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Der Abend unterband mit einer weichen Binde den Morgen des Schmerzes – der Mohnsaft von 60 Tropfen Freude wurde jede Stunde eingenommen, und die Arzenei betäubte und berauschte sanft. Siebenkäs gab beim Abschiede dem alten guten Hausfreund einen herzlichen dankbaren Kuß für seinen aufheiternden Besuch, Lenette stand mit dem Leuchter in der Hand darneben. Der Mann, um sie zu entschädigen, daß er heute ihren kleinen Eigensinn im Mörser zu Grütze zerstoßen, sagte schnell und freundlich zu ihr: »Gib ihm noch einen dazu.« Die Röte schlug wie eine Flamme an ihren Wangen hinauf, und sie bog sich zurück, als hätte sie schon einem Munde auszuweichen. Es lag am Tage, sie wäre, hätte sie nicht das Amt einer Fackelträgerin versehen, davongelaufen in die Kammer. Der Rat stand in einer leuchtenden Freundlichkeit – wie etwan eine weiße Wintergegend im Sonnenschein – vor ihr und paßte darauf, daß – sie ihn küsse. Das fruchtlose Lauern verdroß ihn zuletzt und noch mehr das voreilige Zurückkrümmen; beleidigt, aber im alten freundlichen Glanze warf er die Frage auf: »Bin ich keines Kusses wert, Frau Advokatin?« Der Mann sagte: »Sie werden doch nicht erwarten, daß die Frau ihn gibt – sie steckte ja mit dem Leuchter Ihr Haar und alles in Brand.« Jetzo neigte sich der Pelzstiefel langsam und bedächtig und gebietend auf den umflammten Mund herab und setzte seinen heißen auf ihren, wie eine halbe Stange tropfendes Siegellack auf die andere halbe. Lenette gab ihm durch das Zurückbiegen des Hauptes mehr Fläche; jedoch muß man sagen, daß sie, indem sie den linken Arm mit dem Leuchter, der Feuergefahr wegen, weit in die Luft hinaushielt, den Rat mit dem rechten einer andern, nähern Feuergefahr wegen, höflich wegzustemmen vieles tat. Noch nach seinem Abgange schien sie ein wenig verlegen – ihr Gang hatte etwas Schwebendes, als wenn eine große Entzückung sie mit ihren Flügeln aufwehete – die Abendröte hielt auf ihren Wangen immerfort an, als der Mond schon hoch stand – und ihre Augen glänzten, ohne Aufmerksamkeit, ihr Lächeln kam eher als ihre Worte, und sie sagte wenige – an den Gewürzmörser wurde gar nicht gedacht – sie faßte alles leiser und sanfter an und sah einigemal vom Fenster in den Himmel – sie hatte gar keine Eßlust mehr zum halben Zweigroschenlaibe und trank kein Bier, sondern einige Gläser Wasser mehr – – Ein anderer, z. B. ich, hätte die Finger aufgehoben und geschworen, er seh' ein Mädchen schweben, das heute vom Geliebten den ersten Kuß erlitten.
Ich würde meinen Schwur nicht bereuet haben, wenn ich am Tage darauf in das schnelle Morgenrot gesehen hätte, das an Lenetten bei der Ankunft der Gelder für die Rezensionen und für den Rappee auffloh. Es war ein Wunder und eine Höflichkeit, daß der Pelzstiefel das Anleihen zur Tabak-Pechscharre nicht zurückzuzahlen vergessen hatte – kleine Schulden von 2, 3 Gr. kamen ihm immer aus dem zerstreueten Kopf. Aber Reiche, die immer weniger Geld mit sich schleppen als Arme und die es von diesen daher entlehnen, sollten solche Klitterschulden an eine Gedächtnissäule im Kopfe schreiben, weil es ungerecht ist, in den Beutel eines armen Teufels einzubrechen, der noch dazu keinen Habedank für seinen in den Lethefluß fallenden Groschen bekömmt...
– Ich gäbe zwei Bogen von diesem Manuskript darum, wenn das Schwenkschießen einmal käme, bloß weil das gute Ehepaar so sehr darauf und auf die Vogelstange bauet. Denn die Lage dieser Leute wird immer härter, die Tage ihres Schicksals gehen mit denen des Kalenders vom Oktober in den November, d. h. vom Nachsommer in den Vorwinter über, und moralische Fröste und Nächte nehmen mit den physischen zu. Ich will aber ordentlich fortfahren. –
Überhaupt ist schon der November, der die Briten novembrisieret, an sich der schlimmste Monat im ganzen Jahrgang, für mich ein wahrer Septembriseur; ich wollt', ich hätte den Winterschlaf bis zu Anfange des Christmonats. Der fünfundachtziger November hatte beim Antritte seiner Regierung einen fatalen pfeifenden Atem, eine kalte Hand wie der Tod und eine unangenehme Wolken-Tränenfistel; er war nicht auszustehen. Der Nordostwind, den man im Sommer so gern als einen Vorboten des beständigen Wetters hinter seinen Ohren herlaufen hört, bringt im Herbste bloß eine beständige Kälte mit. Unsern Eheleuten war die Wetterfahne eine Trauerfahne; sie zogen zwar nicht wie arme Tagelöhner mit Körben und Karren aus in den Wald nach abgefallenem Ast- und Leseholz, aber sie handelten doch den Wald-Fahrern dieses Brennholz, das erst durch ein zweites abgedampfet werden mußte, nach dem Gewichte wie indische Hölzer ab. Das naßkalte Wetter tat aber dem Beutel des Advokaten nicht halb so viel Eintrag als seinem – Stoizismus: er konnte nicht hinauslaufen und auf einen Berg steigen und sich umschauen und sich rund im Himmel das suchen, was den beklommenen Menschen tröstet, was die Nebel des Lebens niederschlägt, was uns hinter einer anglimmenden Nebelbank wenigstens führende Nebelsterne zeigt. Wenn er sonst auf den Rabenstein oder auf eine Höhe stieg: so hob sich die Aurora der Glücksonne unter dem Horizont glimmend herauf – die Qualen des Erdenlebens lagen und schossen wie andere Vipern nur in den Klüften und Tiefen, und keine Klapperschlange konnte sich mit ihren Zähnen aufbäumen bis an seinen Berg – ach da im Freien, da in der Nachbarschaft vor dem Meere des unübersehlichen Lebens und des hohen Himmels, da zieht der blaue Kohlendampf unserer erstickenden Lage tief unter uns, da fallen die Sorgen wie Blutigel vom blutenden Busen, da breitet der Erhobene die wundgedrückten losgeketteten Arme wie fliegend im reinen Äther aus und will mit ihnen alles umfassen, was über ihm ruht, und strecket sie, gleichsam wiederkommend, nach dem unendlichen unsichtbaren Vater hin und nach der sichtbaren Mutter, nach der Natur, und sagt: »Nimm nur diese Linderung nicht zurück, wenn ich drunten wieder in den Schmerzen und im Nebel bin.« – Und darum sind Gefangne und Kranke so unglücklich in ihren festen Ketten; sie bleiben in ihrer Tiefe angeschlossen, worüber sinkende Wolken gehen, und sehen nur von weitem auf die Berge hinauf, wo man, wie in Sommermitternächten auf denen der Polarländer, die unter den Horizont gefallene Sonne mit einem milden, gleichsam schlummernden Angesicht in der Tiefe glimmen sieht. – Aber in solchem schlechten einsperrenden Wetter war ihm statt des Trostes der Empfindung, der sich unter dem freien Himmel entwickelt, der Trost der Vernunft beschieden, der im Treibscherben der Stube fortkommt. Sein größter, den ich jedem anlobe, war dieser: die Menschen stehen unter einer doppelten Notwendigkeit, unter der täglichen, die sie ohne Murren dulden, und unter der jährlichen und seltenen, die sie nur zankend tragen. Die tägliche und ewig wiederkommende ist die, daß im Winter bei uns kein Getreide blühet – daß wir nicht einmal, wie so manches Vieh, Flügel tragen – oder daß wir vollends nicht uns auf die Ringgebirge des Mondes stellen können, um von da herab an den meilentiefen Abgründen die hinabsteigende köstliche Sonnenbeglänzung zu verfolgen. Die jährliche oder seltene Notwendigkeit ist, daß es in die Kornblüte regnet, daß wir in manchen Erden-Sumpfwiesen nicht gut und daß wir zuweilen, weil wir Hühneraugen oder keine Schuhe haben, gar nicht gehen können. Allein die jährliche Notwendigkeit ist ja so groß als die tägliche, und es ist gleich unsinnig, sie gegen Schlag-Lähmung als gegen Flügellosigkeit zu sperren; alles Vergangne – und dieses allein ist der Gegenstand der Qual – ist so notwendig und eisern, daß es in den Augen eines höhern Wesens derselbe Unsinn ist, ob ein Apotheker über seine abgebrannte Apotheke murrt oder ob er darüber stöhnt, daß er nicht im Mond botanisieren kann, wiewohl er in den dasigen Phiolen manches fände, was er in den seinigen vermisset.
– Ich will hier ein Extrablättchen über den Trost in unserem windigen naßkalten Leben aufsetzen. – Wer wieder über eine kurze Abschweifung äußerst verdrüßlich ist und kaum bei Trost, der suche eben seinen Trost im
Es kann, d. h. es muß noch eine Zeit kommen, wo es die Moral befiehlt, nicht bloß andere ungequält zu lassen, sondern auch sich; es muß eine Zeit kommen, wo der Mensch schon auf der Erde die meisten Tränen abwischt, und wär' es nur aus Stolz! – Die Natur reißet zwar mit solcher Eile Tränen aus den Augen und Seufzer aus der Brust, daß der Weise nie den Trauerflor vom Körper ganz abheben kann; aber seine Seele trage keinen! Denn ist es einmal Pflicht oder Verdienst, das kleinste Leiden heiter zu übernehmen: so muß auch das Verschmerzen des größten noch Verdienst sein, nur ein größeres, so wie derselbe Grund, der die Vergebung kleiner Beleidigungen gebietet, auch für das Verzeihen der größten gilt.
Das erste, was wir am Schmerze – wie am Zorn – zu bekämpfen oder zu verschmähen haben, ist seine giftige lähmende Süßigkeit, die wir so ungern mit der Arbeit des Tröstens und der Vernunft vertauschen und vertreiben.
Wir müssen nicht begehren, daß die Philosophie mit einem Federzuge die umgekehrte Verwandlung von Rubens nachtue, der mit einem Striche ein lachendes Kind in ein weinendes umzeichnete. Es ist genug, wenn sie die ganze Trauer der Seele in Halbtrauer verwandelt; es ist genug, wenn ich zu mir sagen kann: »Ich will gern den Schmerz tragen, den mir die Philosophie noch übriggelassen; ohne sie wär' er größer und der Mückenstich ein Wespenstich.«
Sogar der körperliche Schmerz schlägt seine Funken bloß aus dem elektrischen Kondensator der Phantasie auf uns. Die heftigsten Stiche erlitten wir ruhig, wenn sie eine Tertie lang währten; aber wir stehen ja eben nie eine Schmerzenstunde aus, sondern nur zusammengereihete Schmerzen-Tertien, deren sechzig Strahlen bloß die Phantasie in den heißen Stich- und Brennpunkt einer Sekunde fasset und auf unsere Nerven richtet. Das Peinlichste am körperlichen Schmerze ist das – Unkörperliche, nämlich unsere Ungeduld und unsere Täuschung, daß er immer währe.
Wir wissen alle gewiß, daß wir uns über manchen Verlust in zwanzig, zehn, zwei Jahren nicht mehr betrüben; warum sagen wir nicht zu uns: »So will ich denn lieber eine Meinung, die ich in zwanzig Jahren verlasse, lieber gleich heute wegwerfen; warum will ich erst zwanzigjährige Irrtümer abdanken, und nicht zwanzigstündige?«
Wenn ich aus einem Traum, der mir ein Otaheite auf den schwarzen Grund der Nacht hinmalte, wieder erwache und das blumige Land zerflossen erblicke: so seufz' ich kaum und denke, es war nur geträumt. Wie, und wenn ich diese blühende Insel wirklich im Wachen besessen hätte und wenn sie durch ein Erdbeben eingesunken wäre: warum sag' ich nicht da: die Insel war nur ein Traum? Warum bin ich untröstlicher bei dem Verlust eines längern Traums als bei dem Verlust eines kürzern (denn das ist der Unterschied), und warum findet der Mensch eine große Einbuße weniger notwendig und wahrscheinlich als eine kleine? –
Die Ursache ist: jede Empfindung und jeder Affekt ist wahnsinnig und fodert oder bauet seine eigne Welt; der Mensch kann sich ärgern: daß es schon oder erst 12 Uhr schlägt. – Welcher Unsinn! Der Affekt will nicht nur seine eigne Welt, sein eigenes Ich, auch seine eigne Zeit. – Ich bitte jeden, einmal innerlich seine Affekten ganz ausreden zu lassen und sie abzuhören und auszufragen, was sie denn eigentlich wollen: er wird über das Ungeheuere ihrer bisher nur halb gestammelten Wünsche erschrecken. Der Zorn wünschet dem Menschengeschlecht einen einzigen Hals, die Liebe ein einziges Herz, die Trauer zwei Tränendrüsen und der Stolz zwei gebogne Knie! –
Wenn ich in Widmanns Höfer Chronik die ängstlichen blutigen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges durchlas, gleichsam durchlebte; wenn ich das Hülferufen der Geängstigten wieder hörte, die in den Donaustrudeln ihrer Zeit arbeiteten, und das Zusammenschlagen der Hände und das wahnsinnige Herumirren auf den zertreueten mürben Brücken-Pfeilern wieder sah, gegen welche schäumende Wogen und reißende Eisfelder anschlugen – und wenn ich dann dachte: alle Wogen sind zerflossen, das Eis zerschmolzen, das Getümmel ist verstummt und die Menschen auch mit ihren Seufzern: so erfüllte mich ein eigner wehmütiger Trost für alle Zeiten, und ich fragte: »War und ist denn dieser flüchtige Jammer unter dem Gottesackertore des Lebens, den drei Schritte in der nächsten Höhle beschließen, der feigen Trauer wert?« – Wahrlich wenn es erst, wie ich glaube, unter einem ewigen Schmerze wahre Standhaftigkeit gibt, so ist ja die im fliehenden kaum eine.
Eine große, aber unverschuldete Landplage sollte uns nicht, wie die Theologen wollen, demütig machen, sondern stolz. Wenn das lange schwere Schwert des Kriegs auf die Menschheit niedersinkt und wenn tausend bleiche Herzen zerspalten bluten – oder wenn im blauen reinen Abend am Himmel die rauchende heiße Wolke einer auf den Scheiterhaufen geworfnen Stadt finster hängt, gleichsam die Aschenwolke von tausend eingeäscherten Herzen und Freuden: so erhebe sich stolz dein Geist und ihn ekle die Träne und das, wofür sie fällt, und er sage: »Du bist viel zu klein, gemeines Leben, für die Trostlosigkeit eines Unsterblichen, zerrissenes unförmliches Pausch- und Bogen-Leben – auf dieser aus tausendjähriger Asche geründeten Kugel, unter diesen Erdengewittern aus Nebel, in dieser Wehklage eines Traums ist es eine Schande, daß der Seufzer nur mit seiner Brust zerstiebt, und nicht eher, und die Zähre nur mit ihrem Auge.« –
Aber dann mildere sich dein erhabner Unmut und lege dir die Frage vor: wenn nun der verhüllte Unendliche, den glänzende Abgründe und keine Schranken umgeben und der erst die Schranken erschafft, die Unermeßlichkeit vor deinen Augen öffnete und dir sich zeigte, wie er austeilt die Sonnen – die hohen Geister – die kleinen Menschenherzen – und unsere Tage und einige Tränen darin: würdest du dich aufrichten aus deinem Staube gegen ihn und sagen: Allmächtiger, ändere dich! –
Aber ein Schmerz wird dir verziehen oder vergolten. es ist der um deine Gestorbnen. Denn dieser süße Schmerz um die Verlornen ist doch nur ein anderer Trost; – wenn wir uns nach ihnen sehnen, ist es nur eine wehmütigere Weise, sie fortzulieben – und wenn wir an ihr Scheiden denken, so vergießen wir ja so gut Tränen, als wenn wir uns ihr frohes Wiedersehen malen, und die Tränen sind wohl nicht verschieden...