Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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Da es geschehen war: so blickte er lange stumm und warm den kleinen, teuern Schatten an; sein Auge trat, von Schmerzen durchbrochen, über wie ein zerrissenes Ufer; er reichte den Schattenriß dem Rate zu, stockte überwältigt und sagte endlich: »Ihnen, getreuer Freund, Ihnen allein kann ich dieses geliebte Bildnis geben. Sie sind ihr Freund und mein Freund – O Gott, kein Mensch auf der ganzen weiten Erde nimmt sich meiner guten Lenette an, wenn sie von Ihnen verlassen wird – Weine nur nicht so bitterlich, Gute, er sorgt für dich – O mein teuerster Freund, dieses hülflose, schuldlose Herz wird brechen in der einsamen Trauer, wenn Sie es nicht beschirmen und beruhigen: o verlassen Sie es nicht wie ich!« Der Rat schwur bei dem Allmächtigen, er verlasse sie nie, und nahm Lenettens Hand und drückte sie, ohne die Weinende anzusehen, und hing mit tropfenden Augen gebückt auf das Angesicht seines verstummenden Freundes herein – aber Lenette drängte ihn weg von der Brust ihres Gatten und machte ihre Hand frei und sank auf die Lippen nieder, die ihr Herz so sehr erschüttert hatten – und Firmian schloß sie mit dem linken Arm ans erquickte Herz und streckte überdeckt den rechten nach seinem Freunde aus – und nun hielt er an die gedrückte Brust die zwei nächsten Himmel der Erde geknüpft, die Freundschaft und die Liebe...

– Und das ists eben, was mich an euch betörten und uneinigen Sterblichen ewig tröstet und freuet, daß ihr euch alle herzlich liebet, wenn ihr euch nur in reiner menschlicher Gestalt erblickt, ohne Binden und Nebel – daß wir alle nur erblinden, wenn wir fürchten, daß wir erkalten, und daß unser Herz, sobald der Tod unsere Geschwister über das Gewölke unserer Irrtümer hinausgehoben, selig und liebend zerfließet, wenn es sie im durchsichtigen Äther, ohne die Entstellung der hiesigen Hohlspiegel und Nebel, als schöne Menschen schweben sieht und seufzen muß: ach in dieser Gestalt hätt' ich euch nie verkannt! – Daher strecket jede gute Seele ihre Arme nach den Menschen aus, die der Dichter in seinem Wolkenhimmel wie Genien unsern tiefen Augen zeigt, und die doch, wenn er sie auf unsere Brust heruntersenken lassen könnte, in wenig Tagen auf dem schmutzigen Boden unserer Bedürfnisse und Irrtümer ihre schöne Verklärung verlören; wie man das kristallene Gletscherwasser, das, ohne zu erkälten, erfrischet, schwebend, wenn es vom Eis-Demante tropft, auffangen muß, weil es sich mit Luft verunreinigt, sobald es die Erde berührt.Nach De Lüc, s. den 3. Bd. der Kleinen Reisen für Reise-Dilettanten.  –

Der Schulrat ging fort – aber bloß zum Doktor. Dieser vornehme Generalissimus des Freund Heins – der den Titel Obersanitätrat nicht umsonst führte, sondern für Geld – war ganz geneigt, den Kranken zu besuchen, erstlich, weil der Schulrat ein Mann von Ansehen und Vermögen war, und zweitens, weil Siebenkäs als ein Konviktorist der Leichenlotterie, deren korrespondierendes Mitglied und frère servant auch der Doktor war, nicht sterben durfte; denn diese Leichenkasse war nur eine Reichsoperationskasse voll Notpfennige für Honoratiores. Leibgeber erschrak tödlich vor dem in Schlachtordnung anrückenden Obergesundheitrate; er mußte besorgen, durch den Doktor könnt' es wirklich schlimmer werden, so daß Siebenkäs den Ruhm Molièrens nachließe, der auf dem Theater am Spiele des eingebildeten Kranken verstarb. Er fand zwischen Ärzten und Patienten das Verhältnis so unbestimmt, als es noch das zwischen Spechten und Borkenkäfern und Bäumen ist, indem noch darüber gestritten wird, ob die Bäume vom Bohren und Eierlegen dieser Tiere verfalben, oder ob umgekehrt diese Tiere geflogen kommen, weil die Borke schon wurmstichig und der Stamm schon abgestorben ist. Ich glaube, in Hinsicht der Käfer und Spechte – auch der Ärzte –, sie sind beides abwechselnd, Ursache und Wirkung, und das Dasein keines Tieres kann eine Zerstörung voraussetzen, weil sonst bei der Bildung der Erde auch ein krepierter Gaul für die Schmeißfliegen und ein großer Ziegenkäse für die Käsemilben hätte geschaffen werden müssen.

Der Obersanitätrat Oelhafen ging, mit zorniger Unhöflichkeit gegen die Gesunden, gerade auf den Kranken los und machte sich sogleich über den Sekundenzeiger des Lebens, über die medizinische Wünschelrute her, über den Puls: Leibgeber setzte den Pflug des satirischen Grimms in sein Gesicht und zog krumme Furchen und wählte Tiefackern. »Ich finde«, sagte der Heilkünstler, »eine wahre Nerven-Apoplexie von Überladung – man hätte den Arzt eher rufen sollen – der volle harte Pulsschlag verkündigt Wiederholung des Schlages – Ein Brechpulver, das ich hiegegen verordne, wird vom besten Erfolge sein. – Und hier zog er kleine Brech-billet-doux, wie Bonbons eingewickelt, heraus. Er hatte die Vomitive im Selbverlage und trieb diesen unschuldigen Land-Handel hausierend als Schnurrjude. Es gab wenige Krankheiten, wobei er nicht sein Brechmittel als Gnadenmittel, Wagenwinde, Pumpenstiefel und Fegefeuer ansetzen konnte; besonders arbeitete er fleißig mit diesem Brech- und Arbeitzeug bei Schlagflüssen, Brustentzündungen, Migränen und Gallenfiebern – er räume, sagt' er, zuvörderst in den ersten Wegen auf, und darüber räumte er den Inhaber der ersten Wege selber mit auf, der nachher leicht den letzten Weg alles Fleisches einschlug. Leibgeber knetete sein tolles Gesicht um und sagte: »Herr Kollege und Protomedikus Oelhafen, wir können ganz gut ein concilium oder consilium oder collegium medicum hier halten. Es will mir vorkommen, als sei mein Temperierpulver ratsam gewesen, da es apoplectico gestern wieder zur Sprache verholfen.« – Der Protomedikus hielt ihn für einen Heilpfuscher und sagte zum Pelzstiefel, ohne seinen Kollegen nur anzusehen: »Lassen Sie laues Wasser bringen, ich will ihm es eingeben.« – Leibgeber fuhr zornig auf: »Wollen wirs miteinander einnehmen, da unsere zwei Gallenblasen sich ergießen – der Patient darf nicht, soll nicht, kann nicht.« – »Sind Sie ausübender Arzt, mein Herr?« sagte der Obersanitätrat verachtend-stolz.

»Jubeldoktor«, sagt' er, »bin ich, und zwar seitdem ich kein Narr mehr bin. Es muß Ihnen aus Haller erinnerlich sein, daß einmal ein Narr behauptete, er sei geköpft, bis man ihn durch einen Hut aus Blei herstellte; ein Kopf, mit Blei überdachet und infuliert, fühlet sich so deutlich als einer, der damit ausgegossen ist. – Hr. Kollege, ich war fast derselbe Tor; ich hatte eine Gehirnentzündung und erfuhr zu spät, daß man sie schon geheilet und gelöschet habe. Kurz, ich bildete mir ein, mein Haupt habe sich abgeblättert, wie die mürben Füße gleich Krebsscheren abspringen, wenn man zu viel Mutterkorn genossen. Kam der Balbier und warf seinen purpurnen Arbeitbeutel und Köcher ab: so sagte ich: ›Mein lieber Hr. Obermeister Spörl, Fliegen, Schildkröten, Nattern lebten zwar, wie ich, noch fort, wenn der Kopf herunter war; aber zu rasieren war an ihnen wenig – Er ist ein vernünftiger Mann und sieht, daß ich so wenig geschoren werden kann als der Torso in Rom – wo gedächt' Er mich einzuseifen, Hr. Spörl?‹ – Kaum war er hinaus, so kam der Perückenmacher herein: ›Ein andermal, Hr. Peißer‹ sagt' ich, ›- wenn Sie nicht die Luft um mich oder die Brusthaare in Locken schlagen wollen: so stecken Sie nur Ihre Kämme wieder in die Westentasche. Ich lebe seit Nachmitternacht ohne Fries und Karnies und stehe wie der babylonische Turm ohne Kuppel da – Wollen Sie aber draußen in der Nebenstube meinen Kopf suchen und dem caput mortuum einen Zopf und ein Toupet machen: so nehm' ichs an und will den Kopf als eine Zopfperücke aufsetzen.‹ – Zum Glück kam der Rektor magnificus, ein Arzt, und sah meinen Gram, wie ich die Hände zusammenschlug und ausrief: ›Wo sind meine vier Gehirnkammern und mein corpus callosum und mein anus cerebri und mein eiförmiges Zentrum, wo nach Glaser die Einbildungkraft sitzt? Wie applizieret ein Rumpfparlament sich Brillen und Hörrohre? Die Ursachen sind ganz bekannt. Ist es so weit mit dem besten eingehäusigen Kopf in der Welt gekommen, daß er keinen hat, der sein Samengehäuse wäre?‹ – Der Rektor magnificus ließ aber einen alten, engen Doktorhut aus den Universitätschränken herholen und passete mir solchen mit einem leichten Schlage auf und sagte: ›Die Fakultät setzet ihren Doktorhut nirgends hin als auf Kopf – auf einem Nichts könnt' er gar nicht haften.‹ – Und durch den Hut wuchs meiner Phantasie, wie geköpften Schnecken, ein neuer Kopf nach. Seit ich nun kuriert bin, kurier' ich andere.«

Der Obersanitätrat drehte einen Basiliskenaugapfel von ihm weg und ließ sich aufgebracht an seinem Stockband wie einen Warenballen die Treppe hinab, ohne das aufgebrochne Vomitiv (ein Komitiv für die andere Welt) zu sich zu stecken, das nun dem Patienten aus seinem eignen Beutel zu bezahlen bleibt.

Der gute Heinrich hatte aber in einen neuen Krieg gegen Stiefeln und Lenetten zu ziehen; bis sich Firmian mit der Versicherung als Vermittler darein schlug, er hätte ohnehin das Brechpulver weggewiesen, da sich damit – ach, er meint' es bildlich – eine alte Brustkrankheit und einige gordische Lungenknoten, die Knoten seines Erdenschauspiels, schlecht vertrügen.

Inzwischen war doch nicht zu verhehlen – er mochte sich verstellen, wie er wollte –, daß es mit ihm schlechter und schlechter werde; jeden Augenblick stand der Rikoschettschuß des Schlages bevor. »Es ist Zeit«, sagte Firmian, »daß ich testiere: – ich sehne mich nach dem Landschreiber.« Dieser Schreiber setzt bekanntlich, nach dem kuhschnappelischen Dorf- und Stadtrechte, alle Letzte Willenverfügungen auf. – Endlich trat er herein, der Landschreiber Börstel, eine welke, eingedorrte Schnecke, mit einem runden, scheuen, horchenden Knopfplatten-Angesicht voll Hunger, Angst und Aufmerksamkeit. Das Fleisch, dachten viele, sei nur, wie die neue schwedische Steinpappe, über die Knochen aufgeschmiert. »Was solle (begann Börstel) Denenselben heute niederschreiben?« – »Mein zierliches Kodizill«, sagte Siebenkäs; »lassen Sie aber vorher eine und die andere verfängliche Frage, wie man vor Testatoren pfleget, an mich ergehen, um unter der Hand auszuholen, ob ich meinen Verstand noch habe.« – Dieser fragte: »Für wen nehmen Selbige mich?« – »Für den Hrn. Landschreiber Börstel«, antwortete Patient. – »Das ist (versetzte Börstel) nicht nur recht richtig, sondern es legt auch an den Tag, daß Sie wenig oder nicht phantasieren – und es mag denn ohne weiteres zum Letzten kodizillarischen Willen geschritten werden.«

Letzter Wille des Armenadvokaten Siebenkäs

»Endesunterschriebener, der mit andern Augustäpfeln jetzo gelbt und abfället, will, so nahe am Tode, der die körperliche Leibeigenschaft des Geistes aufhebt, noch einige frohe Rück- und Seitenpas und Großvatertänze machen, drei Minuten vor dem Basler Totentanz.«

Der Landschreiber hielt innen und fragte staunend: »Mehr und dergleichen bring' ich zu Papier?«


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