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Die deutschen Menschen

»Das Unglück ist geschehen, das Herz des Volkes ist in den Koth getreten und keiner edlen Begierde mehr fähig.« Diesen Satz aus Hallers Staatsroman Usong stellte der junge Goethe im Jahre 1773 seiner dramatisierten Geschichte Gottfrieds von Berlichingen als Motto voran. Den gezähmten Untertanen, die seine Zeitgenossen waren, stellte er in der Gestalt des Ritters mit der eisernen Hand einen Deutschen gegenüber, der ganz anders geartet war: furchtlos, hilfsbereit, der eigenen Kraft und dem eigenen gesunden Urteil vertrauend, dessen Fehler glänzend aus dem sich überstürzenden Überfluß seines leidenschaftlichen Herzens hervorstrahlten. Wie zu dem wilden Roß der Steppe die geduldig zwischen Stall und Schlachtbank trottende Hammelherde, so verhält sich der freie Mann aus dem Fehdezeitalter zu den verkümmerten, verschüchterten Sklaven der Despoten. Sie erwarten die Regel ihres Handelns von der Regierung, nicht von ihrem Gewissen. Unterwürfig, liebedienerisch, bis zur Niederträchtigkeit gefügig nach oben, anmaßend und brutal gegen Wehrlose, so erschien der deutsche Mensch dem Unverdorbenen. Damals bildete sich in ihm das Bedientenhafte aus, das ihm von anderen Nationen vorgeworfen wurde. »Wie soll ich nun aber die Leute benennen«, schrieb Karl Friedrich von Moser, »welche in ihren vier Wänden ein Löwenherz haben und in freier Luft mit hasengleichem Mut entfliehen. Seynd das edle Seelen, die sich heimlich das Herz über der Not ihrer Mitbrüder abgrämen, aber in dem Augenblick, wo es auf freimütiges Bekenntnis des Rechts und der Wahrheit ankommt, zaghaft verstummen? Seynd das edle Verehrer der Gesetze, welche gegen besseres Wissen und Gewissen schweigen, wo sie reden dürften und sollten, damit ihnen, ihren Kindern und Verwandten nichts zum Schaden geredet würde? Man erkennt diese patriotischen Menschen an zwei Redensarten: Was soll ich mir ohne Not Feinde machen? Was wird's am Ende auch helfen, wenn ich alles geredet und gesagt habe?« Damit wollte Moser nicht einige Ausnahmen, sondern den Durchschnitt der Deutschen charakterisieren. »Der Bürger«, sagte Schubart in bezug auf seine Geislinger Landsleute, »ist dumm, hochmütig, arm, ein Sklav, trägt silberne Schnallen und frißt Haberschleim.« Ähnlich urteilt der englische Gesandte am preußischen Hofe: er findet die Untertanen des Königs im allgemeinen arm, eitel, unwissend und ohne Grundsätze. »Ihre Unwissenheit«, schreibt er, »erstickt in ihnen jeden Begriff von Freiheit und Widerstand, und der Mangel an Grundsätzen macht sie zu bereitwilligen Werkzeugen bei der Ausführung aller Befehle, die sie erhalten, ohne zu überlegen, ob sie auf Gerechtigkeit gegründet sind oder nicht&nbsp;&hellip; Obschon sie die eiserne Rute fühlen, mit der sie beherrscht werden, klagen doch nur wenige, und keiner wagt zu murren.«

Einen großen Teil der Schuld an dem, was er den Verfall der deutschen Freiheit nennt, schreibt Moser den akademischen Lehrern zu. »Die vom Landesherrn besoldeten Lehrer des Staatsrechts sind nicht Lehrer der deutschen Freiheit.« Die Theologen vollends nennt er Gehilfen der Unterdrückung in Schrift und Predigt; die wenigen Zeugen der Wahrheit verketzern sie als Verführer und Aufwiegler. Furchtbarer fast als die scharfen Urteile Karl Friedrich von Mosers treffen die Worte des Magdeburger Rektors Resewitz, eines verständigen Anhängers der Aufklärung, der, die Zeit und die Menschen hinnehmend, wie sie eben waren, die neuen Erziehungsgrundsätze, die gegen Ende des Jahrhunderts aufkamen, als unpassend für Deutschland ablehnte: »Wehe unseren Deutschen, wenn sie à la Rousseau erzogen werden sollten! Dergleichen Kraftseelen, die nach ihm gebildet, würden in unserem lieben Vaterlande selten oder nie an ihrer rechten Stelle stehen. Wir Deutschen sind im ganzen genommen durch unseren Charakter, soweit wir noch einen haben, durch Regierungsform und politische Verfassung größtenteils in allen Ständen zur Treue, zu fleißiger und überlegter Ausrichtung der uns angewiesenen Geschäfte, zu Ordnung und Betriebsamkeit und zum anhaltenden Ausdauern bestimmt. Hat die öffentliche Erziehung nicht diesen Zweck, so wird sie nicht allein mißraten, sondern auch die Deutschen für Deutschland verderben.«

Der Vergleich mit anderen Nationen, von Deutschen selbst angestellt, fiel für die Deutschen beschämend aus. Neben dem aufrechten Engländer oder Eidgenossen erschien der Deutsche, der im 16. Jahrhundert so trotzig, so unbändig gewesen war, als sei ihm das Rückgrat gebrochen. »Ist Deutschland darum«, ruft Moser aus, »dreißig Jahre lang der Schauplatz aller möglichen Verwüstungen gewesen, um aus deutschen Untertanen das schlechteste Volk Europas zu machen?«

Noch am Ende des 18. Jahrhunderts war Deutschland ein armes, überwiegend agrarisches Land. In den achtziger Jahren bereiste ein Herr von Archenholtz, ehemals preußischer Offizier, Italien und England. London hatte damals 900 000 Einwohner, Wien 245 000, Berlin 140 000. Mit Abscheu spricht Archenholtz von dem Unglück, das England habe, eine so große Hauptstadt zu besitzen, ein ungeheures Ganze ohne Maß und Ziel. Englische Patrioten hätten von der Wut gesprochen, die Grafschaft Middlesex mit Ziegeln zu bedecken, und ein Lord habe eine Auflage auf die Ziegelsteine gesetzt, dem Übel aber dadurch nicht gesteuert. In so kolossalen Städten, sagt Archenholtz, breite der Luxus seine Verheerungen aus, der Mensch erschlaffe und werde oberflächlich, sie seien die Katakomben der Gesellschaft. Einer der ersten, die sich in Deutschland mit statistischen Untersuchungen über Wachstum und Abnahme der Bevölkerung beschäftigten, Johann Peter Süßmilch, setzte die großen Städte wegen der Sterblichkeit der Kinder Orten gleich, in denen eine stets bestehende, schleichende Pest grassiere. Kluge Regenten sollten seiner Meinung nach nicht auf übermäßige Vergrößerung einer Stadt, sondern darauf bedacht sein, die Überzahl in mehrere Städte zu verteilen.

Trotz seiner Verurteilung der Millionenstadt ist Archenholtz voll Bewunderung für ihre Reize. Es ist anregend, abends durch die erleuchteten Straßen zu spazieren. Staunend steht er vor dem, was man jetzt Schaufenster nennt, ungemein große, eingefaßte Glasscheiben, durch die man allerhand ausgestellte Waren betrachten kann. Da gibt es fertige Schuhe, bereits gebundene Bücher, Kasten, die zum Gebrauch für Reisende eingerichtet und ausgerüstet sind, kurz, das Raffinement, wie Archenholtz sich ausdrückt, geht über alle Gewerbe. Alles dient der Bequemlichkeit des Publikums, auch der sonderbare Gebrauch der Engländer, ihr Geld einem Bankier in Verwahrung zu geben. Wie anders war es in Deutschland! Die kleinen Städte waren Dörfern ähnlich, und auch in den wenigen großen gab es keine Straßen mit hell beleuchteten Läden, wo die neuesten Schöpfungen der Industrie die Käufer anlockten, viel weniger das, was man öffentliches Leben nennt. »Sage mir, was du willst«, schrieb Johann von Müller im Jahre 1773 einem Freunde, »die Kleinstädte vegetieren doch nur, und ihr Leben ist Mühe und Elend.« In Deutschland waren außer Wien, Hamburg, Leipzig, Frankfurt fast alle Städte ihrem Charakter nach Kleinstädte.

Als hauptsächlichen Charakterzug der Engländer bezeichnet Archenholtz den public spirit. Er bemüht sich, dem deutschen Leser begreiflich zu machen, was das bedeute, da das Wort unübersetzbar sei. Nenne man es das eifrige Bestreben, das allgemeine Beste zu bewirken, so gebe das doch nur einen allgemeinen Begriff. Auch der niedrigste Pöbel in England habe public spirit. Er führt Beispiele an, die in den Sinn des Ausdrucks einführen sollen: ein Minister verzichtet auf die mit seinem Amt verbundenen Einkünfte; ein anderer legt im Parlament einen Gesetzentwurf vor, nach welchem die Besoldungen herabgesetzt werden, und beginnt damit, seine eigene zu vermindern; als im Jahre 1742 die Preußen Schlesien eroberten, sammelte eine Dame 100 000 Pfund Sterling und bot sie Maria Theresia an. Jeder ist davon durchdrungen, daß die öffentlichen Vorfälle auch ihn angehen. Der Romandichter Fielding bekleidete vier Jahre lang das unentgeltliche Amt eines Ober-Friedensrichters und hat das Londoner Polizeisystem ausgearbeitet. Der Sinn für Gerechtigkeit ist den Engländern aller Klassen eigen. Raub und Einbruch sind verhältnismäßig selten, die 2000 Nachtwächter, die nachts in London umhergehen und untersuchen, ob die Haustüren verschlossen sind, sind nicht bewaffnet außer mit Schnarren. Man nimmt keinen Anstand, die berühmte Betteloper, in der das Räuberhandwerk verherrlicht wird, in London alljährlich einige Dutzend Male aufzuführen. Es ist die Lieblingsoper des Publikums wegen ihres Witzes und der schönen Musik, die dazu gehört. Der Friedensrichter der Grafschaft Middlesex hat im Jahre 1772 den großen Schauspieler Garrick ersucht, sie nicht mehr zu spielen, aber er ist nicht darauf eingegangen. »Der menschliche Geist«, sagt Archenholtz, »zeigt sich dem Philosophen nirgends erhabener, als wenn er eine Million Menschen auf einen Haufen zusammengedrängt sieht, die nicht durch das despotische Zepter des Soldaten, sondern durch das unsichtbare Band der Gesetze zusammengehalten werden.«

Wie hätte sich in Deutschland, wo die Untertanen von allen Regierungsgeschäften ferngehalten wurden, public spirit entwickeln können! In der Stuttgarter Privilegierten Zeitung vom Jahre 1758 findet sich folgende Stelle: »Alle Particuliers seynd von dem Thron und Stuhl, worauf die göttliche Vorsehung die Regenten als Götter dieser Erde gesetzt hat, viel zu weit entfernt und viel zu viel Staub gegen ihnen, als daß sie sich jemals erfrechen sollten Derselben Thun und Lassen zu censiren. Jeder bleibe in dem schuldigen Respect dieser Ebenbilder Gottes auf Erden und diene mit Gehorsam, Vernunft und Treue, so wird er die Pflichten eines ehrlichen Weltbürgers erfüllen.« Die dem Deutschen eigene Frömmigkeit, die Neigung, den eigenen Willen einem höheren Willen unterzuordnen, band sie, sobald der Glaube an Gott erschüttert war, an die Fürsten als an die höchsten Herren. Für viele trat der Fürst an die Stelle Gottes, und ihr Gefühl für ihn bekam eine Färbung von Schwärmerei, sie schwelgten in Hingebung und Selbsterniedrigung. Waren sie aber auch nicht so ganz von der Gottähnlichkeit ihrer Fürsten durchdrungen, so waren sie doch überzeugt, daß sie von den öffentlichen Angelegenheiten nichts verstanden und daß es Sache des Fürsten und seiner Beamten sei, für das öffentliche Wohl im weitesten Umfang zu sorgen. Je mehr der Staat jede Lebensäußerung zu regeln sich anmaßte, desto mehr verengerte sich das Betätigungsfeld der Untertanen, und desto mehr verringerte sich auch ihr Interesse. Wie gefühlsschmächtig die Gebildeten noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren, geht daraus hervor, daß die Shakespeareschen Tragödien, die die Schrödersche Truppe in Hamburg aufführte, mit einem glücklichen Ausgang versehen werden mußten, damit das Publikum sie ertrug.

Von der Untertanenbelanglosigkeit war bis zu einem gewissen Grade der Adel ausgenommen. Mußte er auch, wenigstens in Preußen, blind gehorchen, so war er doch den übrigen Ständen gegenüber durch Rechte und Ansehen hoch emporgehoben. Ungefähr anderthalb Jahrhunderte lang war der Adel die herrschende Schicht in Deutschland. Verdiente er diesen Vorzug? Bediente er sich der Vorteile seiner Stellung zum Besten des Ganzen? Gingen aus seiner Mitte Persönlichkeiten hervor, die sich nicht nur durch die Geburt, sondern durch bedeutende Taten, durch den Adel des Geistes und der Seele auszeichneten?

Der deutsche Adel war nicht wie der englische ein Zwischenglied zwischen dem Fürsten und dem Volk, ihm war die Aufgabe zugewiesen, den Despotismus zu stützen. Um den Preis der Unterordnung unter das absolute Fürstentum durfte er an der Herrschaft über die anderen Stände teilnehmen. Die Ansprüche, die er an den Fürsten infolgedessen stellen konnte, nützte er ohne Scham aus, indem er keinen Eingriff in die bäuerlichen Verhältnisse duldete und indem er sich seinen Besitz sichern und vermehren ließ. »Der müßige Hof-Adel ist in allen Reichen und seit mehr als einem Jahrhundert der eigentliche Blut-Igel des Landes gewesen«, schrieb Karl Friedrich von Moser; »es ist des unverschämten Bettelns, Forderns und Nehmens kein Ende.« Friedrich der Große verzichtete, um den Adel in Blüte zu erhalten, auf das Aufkaufen adliger Güter durch den Staat, während das Bauernlegen durch den Adel bis in seine Zeit hinein gestattet worden war. Dafür diente der Adel dem Fürsten im Kriege. Gewohnt, als Gutsherren unbedingten Gehorsam von den Bauern zu fordern, waren die Adligen gut geeignet, Befehlshaber der Soldaten zu sein, die ja hauptsächlich aus dem Bauernstande hervorgingen. Auf diesem Gebiete entsprachen sie im allgemeinen den Erwartungen der Fürsten: sie waren schneidige Führer, sie kämpften und fielen tapfer. Waren die Deutschen im allgemeinen gute Soldaten, wie hätten es die Adligen nicht sein sollen? Der Adel stellte ferner die hohen Beamten und tat auch hier, was von ihm verlangt wurde. Eine Anzahl höherer Beamter, und zwar gerade ausgezeichnete, war allerdings bürgerlichen Ursprungs, in Preußen zum Beispiel die Danckelmann und die Cocceji. Die Art, wie die Könige von Preußen ihren hohen Beamten auf die Finger sahen, die peinlichste Aufsicht für nötig hielten, wie Friedrich der Große sie abkanzelte, wie er auch die Offiziere Schufte, Schlingel, Windbeutel nannte, spricht nicht für ihren Charakter. Als ausgezeichnete Erscheinungen unter den preußischen Beamten seien Ernst Wilhelm von Schlabrendorff und Karl Abraham von Zedlitz genannt, der letzte ein geborener Österreicher. Schlabrendorff wirkte, wenn auch vergeblich, für die Bauernbefreiung, Zedlitz für das Schulwesen, auch er mit weniger Erfolg als Einsicht und Wohlwollen.

Wenn irgendeine Gefahr drohte, sei es durch eine Seuche oder durch feindlichen Einfall, pflegten sich der Hof und der Hofadel samt ihren Kostbarkeiten in Sicherheit zu bringen. Ausnahmen fielen auf. Bei der großen Pest in Österreich im Jahre 1679 blieben zurück der Statthalter von Niederösterreich, Graf Konrad Starhemberg, der Landmarschall Graf Hoyos, der Vizepräsident der Hofkammer Graf Quirin Jörger, der Vizepräsident des Hofkriegsrats Graf Hofkirchen und der junge Graf Ferdinand Schwarzenberg. Der letztere wurde wegen seiner aufopfernden Hilfstätigkeit der Pestkönig genannt. Daß es opferbereite Geistliche und Ärzte gab, ist selbstverständlich.

Der österreichische Adel, der sehr reich war und freiere Bewegung genoß als der preußische, hat sich um die Kultur verdient gemacht durch die Pflege der Baukunst und Malerei und namentlich durch die Pflege der Musik. Wie der Name der Starhemberg mit dem militärischen Ruhme, sind die Namen der Esterhazy, Kinsky, Liechtenstein und vieler anderer mit der Kunstblüte Österreichs verbunden.

Unter dem Adel, der, abseits vom Hofe, seine Güter bewirtschaftete, gab es sicherlich viel Tüchtigkeit, Wohlwollen und echte Religiosität. Das Standesbewußtsein führte hier nicht nur zu leerer Überheblichkeit, sondern wohl auch zu dem Gefühl, daß der Adel verpflichte, und zwar zu menschlich würdiger Haltung ebenso wie zum Kriegsdienst.

Es läßt sich erwarten, daß der ländliche Charakter wohl mit mehr Roheit, aber auch mit mehr Sittenreinheit und mehr Frömmigkeit verbunden gewesen sei, als im Ausland herrschte. Sicherlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Grade der Zivilisation und dem Grade der Religiosität eines Volkes. In der Natur spüren wir den Hauch Gottes, der sich in ihr offenbart, in den Städten sind wir von Menschenwerk umgeben. Je mehr das Menschenwerk sich aufhäuft und die Natur und das Natürliche verdrängt, desto mehr entwöhnen wir uns der Fähigkeit, die Stimme Gottes zu vernehmen. In die Betrachtung seines Gartens versunken, sprach Luther einmal davon, daß der Mensch nicht imstande sei, eine einzige Rose zu machen. Eine selbstverständliche und doch bedeutungsvolle Bemerkung, in der sich das Gefühl für den wesentlichen Unterschied von Gotteswerk und Menschenwerk ausspricht. Auf dem Lande und in der Wildnis, den gestirnten Himmel zu Häupten, die fruchtbare braune Erde zu Füßen, atmen wir Schritt für Schritt göttliche Kraft ein. Die dem Wechsel der Jahreszeit angeschmiegte Beschäftigung des Landmanns, seine Abhängigkeit von den Elementen nährt in ihm das Gefühl, ein Geschöpf in allmächtiger Hand zu sein wie das Kraut auf dem Acker und der Stern, der seine vorgeschriebene Bahn durchläuft. Die uralten Anbetungsworte der Psalmen drängen sich auf die Lippen, als wären sie im Augenblick entstanden. Die unzugängliche Ferne Gottes wird mit seiner innigsten Nähe, die Unerforschlichkeit seines Willens mit seiner Barmherzigkeit zugleich empfunden. Vielleicht ließe sich das Verhältnis, in welchem die Abnahme der echten Frömmigkeit mit der Zunahme der städtischen Zivilisation, des von der Natur getrennten Lebens steht, genau errechnen, wenn sich geistige Vorgänge wie Frömmigkeit sicher feststellen ließen.

Der unglückliche Umstand, daß fast alle Bauern Deutschlands in irgendeinem Hörigkeitsverhältnis standen, hatte zur Folge, daß die bäuerliche Schicht nicht so fruchtbar für das Volk, dessen Grundlage sie doch bildeten, werden konnte, wie das sonst wohl der Fall gewesen wäre. Johann Justus Möser hat gesagt, der deutsche Hörige sei nur das Zerrbild eines Bauern. In manchen Gegenden des Reichs war seine Lage zu elend, als daß ein kräftiges Gefühlsleben sich in ihm hätte entfalten und als daß er ein wirksames Glied des Ganzen hätte werden können. Immerhin kann man die Deutschen des 18. Jahrhunderts, soweit man überhaupt über das innere Leben eines ganzen Volkes urteilen kann, als ein gläubiges Volk bezeichnen. Aus allen damals verfaßten Büchern und aus allen berichteten Vorgängen geht hervor, daß der Religion das hauptsächliche Interesse der Menschen aller Klassen galt. Wo sie nicht die Herzen erfüllte, beschäftigte sie doch die Gedanken, sie war da als eine lebendige Macht, mit der jeder, auch der Zweifler, sich auseinandersetzte. Die naive Gläubigkeit des Mittelalters war allerdings den gebildeten Protestanten nicht mehr gegeben. Das eintönige Poltern der orthodoxen Prediger schreckte mehr ab, als daß es den Glauben befestigte, und die Versuche des Pietismus, das religiöse Gefühl zu beleben, führten bald zu seichtem Geschwätz oder zu abgeschmackter Schwärmerei. Während das jeweilige Bekenntnis, staatlich geduldet oder vorgeschrieben, den Ehrenplatz einnahm, und während viele Menschen ängstlich und ehrlich das Wort Gottes in sich aufnahmen, erhob sich auf allen Seiten die Klage über den einreißenden Atheismus. Da die von Johann Valentin Andreae gefürchtete Cäsaropapie längst selbstverständlich geworden war und der Landesherr als der Herr der Kirche galt, war es natürlich, daß sein Glaube oder Unglaube den Untertanen als Muster diente. Friedrich der Große erklärte wohl gelegentlich, daß er an ein höchstes Wesen glaube; aber seine Spöttereien wirkten mehr. Preußen wurde als das gottloseste Land der Welt bezeichnet. Die Freiheit der Berliner, sagte Lessing, bestehe darin, über die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, wie man Lust habe. In Wien zügelte zwar die Kirchlichkeit und wahre Frömmigkeit Maria Theresias die Großen in ihren öffentlichen Äußerungen, aber rechter Ernst war es ihnen mit der Ausübung ihrer frommen Pflichten nicht. Friedrich der Große stellte mit Genugtuung fest, daß in Deutschland kaum noch jemand nach der Konfession frage, daß nicht einmal die Frauen sich mehr fanatisieren ließen, weder für Luther noch für Calvin. Mit der Klage über den Atheismus vereinte sich die über Entsittlichung, und auch diese betraf hauptsächlich das Preußen Friedrichs des Großen. Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Selbstlosigkeit, diese Tugenden der Väter, seien unbekannt geworden, sagte der Oberst von Möllendorf. Man muß aber bedenken, daß Atheismus und der Verfall der Sittlichkeit bitter beklagt und daß er hauptsächlich in den großen Städten wahrgenommen wurde. Gerade im Gegensatz zu der im allgemeinen herrschenden oder vorausgesetzten Frömmigkeit und Biederkeit fiel die Entartung auf.

Wenn man nun versucht, an der Hand von Lebensbeschreibungen Einblick in das Dasein von Privatpersonen zu gewinnen, von Bürgern, Bauern, Gebildeten, so stößt man auf viele Züge von Roheit, ja Grausamkeit, aber daneben begegnet man einer Anzahl von tüchtigen, sogar vorbildlichen Menschen, die zu groß ist, als daß man sie für Ausnahmen halten könnte. Wie treffend auch die absprechenden Urteile im allgemeinen sein mögen, ein unverwüstlich guter Kern muß sich im Volke, unscheinbar, abseits vom breiten Wege, erhalten haben. Es ist ergreifend zu lesen, wie der vermeintliche Diebstahl eines Guldens durch den kleinen, 1763 geborenen Johann Gottfried Seume die ganze Ortschaft in Bewegung setzt, wie der nicht harte, aber strenge und stolze Vater den geliebten Sohn fast totschlägt, dabei aber selbst am meisten leidet unter der Angst, sein Liebling könne ein Lügner und Dieb werden, wie der Schulmeister des Dorfes teilnehmend und besorgt den unschuldigen Jungen durch freundliches Zureden zum Geständnis zu bringen versucht, wie hernach der Vater die Kränkung durch kleine Liebesbeweise wiedergutmacht. Andreas Seume, der Vater, war heißblütig und hatte ein leicht verletzliches Ehrgefühl. Gelegentlich war er daran, dem Gerichtshalter von Posern, wo er ein Gütchen besaß, ein Tintenfaß an den Kopf zu werfen, und als dieser drohte, ihn in das Hundeloch zu bringen, verließ er die Heimat und pachtete ein Gut in der Nähe von Leipzig. Die neue Wirtschaft begann mit einem Hungerjahr, das kleine Vermögen wurde aufgezehrt, man hatte grade noch das Notwendige. Wieder ein Familienauftritt: der achtjährige Gottfried tauscht einem hungrigen Knaben sein Butterbrot gegen einen Hänfling und erbittet von der Mutter, die davon nichts weiß, ein neues. »Junge, wirst du denn ewig nicht satt«, sagt sie halb froh, halb traurig, indem sie ihm ein zweites Butterbrot schneidet, wird aber sehr böse, als sie den Zusammenhang erfährt. Der Vater, der dazukommt, entscheidet, der Sohn habe nicht unrecht daran getan, sein Butterbrot wegzugeben, wohl aber daran, daß er sich etwas dafür habe geben lassen und dann die Mutter um Ersatz gebeten habe. Künftig solle er Hungrige, die um Brot bäten, an die Eltern weisen. Der Umgangston im elterlichen Hause war fein, rohe oder gar ungesittete Ausdrücke wurden auch vom Gesinde nicht geduldet. Pfarrer und Schulmeister erscheinen als einsichtige, wohlwollende Menschen, die es mit der Aufgabe, die Kinder ihrer Gemeinde heranzubilden, sehr ernst nehmen. Da Andreas Seume, der jung stirbt, die Witwe in ärmlichen Verhältnissen zurückläßt, beeifert sich alles, ihr beizustehen. Nie habe es ihr am Notwendigen gefehlt, erzählt der Sohn. Der Rektor Korbinsky und vollends seine Frau, denen Johann Gottfried, nachdem er der Dorfschule entwachsen war, anvertraut wurde, ersetzten ihm Vater und Mutter. Im Dorfe hatte er unübertreffliche Bibelkunde erworben, Korbinsky lehrte ihn lateinisch, griechisch und etwas hebräisch, dazu Geschichte und Geographie. Dieser Schulmann nahm warmen Anteil an seinen Zöglingen, auch nachdem sie ihn verlassen hatten, besonders an ihrer menschlichen Entwicklung. Wurde ihm Ungünstiges über sie berichtet, nahm er sich das so zu Herzen, daß er nicht schlafen konnte. »Du lieber Gott, was soll aus dem Menschen werden«, rief er dann wohl aus, »das macht mich sehr unruhig.« Graf Hohenthal, der Besitzer der Güter, deren eines Seume gepachtet hatte, war auf die Empfehlung des Pfarrers hin sogleich bereit, den begabten Sohn ausbilden zu lassen, und tat es auf eine sorgfältig überdachte, liebevolle, nicht knauserige Art.

Das Schicksal führte den Studenten Johann Gottfried Seume auf hessisches Gebiet, wo er ergriffen und unter die Soldaten gesteckt wurde, die der gewissenlose Landgraf den Engländern verkaufte. Diese brachten sie nach Amerika, um die abgefallenen Kolonien zu bekämpfen. In dem ganz anderen Lebenskreise, wohin der Jüngling nun versetzt wurde, wieviel Herzensgüte und Menschlichkeit auch da wieder! Wie liebenswert die jungen adligen Offiziere, die den merkwürdigen kleinen Sachsen, der lateinische Klassiker liest, in ihre Gesellschaft ziehen und ihm treue Freunde werden. Unvergleichlich das Kriegsgericht, das über den Deserteur zu urteilen hat und damit beginnt, einen lateinischen Vers zu kritisieren, den der Gefangene an die Wand geschrieben hat, worauf dieser seinen Virgil aus der Tasche zieht und die Richtigkeit des umstrittenen Hexameters nachweist. Das Urteil fällt gelinde aus, und der seltsame Soldat wird Gegenstand allgemeiner Zuneigung. Als er zum zweiten Male die Flucht wagt, hoffen die Offiziere, sie möge gelingen, und sind tief betrübt, als er zurückgebracht wird. Dem Gesetz gemäß müßten sie ihn zum Spießrutenlaufen verurteilen, verwandeln aber eigenmächtig die grausame Strafe in einen gemütlichen Arrest. Köstlich die Bremer Bürger, die den Flüchtling verständnisvoll zum Tor hinausbugsieren, der wohlhabende Mann in Emden, der ihm 80 Taler fast aufdrängt, damit er Kaution für einen Urlaub in die Heimat stellen kann, von dem er wahrscheinlich nicht zurückkehrt, der Schiffer endlich, der den Verfolgten in seinen Kahn aufnimmt und, während die Kugeln ihm um den Kopf fliegen, seinen Schützling sicher auf oldenburgisches Gebiet rettet.

Nicht nur bei Begebenheiten, die auf den Soldatenzwang Bezug haben, sondern überall ist es, als ob Leute sich eines gemeinsamen Unglücks zu erwehren suchten, oder als ob die Insassen eines Gefängnisses sich ihr Dasein zu erleichtern suchen, indem einer auf den andern Rücksicht nimmt.

Der Vater Klopstocks, ein Jurist, bekleidete eine höhere Stellung als der Vater Seumes, aber die Lebensauffassung war ähnlich, wenn auch die Verhältnisse bequemer und freier waren. Er glaubte an Ahnungen, das Übermenschliche spielte in sein Leben, er litt an Anfechtungen, die er dem Teufel zuschrieb. Seine Hand zuckte leicht zur Waffe, wenn es galt, die Ehre Gottes und auch die eigene Ehre zu wahren. Spott über das Heilige wurde in seinem Hause nicht geduldet. Damit seine Kinder im Freien aufwüchsen, pachtete er ein Gut in der Grafschaft Mansfeld. Er ließ es zu, daß die Knaben mit den Hunden über die hohe Hofmauer sprangen, um in den Wäldern zu jagen, daß sie im Strome badeten, hatte wohl seine Freude daran. »Jungens, ersauft mir nicht!« war die einzige Warnung, die er zuweilen für angebracht hielt. Auf den Unterricht legte er weniger Wert als auf die Kräftigung des Körpers und die Bildung des Charakters im Lebenskampfe. Immerhin ließ er seinen Ältesten die gründliche Bildung von Schulpforta genießen. Im Vergnügen sollte Maß gehalten, bei Entbehrungen nicht geklagt werden. Das Leben sei ein Stand der Versuchung, sagte der Vater, der Mensch müsse mit dem Kreuzsalz geläutert werden. Wenn von der Mutter nicht viel mehr berichtet wird, als daß sie 17 Kinder zur Welt gebracht habe, so ist das begreiflich; wichtiger für den heranwachsenden Dichter war die Großmutter, die ihm wie ein Schutzgeist, eine Seherin erschien.

Überraschend schnell konnte sich, wenigstens außerhalb Preußens, der Aufstieg aus der untersten Schicht des Volkes vollziehen. Der Großvater des Dichters Johann Heinrich Voß, ein Mecklenburger, wurde aus der Hörigkeit entlassen und betrieb ein Handwerk, der Sohn, des Dichters Vater, gab das Handwerk auf, wurde Kammerdiener eines Domherrn, pachtete ein gräfliches Vorwerk und kaufte dann ein Haus mit dem Recht des Bierbrauens und Branntweinbrennens. Aufgeweckten Sinnes hatte er sich ein gewisses Maß von Bildung angeeignet, so daß die Prediger des kleinen Ortes, wo er lebte, der Rektor, der lateinische Bürgermeister, der den Terenz liebte, die adligen Offiziere und Gutsherren der Nachbarschaft gern mit ihm umgingen. Als er infolge des Siebenjährigen Krieges in Vermögensverlust geriet, fehlte es ihm nicht an hilfreichen Freunden.

Schubart sagte von seinem Vater, der ein armer Kantor war, er habe mit Empfindung und Geschmack gesungen, sein Haus sei ein beständiger Konzertsaal gewesen, darin Choräle, Motetten, Klaviersonaten und Volkslieder erklungen wären. Sein Gesicht habe Seelenfeuer ausgestrahlt, seine ganze Person den gesunden, kühnen deutschen Mann dargestellt. Sein Sohn, der Dichter, bewegte sich augenscheinlich mit Leichtigkeit in den Hofkreisen. Die Söhne Klopstocks wurden von einem jungen Theologen gemeinsam mit den Söhnen der benachbarten Edelleute unterrichtet.

Man hat den wohltuenden Eindruck einer über alle Stände verbreiteten Kultur, die sich auf dem Fundament des Christentums ausgebildet hatte. Es war nicht mehr die mittelalterliche Kultur eines reichgegliederten und geordneten Volkes, die sich dem Sternenhimmel ähnlich in vorgeschriebener Bahn bewegt, sie beruhte auf dem Gewissen des einzelnen, der sich in Übereinstimmung mit dem Willen der allumfassenden Gottheit setzen will und daher auch in Übereinstimmung mit den Menschen setzen kann. Die Erziehung war streng, oft hart; aber Eltern, Lehrer, Geistliche, Vorgesetzte aller Art waren sich ihrer Pflicht bewußt, ihre Pfleglinge zu gottesfürchtigen, tätigen, tapferen Menschen zu erziehen, und weitherzig genug, der Jugend ein gewisses Recht auf Freude und mutwillige Streiche zuzugestehen. Ironie und Satire, hat Maria Theresia einmal gesagt, seien nicht deutsch, die Welt sei so leichtfertig geworden, daß alles ins Lächerliche gezogen und zur Bagatelle gemacht werde. Dabei verlören die Deutschen ihre besten Eigenschaften, nämlich schwerfällig und rauh, aber gerade, fleißig und wahrhaft zu sein. Die große Königin hatte diese Beobachtung wohl von den höfischen Kreisen Wiens und ihrem Anhang abgezogen, wie sie ähnlich in Berlin gemacht wurden; im Volke herrschte noch überwiegend der gesammelte Ernst, der das Leben als eine Aufgabe nimmt, die von der göttlichen Weisheit zu unerforschlichen, aber guten Zwecken gestellt ist. In vielen Pfarrhäusern, Bürger- und Bauernhäusern gab es Männer und Frauen, von denen man sagen konnte, sie hatten, wenn sie sich zum Sterben ausstreckten, einen guten Kampf gekämpft.

Wohl gab es in Brandenburg und Preußen zur Zeit Friedrichs des Großen viele Dörfer ohne Schulen, und wo Dorfschulen waren, bestand die Vorschrift, daß den Kindern nur das Notwendigste an Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen sei; aber es gab auch deutsche Länder, wo der Volksunterricht besser und wo der Bauer weniger gedrückt war, wo Kinder, wenn sie nur einigermaßen aufgeweckt waren, sich praktische Lebenstüchtigkeit erwerben konnten. Trotz der Trennung der Stände, die in Preußen strenger Grundsatz war, lebte das deutsche Volk, arm und in der Zivilisation zurückgeblieben, wie es war, im allgemeinen in ähnlichen Verhältnissen. Durch Geld und zahlreiche Bedienung konnten sich die Hochgestellten Bequemlichkeiten verschaffen und sich Unbequemlichkeiten entziehen; aber der Durchschnitt lebte in schlecht geheizten, schlecht erleuchteten Stuben, war an Schmerzen gewöhnt und hatte Krankheit und Tod vor Augen.

Vielleicht ist es die Eigenart eines jeden Despotismus, jedenfalls war es die des deutschen Absolutismus im 18. Jahrhundert, daß seine Wurzeln nicht bis in die Tiefen des Volkes reichen. Die Maschine des Beamtenstaates erfaßte hauptsächlich die oberen Kreise, die untersten Stufen des Volkslebens berührte sie weniger. So kam es, daß im Vordergrunde ein mechanisiertes, unselbständiges Wesen sich abspielte, während es unten aus ewiger Fülle grünte und keimte. Aber auch im Beamtenstande hatten sich allmählich nicht nur Fleiß und Rechtschaffenheit ausgebreitet, sondern auch die Ideen der Aufklärung, die der Absolutismus selbst verkündete und die ihm entgegenwirkten.


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