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Abreise – Reisefreuden – Ankunft
Firmian schied. Er reisete aus dem Gasthofe, der für ihn ein rheinisches Monrepos oder mittelmärkisches Sanssouci gewesen war, nicht gern dem Vertausche schöner Zimmer gegen kahle entgegen. Ihm, der keine Bequemlichkeiten, gleichsam die weichen Ausfütterungen dieses harten Lebens, noch gekannt und noch keinen andern Knecht als den Stiefelknecht, hatt' es ungewöhnlich wohl getan, daß er auf sein Zimmertheater so leicht mit der Klingel den ersten Schauspieler, den Kellner Johann, aus dem Kulissen-Stockwerke herauf läuten konnte, noch dazu mit Teller und Flasche in der Hand begabt, wovon der Schauspieler nicht einmal etwas bekam und genoß, sondern nur er und das Publikum. Noch unter dem Tore des Gasthofs zur Sonne warf er Herrn Feldmann, dem Besitzer, das mündliche Lob – das dieser sogleich als ein zweites Glanzschild von mir gedruckt erhalten soll, sobald es aus der Presse ist – mit den Worten zu: »Bei Ihnen fehlt einem Gaste nichts als der wichtigste Artikel, die Zeit. Ihre Sonne erreiche und behalte das Zeichen des Krebses.« Mehre Baireuther, die dabei standen und das Lob hörten, nahmen es für eine elende Satire.
Heinrich begleitete ihn etwan 30 Schritte über die reformierte Kirche bis zum Gottesacker hinaus und riß sich dann leichter als sonst – weil er ihn in wenig Wochen auf dem Sterbebette wiederzusehen hoffte – von seinem Herzen los. Er begleitete ihn darum nicht nach Fantaisie, damit sich sein Freund stiller in das Zauber-Echo verlieren könnte, das ihm heute der ganze Garten von den Geisterharmonien jenes seligen Abends zurückgeben würde.
Firmian trat allein in das Tal, wie in einen heiligen, schauerlichen Tempel. Jedes Gesträuch schien ihm von Licht verklärt, der Bach aus Arkadien hergeflossen und das ganze Tal ein versetztes, aufgedecktes Tempe-Tal zu sein. Und als er an die heilige Stätte kam, wo Natalie ihn gebeten hatte: »denk an heute«: so war ihm, als würfe die Sonne einen himmlischem Glanz, als käme das Bienengetöne von verwehten Geister-Stimmen, als müßt' er auf die Stelle niederfallen und sein Herz an das betauete Grün andrücken. Er ging auf diesem zitternden Resonanzboden den alten Weg zurück, den er mit Natalien gemacht, und eine Saite um die andere gab bald in einem Rosenspalier, bald aus einer Quelle, bald auf dem Balkon, bald in der Laube wieder den verklungnen Ton. Seine Brust schwoll trunken an bis zum Schmerz; seine Augen deckte ein feuchter, durchsichtiger, bleibender Schimmer, der zu einem großen Tropfen einlief; nur der Morgenglanz und das Blütenweiß drangen noch von der Erde durch das tränentrunkne Auge und durch den Blumenflor aus Träumen, in deren Lilienduft die Seele betäubt und schlummernd niedersank. – Es war, als ob er im Genusse seines Leibgebers bisher nur in halber Kraft die Liebe für Natalien empfunden hätte; so neumächtig und himmelluftig wehte ihn in dieser Einsamkeit die Liebe wie mit ätherischen Flammen an. Eine jugendliche Welt blühte in seinem Herzen.
Plötzlich rief in sie das Geläute von Baireuth hinein, das ihm seine Abschiedstunde schlug; und ihn überfiel jene Bangigkeit, mit welcher man nach dem Scheiden noch zu lange in der Nähe der geräumten Freudenstadt verweht. Er ging.
Welcher Duftglanz fiel auf alle Auen und Berge, seitdem er an Natalie dachte und an den unvergänglichen Kuß! Die grüne Welt hatte jetzo Sprache für ihn, die auf der Herreise ihm nur als Gemälde erschienen. Den ganzen Tag trug er in seinem dunkelsten Innern einen Lichtmagneten der Freude, und mitten unter Zerstreuungen und Gesprächen fand er, wenn er auf einmal in sich hineinblickte, daß er immer selig geblieben.
Wie oft kehrt' er sich nach den Baireuther Bergen um, hinter welchen er zum ersten Male Tage der Jugend gelebt! Natalie zog hinter ihm nach Morgen weiter, und Morgenlüfte, die um die ferne Einsame geflattert, wehten herüber, und er trank Ätherflut wie einen geliebten Atem.
Die Berge sanken ein – in das Himmelblau war sein Paradies untergetaucht – sein Westen und Nataliens Osten flohen mit doppelten Flügeln weiter auseinander. –
Eine geschmückte Ebene nach der andern trat fliehend hinter ihn zurück.
Wie vor Jugendjahren eilte er, wechselnd zwischen Sehen und Genießen, vor den mit Blumen überdeckten Gliedern des ausgedehnten Frühlings vorbei.
So kam er abends im Taldorfe an der Jaxt, wo er auf der Herreise über seine liebeleeren Tage weinend hingeblickt hatte, mit einem andern Herzen an, das voll war von Liebe und Glück; und das wieder weinte. Hier – wo er damals unter den auflösenden Zauberlichtern des Abends sich gefragt: welche weibliche Seele hat dich je geliebt, wie dein alter Traum der Brust so oft vorgespiegelt? und wo er sich eine traurige Antwort gegeben – hier konnt' er an den Baireuther Abend denken und zu sich sagen: ja, Natalie hätte mich geliebt. Nun stand wieder der alte Schmerz aber verklärt vom Tode auf. Er hatte ihr den Schwur der Unsichtbarkeit auf Erden getan – er zog jetzt seinem Sterben entgegen, um sie nie mehr zu sehen – sie war vorausgezogen und ihm gleichsam vorgestorben, und sie hatte bloß die Schmerzen, zweimal geliebt und verloren zu haben, in die langen dunkeln Jahrgänge ihres Lebens mitgenommen. »Und hier wein' ich und schaue in mein Leben!« sagt' er müde und schloß die Augen zu, ohne sie zu trocknen. –
Am Morgen ging in ihm eine andere Welt auf, nicht die bessere, sondern die ganz alte. Ordentlich als hätten die konzentrischen Zauberkreise von Natalie und Leibgeber nicht weiter gereicht und nicht mehr umschließen können als bloß noch das kleine Sehnsucht-Tal an der Jaxt: so trug jeder Schritt nach der Heimat die Dichtkunst seines bisherigen Lebens in poetische Prose über. Die kalte Zone seiner Tage, der Reichs-Marktflecken, lag ihm schon näher; die warme, auf der noch die abgeblühten Blätter der ephemerischen Freudenblumen nachflatterten, war weit hinter ihm.
Aber auf der andern Seite rückten die Bilder seines häuslichen Lebens immer lichter heran und wurden zu einer Bilderbibel, indes die Gemälde seines Wonnemonats in ein dunkles Bilderkabinett zurückwichen.
Ich mess' es in etwas dem Regenwetter bei.
Gegen das Ende der Woche ändert sich außer dem Beichtkinde und dem Kirchengänger auch das Wetter, und der Himmel und die Menschen wechseln da Hemden und Kleider. Es war Sonnabends und wolkig. Im feuchten Wetter geht es an unsern Gehirnwänden zu wie an Zimmerwänden, deren Papiertapeten es einsaugen und sich zu Wolken aufrollen, bis das trockne Wetter beide Tapezierungen wieder glättet. Unter einem blauen Himmel wünsch' ich mir Adlerschwingen, unter einem bewölkten bloß einen Flederwisch zum Schreiben; dort will man in die ganze Welt hinaus, hier in den Großvaterstuhl hinein; kurz acht Wolken, zumal wenn sie tropfen, machen häuslich und bürgerlich und hungrig, das Himmelblau aber durstig und weltbürgerlich.
Diese Wolken vergitterten ordentlich das Baireuther Eden; er sehnte sich bei jedem schnellern großen Tropfen, der in die Blätter schlug, an das eheliche Herz, das ihm gehörte und das er bald verlieren sollte, und in seine enge Stube. Endlich, als die Eisschollen von schroffen Wolken in einen grauen Schaum sich aufgelöset hatten, und als die untergehende Sonne wie eine Teichdocke aus diesem hängenden Weiher gezogen war und es mithin – tröpfelte, da erschien – Kuhschnappel. Mißlaute, uneinige Gefühle erzitterten in ihm. Der spießbürgerliche Marktflecken erschien ihm, im Abstich mit freiern Menschen, so zusammengeknüllet, so kanzleistilig mit Leber- und Magenreimen, so voll Troglodyten – daß er sein grünes Gitterbette am lichten, hellen Tage auf den Markt hätte wälzen und darin unter lauter vornehmen Fenstern schlafen können, ohne etwas nach dem Groß- und Kleinen-Rat darhinter zu fragen. Je näher er dem Theater seines Sterbens kam, desto schwerer kam ihm diese erste und vorletzte Rolle vor; an fremden Orten wagt, zu Hause zagt man. Auch fraß ihn der Hüttenrauch und Schwaden an, der allein uns alle so sehr drückt, daß selten einer den Kopf ganz emporhebt, über den Schwaden heraus. Im Menschen nistet nämlich ein verdammter Hang zu stillesitzender Gemächlichkeit, er lässet sich wie ein großer Hund lieber tausendmal stechen und necken, eh' er sich die Mühe nimmt, aufzuspringen, anstatt zu knurren. Ist er freilich nur einmal auf den Beinen, so legt er sich schwer – die erste heroische Tat kostet, wie (nach Rousseau) der erste gewonnene Taler, mehr als tausend neue hintendrein. Unsern Siebenkäs stach auf dem Polster der Häuslichkeit, zumal unter dem tropfenden Gewölke, die Aussicht auf die lange, beschwerliche, gefährliche Finanz- und chirurgische Operation eines theatralischen Sterbens.
Aber je näher er dem Rabenstein, diesem Mäuseturm seines vorigen engen Lebens, trat, desto schneller und greller löseten in seiner bangen Brust die Gefühle seiner vorigen herzzerdrückenden Stampfmühlen und die Gefühle seiner künftigen Erlösung einander ab. Er dachte immer, er müsse sich wieder sorgen und grämen wie sonst – weil er den offnen Himmel seiner Zukunft vergaß; so wie man sich nach einem schweren Traume noch immer ängstigt, ob er gleich vorüber ist.
Als er aber die Wohnung seiner so lange verstummten Lenette erblickte: verschwand alles aus seinem Auge und Herzen, und nichts blieb darin als die Liebe und ihre wärmste Träne. Seiner Brust, die bisher jeder Gedanke mit Funken der Liebe voll geladen hatte, war das Band der Ehe zu einer Ausladekette vonnöten!
»O, reiß' ich mich nicht ohnehin so bald von ihr auf immer ab und presse ihr irrige Tränen aus und geb' ihr die schwere Wunde der Trauer und eines Leichenbegängnisses! – Wir sehen uns dann nie mehr, nie mehr, du Arme!« dacht' er.
Er lief eiliger. Er drängte sich mit zurückgekrümmtem, nach den obern Fenstern blickendem Kopfe dicht an den Fensterladen seines Neben-Kommandeur Merbitzer vorbei. Dieser spaltete im Hause Sabbatholz, und Firmian winkte, ihn durch kein Schildwachengeschrei zu verraten; der alte Neben-Zar winkte sogleich mit ausgestreckten Fingern zurück, Lenette sei nämlich oben allein in der Stube. Die alten gewohnten Ripienstimmen des Hauses, das zankende Gellen der Buchbinderin, der Sing-Dämpfer des eifrigen Beters und Fluchers Fecht, fiel ihm unter dem Hinaufschleichen der Treppe wie süßes Futter entgegen. Der abnehmende Mond seiner fahrenden Zinn-Habe glänzte aus der Küche ihm herrlich und silbern entgegen, alles war gescheuert aus dem Bade der Wiedergeburt gestiegen, eine kupferne Fischpfanne – die so lange keinen Essig vergiftete, als man sie nicht flicken ließ – glühte ihn aus dem Küchenrauch des Einheizens, wie die Sonne aus dem Heerrauch, an. Er zog leise die Stubentüre auf: er sah niemand darin und hörte Lenetten in der Kammer betten. Er tat, mit einem Hammerwerk in der Brust, einen weiten leisen Schritt in die geputzte Stube, die schon ein Sonntaghemde aus weißem Sand angelegt, und woran die bettende Flußgöttin und Wassernymphe alle Wasserkünste versucht hatte zu einem ausgefeilten Kunstwerk. Ach, alles ruhte so friedlich, so einträchtig nebeneinander vom Gewühle der Woche aus. Über alles war das Regengestirn aufgegangen, nur sein Dintenfaß war eingetrocknet.
Seinen Schreibtisch behaupteten ein paar große Köpfe, welche als Haubenköpfe schon das sonntägliche Kopfzeug trugen, damit von ihnen als den Geschlecht-Vormündern (Curatores sexus) das Zeug morgen auf die verschiedenen Köpfe der Frauen vom Rate überwanderte.
Er trieb die offne Kammertüre weiter auf und sah nach so langer Entfernung seine geliebte Gattin, die mit dem Rücken gegen ihn stand. Jetzo war ihm, als vernahm' er auf der Treppe den Walkmühlen-Gang des Pelzstiefels, und um die erste Minute ohne ein fremdes Auge an ihrem Herzen zuzubringen, sagte er sanft zweimal: »Lenette!« Sie prallete herum, rief: »Ach Herr Gott, du?« – Er war schon auf ihr Herz gestürzt und ruhte an ihrem Kuß und sagte: »Guten Abend, guten Abend, was machst du denn? wie ging es dir?« Seine Lippen erdrückten die Worte, die er begehrte – plötzlich stemmte sie sich sträubend aus seinen Armen – und ihn ergriffen zwei andere hastig, und eine Baßstimme sagte: »Wir sind auch da – willkommen, Herr Armenadvokat, Gott sei Lob und Dank.« – Es war der Schulrat.
Wir fieberhaften, von eignen und von fremden Mängeln abgetriebnen und von ewigem Sehnen wieder zusammengeführten Menschen, in welchen eine Hoffnung von fremder Liebe nach der andern verdurstet, und in denen die Wünsche nur zu Erinnerungen werden! Unser mattes Herz ist doch wenigstens glänzend und recht und voll Liebe in der einen Stunde, wo wir wiederkommen und wiederfinden, und in der zweiten Stunde, wo wir trostlos scheiden, wie alle Gestirne milder, größer und schöner erscheinen, wenn sie aufsteigen und wenn sie untersinken, als wenn sie über uns ziehen. Wer aber immer liebt, und niemals zürnt, dem fallen diese zwei Dämmerungen, worin der Morgenstern der Ankunft und der Abendstern des Abschieds geht, zu trübe auf die Seele, er hält sie für zwei Nächte und erträgt sie schwer.