, bevor es noch zu spät war? Bestand denn überhaupt irgendwelche Hoffnung, durch dieses wilde, tosende Meer der »Celesta« so nahe zu kommen, daß Angusuak gerettet werden konnte? In einigen furchtbaren Sekunden stellte Syver eine unheimliche Rechnung auf. Dort an Bord des Leichterschiffs war Angusuak, der liebe kleine Wilde, der ihnen allen ans Herz gewachsen war, der ihnen ein guter und treuer Freund geworden war, und hier, in der Schaluppe saßen diese vier jungen Burschen, die doch von seinem eigenen Stamm waren.

»Rudert, was Zeug hält, Jungs!« schrie Syver mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Rudert, rudert, jetzt sind wir gleich bei ihr!«

Und die Jungens ruderten, ruderten; aber sie hatten keine Kraft mehr, nur Per Hovde vermochte sich noch so recht in die Riemen zu legen, die drei anderen waren vom Vormittag her noch zu erschöpft. Syver erbleichte, als ihm das klar wurde. Er wollte eben Erik ablösen, als sich mit einem Mal etwas Dunkles, Unheimliches dicht neben der Schaluppe auftürmte. Blitzschnell riß Syver das Steuer herum, und das Boot entglitt der drohenden Gefahr – einem mächtigen Eisberg, der durch den Sturm dahintrieb.

Da geschah etwas Wunderbares. Mit einem Male legten sich die Wellen, und ganz verdutzt sahen die Burschen sich um. War das Zauberei? Aber Syver fühlte nur, wie eine neue und noch heftigere Angst ihm das Herz zusammenschnürte. Er begriff sofort, was geschehen war. Der Sturm hatte sich wohl nicht gelegt, der Nebel hatte sie nur in eine neue und noch furchtbarere Gefahr gelockt als die Sturzseen. Die Schaluppe war ins Eis gekommen, in eine enge Rinne mitten in dieser erstarrten Welt, die sich, vom Sturm gepeitscht, jetzt zusammenpackte und in wilder Drift südwärts trieb! Und schon jetzt sahen Syver und die Jungen mit entsetzten Augen, wie schattenhafte Mauern sich aus allen Seiten rings um sie aufzutürmen begannen, wie sie langsam immer näher und näher kamen und immer höher wurden. Keiner der Jungen vermochte ein Wort zu sagen. Sie saßen wie festgenietet an ihre Ruderbänke da und fühlten, wie der Angstschweiß auf ihren Schläfen perlte, denn jetzt hatten auch sie verstanden, in welche furchtbare Gefahr sie gerade in dem Augenblick geraten waren, in dem sie sich gerettet glaubten. Das war der Tod, so sicher wie nur etwas. Jetzt war alles aus, und es gab keine Hilfe mehr! Hjalmar und Erik und Knut mußten daran denken, was sie heute früh an Bord des Wracks »Mary Rose« gesehen hatten. Sie sahen wieder den Blasentang vor sich, der aus den schwarzen Augenhöhlen der Totenschädel wuchs und die fahlen Rückenschilder der Riesenkrabben zwischen den Knochen der Skelette. Und erschauernd vor der Kälte dieser Welt aus Eis, die sich in wenigen Sekunden über ihnen allen zusammenschließen sollte, blickten die Jungen aus hilflosen, angstvollen Augen Syver an, als wenn sie ihn um ein Wunder anflehten.

Syver stand unbeweglich da wie zuvor. Durch sein Hirn liefen alle Gedanken, die sich angesichts des Todes in wenigen Sekunden in einem menschlichen Hirn kreuzen können, und das sind tausende. Er maß, er rechnete, er dachte an tausend Berichte von Abenteuern im Eis und erwog tausend Möglichkeiten, während tausend Sorgen und tausend Selbstvorwürfe sich wie eine schwere Hand auf sein Herz legten. Höher und höher wurden die Mauern rings um sie, unzugänglicher schienen sie, steiler und glatter als der Glasberg des Märchens, plötzlich sagte er ganz ruhig:

»Nur immer weiter rudern, Jungs!«

Mit Händen, die jetzt vor Kälte ebenso wie vor Angst zitterten, griffen die Jungen wieder zu den Riemen; und ganz unberührt, als gälte es eine Vergnügungsfahrt über den Fjord an einem schönen Sommertag, stand Syver da und steuerte, während sein Adlerblick durch den Nebel in die kalte, furchtbare Eiswelt einzudringen suchte.

Plötzlich kommandierte er: »Stop!« Die Zungen bremsten mit voller Kraft – das Boot glitt langsam zur Kante eines riesenhaften Eisberges.

»Springt ans Land!« sagte Syver kurz und gebieterisch.

Die Jungen ließen vor Entsetzen die Ruder sinken. Aber dann gehorchten sie selbstverständlich; denn Syver mußte doch wissen, was er wollte.

»Nehmt die Ruder, die Ruderbänke und die Bootsbretter mit ans Land!« kommandierte Syver. Die Jungen packten zusammen, was die Arme faßten und stiegen an Land, verwundert entdeckten sie, daß der Eisberg tatsächlich eine Art Strand hatte, eine zehn bis zwölf Meter breite Fläche. Sie sprangen rasch hinauf, und Syver folgte nach. Im nächsten Augenblick hörten sie ein Getöse, als würde etwas zwischen den Zähnen eines Giganten zermalmt. Das war die Schaluppe, die vom Eis herabgepreßt wurde.

»Lauft, Jungs!« rief Syver, und nahm selbst ein paar Ruder und zwei Bretter unter den Arm. Aber es war nicht so leicht, über diesen glatten »Strand« zu laufen. Es ging mühsam vorwärts, Schritt für Schritt, mit Syver und Hjalmar an der Spitze. Glücklicherweise fanden sie bald etwas, das man einen Pfad nennen konnte, der den Berg hinaufzuführen schien. Hier war es nicht mehr so glatt, denn die Wellen waren noch nicht bis hinauf gekommen und hatten den Schnee noch nicht abgewaschen.

Langsam und mühselig bewegte sich die Karawane aufwärts; von Absatz zu Absatz halfen sie einander mit den Rudern weiter. Als sie höher hinaufkamen, merkten sie, daß der Sturm an Stärke wieder zunahm. Bald konnten sie sich nur mit der allergrößten Anstrengung aufrecht erhalten. Sie erreichten eine breite ebene Fläche. Syver kommandierte: »Halt.«

Der Nebel hatte sich hier oben bedeutend gelichtet, und die Jungs konnten sich jetzt endlich ein wenig umsehen. Es lief ihnen kalt über den Rücken. Sie befanden sich, wie es schien, mitten oben auf einem ungeheuren Eisberg, von allen Seiten, soweit sie sehen konnten, war nur Eis und wieder Eis. Verwitterte spitze Zacken im Osten und Westen und Norden und Süden, eine ungeheure Kreissäge umgab sie, und über dieser ganzen, unfruchtbaren, ausgestorbenen, schrecklichen Welt heulte der Sturm sein wildes, tosendes Lied.

»Wir müssen uns eine Schneehütte bauen,« sagte Syver.

Obwohl die Jungs vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen stehen konnten und sich am liebsten sofort schlafen gelegt hätten, machten sie sich doch sogleich ans Werk. Der Schnee war von dem Nebel fest und geballt, so daß die Bauarbeit verhältnismäßig leicht vonstatten ging. Nach ein paar Stunden stand die Schneehütte fix und fertig da. Dann brachen die Jungs ein paar der Ruderbänke entzwei und entzündeten in der Hütte ein Feuer. Es prasselte lustig, und bald fühlten sie mit unbeschreiblichem Wohlbehagen, wie das Blut im Körper wieder warm wurde.

So allmählich nickten sie ein, einer nach dem andern. Nur Syver saß wach da und starrte in das Feuer. Da war so vieles, was er zu denken hatte. Zu allen anderen Sorgen war nun noch eine gekommen. Sie hatten ihr letztes Zündhölzchen dazu verwendet, den Holzstoß zu entzünden. Und was ihn am meisten wurmte: als er um die Mittagszeit seine Pfeife angezündet hatte, da waren ihm seine übrigen Zündhölzchen zu Boden gefallen, und er hatte sich nicht die Mühe genommen, sie aufzuheben!


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