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Dreizehntes Kapitel. Ein blinder Passagier

Erik und Knut saßen stumm und verdrossen auf der Ruderbank, als sie eine Viertelstunde später zu »Grönlands Schrecken« hinüberruderten.

»Ich glaube, ich rudre lieber stehend,« sagte Knut und erhob sich von seinem Sitz.

Das ging eher, und so folgte Erik seinem Beispiel, denn auf der ganzen Welt konnte es keine härteren Ruderbänke geben als diese – es war, als säße man auf glühenden Kohlen. Als sie etwa auf halbem Wege waren, fragte Knut:

»Hat er das Tau genommen?«

»Nein – das muß schon die Trosse zur Fregatte gewesen sein.«

Mehr redeten sie vorläufig nicht miteinander. Gleich nachdem sie mit einiger Mühe die Leiter zur »Celesta« erklettert hatten, kam die »Seeschwalbe« heran, das Schlepptau wurde befestigt, und ohne auch nur eine einzige Minute zu verlieren, nahm die Expedition Kurs durch den Sund.

Knut und Erik standen auf der Brücke und starrten auf die Kolonie. Langsam verschwand sie vor ihren Augen und wurde schließlich ganz vom Morgennebel verschlungen, ohne daß das geschehen war, was sie die ganze Zeit über befürchtet hatten: daß Herrn Asgersens Motorboot ihnen mit voller Geschwindigkeit nachsetzte, um den entlaufenen Gefangenen zurückzuholen.

»Ich möchte nicht in der Haut der zwei dänischen Jungen stecken, wenn der Kolonievorsteher erfährt, daß der Vogel ausgeflogen ist,« meinte Erik und nickte mit dem Kopf.

Knut fiel der kühne, schwarzhaarige Eskimojunge ein, der ihnen geholfen hatte, Erik zu befreien.

»Am schlimmsten wird es für Angusuak ausgehen, oder wie er nun heißt. Armer Kerl, den werden sie wohl totschlagen!«

Es klang ehrliches Mitleid aus Knuts Stimme, und Erik, der von der Beteiligung des Eskimojungen an seiner glücklichen Flucht nichts wußte, fragte eifrig, was es denn mit diesem Ungarasuk auf sich habe.

»Ungarasuk? Angusuak heißt er! Das ist doch der, dem der Hund gehört!«

»Es waren doch zwei Hunde da. Die gehören ihm?«

Durch die Türspalte hatte Erik die zwei riesigen bissigen Grönländerhunde vor dem Arrestlokal auf und ab traben sehen, und so lange er lebte, würde er diesen entsetzlichen Anblick nicht vergessen. Aber von dem bösesten der Tiere, Angusuaks Wolf, hatte er begreiflicherweise noch nichts gehört. Die Ereignisse waren einander ja so blitzschnell gefolgt, daß weder er noch Knut Zeit zu unnötigen Reden gefunden hatten. Nun erzählte Knut ihm die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende, von der Fischstange und Ages Kampf mit dem Hunde, von der Wartezeit oben auf der Steinhalde und Angusuaks pfiffigem Einfall, die Feindschaft der Hunde dazu zu benützen, alle drei Köter von dem Arrestlokal wegzulocken. Hjalmar, der am Steuer stand, und Erik hörten voll Begeisterung zu. Und Erik tat es leid, daß er keine Gelegenheit gehabt hatte, seinem grönländischen Retter zu danken. Nun mußte er auch seine Geschichte erzählen, wie die zwei alten, greulichen Gespenster ihn in ihre Mitgrube gelockt hatten.

»Und plötzlich stehen diese zwei Dänen in der Türe und glotzen mich mit bösen Augen an. Hoho, sagt der eine von ihnen und packt mich beim Kragen, du willst Blaufuchsfelle tauschen, die werden dich teuer zu stehen kommen! Ja, das hat er gesagt – und ins Kittchen mit ihm, hat er auch gesagt. Und dann haben sie mich fortgeschleppt. Ich habe mich natürlich gewehrt und gekratzt und gebissen; aber sie haben mir die Arme ausgedreht, daß ich beinahe draufgegangen wäre. Und dann haben sie mich in den dunkeln Schuppen gestoßen. Und da wäre ich auch wieder beinahe umgekommen, denn da war eine noch greulichere Luft als bei den zwei alten Walrossen mit den Fellen. Da stand ich also. Allmählich wurde es ein bißchen heller dort drinnen, und da las ich, was auf die Wände gekritzelt war: Die Regel merke dir, mein Schatz, den Schlüssel häng an seinen Platz! Da hätte ich mich wieder fast totgelacht. Aber auf einmal kriegte ich einen solchen Mordshunger –.«

Erik hielt plötzlich in seiner Erzählung inne. »Herrje,« sagte er nur, »wir haben ja ganz vergessen, was zu essen, Knut! Ich bin so hungrig, daß ich umfalle!«

Knut spürte plötzlich, wie sich sein Magen vor lauter Leere zusammenschnürte. Im nächsten Augenblick waren die Jungen in der Kombüse und aßen alles zusammen, was sie nur in der Eile finden konnten.

Den ganzen Tag fuhr die »Seeschwalbe« mit Volldampf westwärts, quer durch die Davisstraße. Die Leute an Bord der »Celesta« kannten sich nicht mehr aus; wo in aller Welt wollte Schiffer Rise denn eigentlich hin? Bis hinüber nach Amerika am Ende?

Sie mußten schon um die Mittagszeit die gewöhnlichen Fischplätze passiert haben. Nun wurde es Abend, und Knut und Erik krochen in die Kojen. Mitten in der Nacht erwachte Erik. Er lauschte. Die Schute ging noch immer! Er weckte Knut. Denn Knut hatte eine Uhr. »Wieviel ist es?« Erik rieb ein Zündholz an. »Halbfünf,« antwortete Knut schlaftrunken und verdrießlich und schlummerte augenblicklich wieder ein. Erik entschloß sich aufzustehen und nachzusehen, was denn eigentlich vorging. Sie mußten ja nun schon bald ganze vierundzwanzig Stunden unterwegs sein!

Als er auf das Verdeck kam, war es schon so hell wie mitten am Tage, denn sie befanden sich ungefähr eine Meile nördlich vom Polarkreis. Per Hovde, die Seekrätze, hatte die Wache. Er winkte Erik zu sich.

»Du Erik,« sagte er leise, als fürchtete er, daß jemand ihn hören könnte, »warst das nicht du, der gemeint hat, daß es hier an Bord dieses alten Kastens spukt?

»Ja, das erste Mal, als ich hier war. Da war es so – so merkwürdig, alles, schien mir damals!«

»Du – Erik?«

»Na ja?«

»Es spukt hier tatsächlich. – Ich kann einen Eid darauf ablegen!«

»Unsinn! was du dir einbildest!«

»Es spukt hier, sag ich dir! Während meiner Wache hab' ich viermal einen Schatten über das Vorderdeck gleiten sehen. Einen menschlichen Schatten, der keinen Laut von sich gegeben hat. Das ist unheimlich!«

»Warum bist du denn dem Schatten nicht nachgelaufen?«

»Nachgelaufen! Als ob ich mitten in der Wache vom Steuer wegrennen könnte! Am –«

Per Hovde hielt plötzlich inne. Er ließ das Steuer los, packte Erik beim Arm und schüttelte ihn. »Schau, dort!« stammelte er und wies mit einem zitternden Finger nach vorne, »da ist es wieder!«

Erik zuckte zusammen und drehte sich blitzschnell um. Was war das? Über das Vorderdeck huschte lautlos ein kleiner Kerl mit einer Kapuze auf dem Kopf. Erik fühlte, wie der kalte Schweiß von seiner Stirne perlte; er bemerkte, wie die Hände der Seekrätze, die das Steuer umklammert hielten, heftig zitterten. Aber als der Kleine näher kam, da sahen sie mit Staunen: das war ja ein kleiner Eskimo! Er hatte genau dieselben bunten Kamikken an den Beinen, wie sie Age und Uffe getragen hatten, und denselben Tuvilik mit der Mückenkapuze. wo in aller Welt konnte dieses putzige Kerlchen nur hergekommen sein?

Der Eskimojunge trat auf Per und Erik zu. Gerade vor ihnen blieb er stehen und sagte nur diese zwei Worte:

»Nerivoq! Essemik!«

Es war ein so flehentlicher Klang in seiner weichen, schönen Stimme und ein so hilfloser Ausdruck in seinen samtbraunen Seehundsaugen, daß die Jungen lächeln mußten.

»Ja, wer bist denn du?« fragte per. »Hast du heute hier die ganze Nacht das Gespenst gespielt?«

»Sumik? Uvanga? Ich Angusuak. Ja, ja!«

»Angusuak?« stieß Erik hervor. »Bist du der, der mir geholfen hat durchzubrennen?«

»Ja, ja! Ich Angusuak. Ja, ja!«

Erik drehte sich auf dem Absatz herum und schoß wie ein Blitz in die Ruff hinunter, schüttelte Knut, der sich ganz erschrocken in der Koje aufrichtete, und schrie:

»Knut! Aufstehen! Jetzt ist er hier, der mit dem Hund – Angusuak!«

Knut starrte Erik an, dann rieb er sich die Augen.

»Was sagst du? Angusuak? Na wart nur, dann kommen die anderen auch noch an Bord, um dich zu holen, Erik. Das ist ja eine nette Bescherung!«


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