Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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Aber darauf kniete Heinrich in einer feierlichen, leidenschaftlichen und humoristischen Begeisterung, die der Wein höher trieb und weiter gab, mitten auf einen langen schmalen Gang, der zwischen den hohen Bäumen des dicksten Lusthains ein unterirdischer schien, und dessen weite Perspektive sich in Osten mit der vertieften Kirchturm-Fahne wie mit einem Drehkreuz schloß; er kniete nieder gegen Westen und sah durch den langen grünen Hohlweg starr bloß nach der auf die Erde wie eine glänzende Sternschnuppe fallenden Abendsonne, deren breites Licht wie vergoldetes Frühling-Waldwasser oben den langen grünen Gang vom Himmel hereinschoß – er sah starr in sie und fing geblendet und umleuchtet an: »Ist jetzo ein guter Geist um mich – oder ein Genius von mir oder von diesem da – oder lebt deine Seele über deiner Asche noch, du alter, tief eingeschlossener, guter Vater – so komme näher, alter, dunkler Geist, und tue deinem närrischen Sohne, der noch im Körper-Flatterhemd herumhinkt, heute einen, den ersten und letzten, Gefallen, und zieh in Firmians Herz und halte darin, indem du es recht auf und nieder bewegst, diese Rede: ›Stirb, Firmian, für meinen Sohn, obwohl zum Schein und zum Spaße – lege deinen Namen ab und komm unter seinem, der ja sonst deiner war, nach Vaduz als Inspektor und gib dich für ihn aus. Mein armer Sohn will gern, wie das runde Joujou de Normandie, worauf er sitzt, das an Strahlenfäden um die Sonne fliegt, seines Orts auch noch ein wenig auf dem Joujou herumflattern. Vor euch andern Papageien hangt doch der Ring der Ewigkeit, und ihr springt darauf und könnt euch darin wiegen. Er aber sieht keinen Ring – laß dem armen Stittich die Freude, auf der Käficht-Stange der Erde herumzuhüpfen, bis die Weife, wenn sie seinen Lebenfaden sechzigmal herumgewunden hat zu einem Gebinde, klingelt und schnappt und der Faden abgerissen wird und sein Spaß aus ist.‹ – O guter Geist meines Vaters, hebe heute das Herz meines Freundes und lenke seine Zunge, damit sie nicht nein sagt, wenn ich ihn frage: willst du?« Er griff im Abend-Glanze blind nach Firmians Hand herum und sagte: »Wo ist deine Hand, Lieber? Und sage nicht nein.« Aber Firmian kniete hingerissen – denn in der Begeisterung des langverhaltenen Ernstes erfaßte Leibgeber das Herz unwiderstehlich – und ohne Sprache und voll Tränen wie ein Abendschatten kniete er vor das Herz seines Freundes hin und fiel an seine Brust und drückte sie eng und hart an sich und sagt' es ihm, aus Unvermögen, nur leise: »Ich will für dich ja auf tausend Arten sterben, wie du willst, nenn sie nur – aber nenn es recht, was du wünschest – ich schwöre dir alles im voraus zu, bei der Seele deines toten Vaters, ich gebe dir gern mein Leben – und mehr hab' ich ohnehin nicht.« –

Heinrich sagte mit einer ungewöhnlich-gedämpften Stimme: »Wir wollen nur erst hinauf unter den Lärm und unter die Baireuther – Ich muß heute eine Brustwassersucht haben; oder einen ganzen heißen Gesundbrunnen, und meine Weste ist die Fassung um den Brunnen – in einem solchen Dampfbad sollte ein Herz einen ordentlichen Schwimmgürtel oder Skaphander umhaben.«

Oben unter den gedeckten Tischen, unter den Bäumen, neben den Kirmesgästen der Frühling-Kirchweihe, unter Frohen war der Sieg über die Rührung nicht so schwer. Heinrich rollete oben den langen Bauriß seiner Luftschlösser und die Baubegnadigungen seines babylonischen Turmes eilig auf. Er hatte dem Grafen von Vaduz, dessen Ohren und dessen Herz sich nach ihm auftaten und hungernd öffneten, sein heiliges Ehrenwort zurückgelassen, wiederzukommen als sein Inspektor. Aber seine Absicht war, sich durch seinen teuern Koadjutor und Substituten cum spe succedendi, Firmian, repräsentieren zu lassen, der in Laune und Körper eine solche Tautologie von ihm war, daß der Graf und der Grundsatz des Nichtzuunterscheidenden beide vergeblich untersucht und gemessen hätten, um einen davon auszuklauben. 1200 Tlr. warf die Inspektion jährlich in schlechten Jahren Einkünfte ab, also geradesoviel, als Siebenkäsens ganze mit dem Prozesse plombierte Erbschaftmasse betrug: Siebenkäs sollte, wenn er seinen abgelegten Namen »Leibgeber« wieder ergriff, eben das gewinnen, was er verlor, da er ihn veräußerte. – »Denn ertragen«, fuhr Heinrich fort, »verwinden, verbeißen kann ichs nun, seitdem ich deine teuflische Auswahl gesehen, auf keine erdenkliche Weise mehr, daß du im vermaledeiten abgegriffnen Kuhschnappel noch länger brach fortsäßest als Einhorn und Eintier und Einsiedler und Ungekannter! Aber könntest du dir wohl so lange Bedenkzeit dazu nehmen, als der Regierungkanzelist dorten braucht, seine Pfeife auszuschütteln, sobald ich dir sage, daß ich in der Welt kein Amt versehen kann (du aber herrlich jedes) als das eines Graciosos, und kein Rat in einem Kollegium werden als bloß ein kurzweiliger, weil ich mehr Kenntnisse besitze als einer, die ich aber nicht zum Praktizieren, sondern nur zum Satirisieren brauchen kann, weil meine Sprache eine farbige lingua franca, mein Kopf ein Proteus und ich eine schöne Kompilation vom Teufel und seiner Großmutter bin? – Und könnt' ich, so möcht' ich nicht. – Wie? in meiner blühenden Jugend soll ich als ein Amtierer, als ein Staats-Gefangner im Burgverließ und Notstall der Amtstube wiehern und stampfen, ohne eine schönere Aussicht als die auf den in meinem Stand und Pferde- Stand hängenden Sattel und Zeug, indes draußen die herrlichsten Parnasse und Tempetäler vergeblich für das Musenpferd offen ständen? Jetzt in den Jahren, wo meine Lebens-Milch einige Sahne aufwerfen will, soll ich, da ohnehin die Jahre bald kommen, wo man sauer wird und in Molkenwasser und Quark zerfährt, da soll ich mir das Kälber-Lab einer Bestallung in meine Morgenmilch werfen lassen? – Du aber mußt anders pfeifen: denn du bist schon ein halber Amtmann und ein ganzer Ehe-Mann dazu. – Ach, es wird alle Bremische Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, alle komische Romane und komische Opern übertreffen, wenn ich mit dir nach Kuhschnappel fahre und du da auslöschest und vorher testierest und nachher, wenn wir dir die letzte Ehre erwiesen haben, dich ein wenig hurtig aufmachst und der noch größern entgegenläufst, nicht sowohl um selig zu werden, als ein Inspektor; damit du nach deinem Tode nicht sowohl vor einem strengen Richterstuhl erscheinst, als dich selber auf einen setzest! – Spaß über Spaß! Ich übersehe die Folgen gar noch nicht oder schlecht – die Leichenkasse muß deiner betrübten Witwe zahlen (du kannsts der Kasse wieder gut tun, wenn du zu Gelde kommst) – deine Ringfinger mit dem verschwollenen Trauring und voll Fingerwürmer schneidet der Tod ab – deine Witwe kann heiraten, wen sie will, sogar dich, du auch –«

Auf einmal schlug Leibgeber vierzigmal auf seine Schenkel und rief: »Ei, ei, ei, ei, ei, etc.! – Ich kanns kaum abwarten, daß du erblassest ... Höre, dein Tod kann zwei Witwen geben ... Ich berede Natalien, daß sie sich bei der Königl. preußischen allgemeinen Witwenverpfleganstalt auf deinen Tod eine Pension von 200 Tlr. jährlich versichern lässet»Der Vater darf für seine ledige Tochter, der Bruder für die Schwester etc., jede ledige oder verheiratete Mannsperson für die ledige Weibsperson eine Pension versichern lassen, ja sie kann sich selber eine Mannsperson wählen, auf deren Tod die Versicherung gestellet wird. – Beide werden als Eheleute angesehen, und sie behält wie eine wahre Witwe bei der Heirat die Hälfte.« Reglement für die Kgl. preuß. allgemeine Witwenverpflegungsanstalt vom 28. Dez. 1775. § 29. . Du kannst es der Kgl. preuß. allgemeinen Witwenverpfleganstalt wieder heimzahlen, sobald du das Nötige erringst. Du mußt deiner künftigen Witwe, wenn sie dem Venner einen Korb gibt, heimlich ein Brot- und Fruchtkörbchen aufhängen. Könntest du nicht zahlen und stürbest wirklich dir selber nach: so wär' ich da, und keine Kasse verlöre, wenn ich wieder bei meiner wäre.« Leibgeber lebte nämlich in einem geheimnisvollen, von ihm selber nicht erklärten Wechselfieber von Arm- und Reichwerden, oder wie ers nannte, von Aus- und Einatmen der Lebenluft (aura vitalis) des Geldes. Jeder andere – als dieser spiel-keck mit dem Leben umspringende Mensch, dessen Flammenfeuer für Recht und Wahrhaftigkeit und Uneigennützigkeit dem Advokaten schon seit Jahren wie von Pharus-Höhen herab geleuchtet – hätte unsern Siebenkäs besonders als Juristen stutzig machen, ja erzürnen, anstatt überwältigen müssen; – aber Leibgeber durchtränkte, ja durchbrannte ihn mit seinem ätherischen Spielgeiste und riß ihn unaufhaltsam hin zu einem mimischen Täuschen ohne eigennützige Lug- und Trug-Zwecke.

Doch so viel Gewalt behielt Firmian über sich in seinem Geisterrausche, daß er, wenigstens auf die Gefahr, seinen Freund selber bloßzustellen, Rücksicht nahm. »Wenn man aber – sagte er – meinen wahren Heinrich Leibgeber, dessen Namen ich mir anraube, irgend einmal antrifft neben mir Falschnamenmünzer: was wird?«

»Man trifft mich eben nicht an«, sagte Heinrich, »denn sieh, sobald du deinen alten kanonischen, echten Namen Leibgeber wieder nimmst und meinen über einem bestürmten Taufbecken geschaffnen, Firmian Stanislaus, wieder fahren lässest, welches Gott gebe: so schnell' ich mich mit ganz unerhörten Namen (es kann sein, daß ich, um 365 Namentage zu begehen, von jedem Tage die Kalendernamen borge), schnelle mich, sag' ich, ins Welt-Meer aus dem festen Lande, treibe mich mit meinen Rücken-, Bauch- und andern Floßfedern durch die Fluten und Sümpfe des Lebens und bis ans dicke Toten-Meer – und dann seh' ich dich wohl spät wieder«... Er schauete starr in die hinter Baireuth herrlich sinkende Sonne – seine festgehefteten Augen glänzten feuchter, und er fuhr langsamer fort: »Firmian, heute steht Stanislaus im Kalender – es ist dein, es ist mein Namentag und zugleich der Sterbetag dieses wandernden Namens, weil du ihn nach deinem Scheintode ablassen mußt – Ich armer Teufel will doch einmal nach langen Jahren ernsthaft sein heute. Gehe du allein durch das Dorf Johannis nach Hause; ich will auf der Allee heimgehen; im Gasthofe treffen wir uns wieder – Beim Himmel! hier ist alles so schön und so rot, als wenn die Eremitage ein Stück von der Sonne wäre. – Bleibe freilich nicht lange!« – Aber ein scharfer Schmerz ging über Heinrichs Angesicht mit schwellenden Falten, und er kehrte das erhobne Bildwerk des Grams und die blinden Augen voll Glanz und Wasser ab und eilte schief mit einem wegschauenden Gesichte, das den Schein einer andern Aufmerksamkeit annahm, vor den Zuschauern vorbei und verschwand in den Laubengängen.

Firmian stand allein mit nassen Augen vor der sanften Sonne, die sich über der grünen Welt in Farben auflöste. Die tiefe Goldgrube einer Abendwolke tropfte unter dem nahen Sonnenfeuer aus dem Äther auf die nächsten Hügel, und das umherrinnende Abendgold hing durchsichtig an den gelbgrünen Knospen und an den weißroten Gipfeln, und ein unermeßlicher Rauch wie von einem Altare trug spielend einen unbekannten Zauber-Widerschein und flüssige, durchsichtige, entfernte Farben um die Berge, und die Berge und die glückliche Erde schien die herunterfallende Sonne widerscheinend aufzufassen... Aber als die Sonne hinter die Erde sank – – so flog in die leuchtende Welt, die hinter den zwei wasservollen Augen Firmians wie eine ausgedehnte, flackernde, feurige Lufterscheinung zitterte, plötzlich der Engel eines höhern Lichts, und er trat blitzend wie ein Tag mitten in den nächtlichen Fackeltanz der hüpfenden Lebendigen, und sie erblichen und standen alle. – – Als er seine Augen abtrocknete, war die Sonne hinunter und die Erde stiller und bleicher, und die Nacht zog tauend und winterlich aus den Wäldern.

Aber das zerflossene Menschenherz schmachtete nun nach seinen Verwandten und nach allen Menschen, die es liebte und kannte, und es schlug unersättlich in diesem einsamen Kerker des Lebens und wollte alle Menschen lieben. O an einem solchen Abend ist die Seele zu unglücklich, die viel entbehret oder viel verloren hat! –

Firmian ging mit süßer Betäubung durch die hängenden Gärten des Blütengeruchs, durch die amerikanischen Blumen, die sich vor unserem Nachthimmel auftun, durch den Schlafsaal zugeschlossener Fluren und unter tropfenden Blüten, und der halbe Mond stand auf der Zinne des himmlischen Tempels im Mittagglanz, den die Sonne aus der Tiefe zu ihm hinaufwarf über die Erde und ihre Abendröte hinüber. – Als Firmian durch das überlaubte Dorf Johannis kam, dessen Häuser in einen Baumgarten verstreuet waren: so wiegten die Abendglocken aus den fernen Dörfern mit Wiegenliedern den schlummernden Frühling ein, und angewehte Äolsharfen schienen aus dem Abendrot zu spielen, und ihre Melodien flossen leise in den weiten Schlaf und wurden darin Träume. Sein überschüttetes Herz drängte sich nach Liebe, und er mußte vor Sehnsucht einem schönen Kinde in Johannis, das mit einem Wasserreiser tändelte, seine Blumen eilend in die zwei weißen Hände drücken, um nur Menschenhände zu berühren.

Guter Firmian! geh zu deinem gerührten Freunde mit deiner gerührten Seele, sein innerer Mensch streckt auch die Arme nach einem Ebenbilde aus, und ihr seid heute nirgends glücklich als aneinander! – Und als Firmian ins gemeinschaftliche, nur von der roten Dämmerung helle Zimmer trat: so wandte sich sein Heinrich um, und sie fielen einander stumm in die Arme und vergossen mit gebückten Häuptern alle Tränen, die in ihnen brannten; aber die der Freude auch, und sie endigten die Umarmung, aber das Verstummen nicht. Heinrich warf sich in Kleidern in sein Bette und hüllte sich ein. Firmian sank in das zweite daneben und weinte beglückt aus verschlossenen Augen. Nach einigen trunknen, von Phantasien, Träumen und Schmerzen erhitzten Stunden fuhr ein leichter Schein über seine heißen Augenlider – er schlug sie auf – der Mond hing weißglühend neben dem Fenster – und er richtete sich auf ... Aber da er seinen Freund still und blaß, wie einen Schatten des Monds an der Wand, am Fenster lehnen sah, und da jetzo aus einem nahen Garten Rusts Melodie des Liedes: »Nicht für diese Unterwelt schlingt sich der Freundschaft Band etc.« wie eine schlagende Nachtigall aufflog: so sank er unter dem Drucke einer schweren Erinnerung und einer zu großen Rührung zurück, und die trüben Augen verschloß ein Krampf, und er sagte nur dumpf: »Heinrich, glaub an die Unsterblichkeit! Wie wollen wir uns denn lieben, wenn wir verwesen!« –

»Still, still!« sagte Heinrich; »heute feier' ich meinen Namentag, und der ist genug; einen Geburttag hat ja der Mensch nicht und mithin einen Sterbetag desfalls nicht.«


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