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Auf das Aufflammen des Glaubens im Zeitalter der Reformation folgte die Zeit des Vernunftglaubens. Während Luther, obwohl unklarer und eigenwilliger Schwärmerei feind, an der Mystik festhielt, soweit sie in der christlichen Religion selbst gegeben ist und notwendig mit ihr zusammenhängt, und die Geheimnisse, welche Geheimnisse bleiben müssen, weil sie sich auf das Jenseits der menschlichen Grenzen beziehen, verehrte und unweigerlich verehrt wissen wollte, mit anbetenden Gedanken sich ihnen anschmiegte, waren die Denker des 17. und 18. Jahrhunderts überzeugt, mittels experimenteller Forschung und der Vernunft alles Dunkle klarmachen zu können oder dann es ablehnen zu dürfen. Da es einen Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Vernunft für sie nicht gab, unterwarfen sie alles ihrer eigenen Vernunft. Grade diejenigen Mysterien, die die Licht- und Kraftquelle des Christentums waren: die Fleischwerdung Gottes, die jungfräuliche Mutterschaft der Maria, das Gottmenschentum, die Auferstehung des Herrn, die Einsetzung des Abendmahls, die die mittelalterliche Menschheit mit ahnungsvollem Schauer erfüllt hatten, deren Tiefsinn Luthers Dichterblick aufleuchten ließ, erregten bei den vernunftgläubigen Leuten der späteren Zeit Anstoß. Die, welche es mit der Religion gut meinten, versuchten das Geheimnisvolle und Wunderbare dem Verstande faßlich zu machen, andere wollten vielmehr aus dem, was sie Ungereimtheiten nannten, die Ungereimtheit und Vernunftlosigkeit, also Unzulänglichkeit des ganzen Christentums beweisen. Anstoß erregte auch die Mangelhaftigkeit der Menschen, welche in der Bibel und namentlich im Alten Testament auftreten; denn da man Moral und Religion als dasselbe auffaßte, fand man es unsinnig, Menschen, die nicht durch und durch tugendhaft waren, als fromm zu verehren. Wie konnte man David, der eines abscheulichen Verbrechens schuldig war, als heiligen Mann hinstellen! Und schließlich Gott selbst, der Jehovah des Alten Bundes! Konnte man einen Gott bekennen, der Rache fühlte? Der sich durch menschliches Gebet von seinen Entschlüssen abbringen ließ? Es schien notwendig, aus der Bibel auszumerzen, was Vernunft und Moral beeinträchtigte. Das Buch aus der Tiefe mußte so lange gewalzt werden, bis es den auf der Fläche der Vernunft lebenden Menschen angeglichen war.
Bestrebungen dieser Art gingen zuerst von England aus, einem protestantischen Lande, wo die Bibel viel gelesen und als Glaubensquelle betrachtet wurde, wo es sehr früh eine wissenschaftlich gebildete, geistig sehr regsame Oberschicht gab, und wo die Möglichkeit freier Meinungsäußerung in Wort und Schrift bestand. In dem Bestreben, die Unterschiede der englischen Staatskirche und der protestantischen Sekten und der Sekten untereinander auszugleichen, nahm die deistische Richtung ihren Ursprung. Als höherer Standpunkt über den sich bekämpfenden Parteien wurde die Vernunft angenommen, vor ihrem Tribunal sollten die Streitenden sich zu rechtfertigen haben. Am Ende des 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts erschienen verschiedene Schriften, die diese Fragen erörterten, zum Beispiel: Das Christentum nicht geheimnisvoll, Das Christentum so alt wie die Welt, Die Untrüglichkeit des menschlichen Verstandes und andere mit ähnlichen Titeln. Die Kritik, die an die Bibel angelegt wurde, führte dazu, daß man von der geschichtlichen Grundlage ganz absah und von der Lehre nur übrigließ, was mit der Vernunft in Einklang zu bringen war. Manche billigten der Bibel den Vorzug der Popularität zu. »Das staunende und stierende Volk«, sagte Hume, »ergreift begierig alles, was dem Aberglauben schmeichelt.« Andere behaupteten, die Wundergeschichten seien spätere Zutaten, wieder andere erklärten sie schlechthin als Priestertrug; das Märchen der Auferstehung zum Beispiel sei dadurch zustande gekommen, daß die Jünger den Leichnam Christi versteckt hätten. Als Kern des Christentums wurde eine Anzahl Wahrheiten festgestellt, etwa: das Dasein eines höchsten Wesens, die Unsterblichkeit der Seele, die Vergeltung in diesem und jenem Leben. Die so entpersönlichte, denaturierte, ausgeweidete, schlotternde Religion, der Deismus, war kein Grund, wo der Schiffer Anker werfen, kein Fels, an dem der Scheiternde sich festklammern konnte. Ein englischer Geistlicher, der einen deistischen Gottesdienst einführen wollte, wo Gott mit Hintansetzung aller Mysterien angebetet werden und alles auf die Erfüllung unserer Pflichten und die lauterste Moral abgestellt werden sollte, fand keinen Anklang. Für den gemeinen Haufen sei dieser Gottesdienst zu eintönig, meinte er, für den Deisten entbehrlich.
Die Schriften der Deisten wirkten auch auf das Ausland. Nach Deutschland kamen sie erst gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts. In den katholischen Ländern war die Macht der Kirche zu groß, in den protestantischen die Orthodoxie noch zu sehr von den Regierungen gestützt, als daß Freidenker oder sogar Atheisten sich öffentlich als solche hätten äußern können. Sie wurden verketzert und verfolgt und mußten froh sein, wenn sie bei irgendeinem vorurteilsfreien oder neugierigen hohen Herrn ein Asyl fanden. In dem orthodoxen Hamburg führte Hermann Samuel Reimarus, Sohn und Enkel protestantischer Geistlicher, ein seltsames Doppelleben, indem er nach außen den Rechtgläubigen darstellte und insgeheim, gleichsam um sich zu entgiften, eine bittere Kritik der Bibel niederschrieb, die erst nach seinem Tode bekannt wurde.
Dieser deutsche Deist war außerordentlich dürr und kümmerlich. Vermöge seiner Vernunft wußte er genau, wie ein vernünftiger Gott im Gegensatz zu dem der Bibel hätte sein und was er hätte tun müssen. Vor allen Dingen hätte er, wenn er schon die Menschheit hätte belehren wollen, anstatt der Bibel einen Katechismus verfaßt, in welchem er die Tugenden ausführlich angezeigt und beschrieben hätte, die mit unserer Glückseligkeit verknüpft sind, und auf welche Weise sie in der Gesellschaft zur Ausübung kommen. »Ich bin Jehova«, sagt der biblische Gott. Was aber kann ein leerer Name ohne Begriffsbestimmung helfen? Nicht durch göttliche Autorität oder durch eine urteilsfähige menschliche Untersuchungsbehörde, sondern allmählich und zufällig ist die Bibel zustande gekommen. Ein vernünftiger Gott hätte nicht Wunder, noch dazu auf verkehrte Weise Wunder getan. Sollten Menschen an die Auferstehung Christi glauben, so wäre das kürzeste und kräftigste Mittel gewesen, daß Christus sich der Welt lebendig sehen ließ, sich mit den Nagelmalen dem Synedrio, dem Landpfleger, den römischen Soldaten und dem Volk zeigte, oder noch besser, daß er alle zu einer bestimmten Zeit als Zeugen seiner Auferstehung berief.
Im Buche Hiob heißt es: Es begab sich aber auf einen Tag, daß die Kinder Gottes kamen und vor den Herrn traten, kam der Satan auch unter ihnen. Tief geheimnisvolles Bild: Satan unter den Kindern Gottes vor dem Angesicht des Herrn, Gott, der sich von Satan bereden läßt. Das Dasein des Bösen und sein Recht einer Verbindung mit Gott offenbart sich in einem großartigen Bilde: Satan ist nicht Gott, aber er steht vor Gottes Angesicht, er ist kein Geringer, sondern ein Fürst, der mächtige Fürst der Welt. Vielleicht ist es ein Nachklang davon, daß Leibniz in der Theodizee das Böse mit dem Schatten vergleicht, der notwendig mit dem Licht zusammenhängt; aber er nahm damit dem Bösen sein Positives, sein eigenes Dasein, seine Größe. Neben dem unergründlichen und schauerlichen Mysterium der Geschichte von Hiob, wie fadenscheinig wirkt das Christentum der Deisten und auch der meisten Christen des 18. Jahrhunderts! Nach ihm folgte an Gottes Güte, daß er nichts anderes als die Glückseligkeit der Menschen wollen könne. Von der Glückseligkeit war in allen erbaulichen und beschaulichen Büchern jener Epoche unaufhörlich die Rede: sie bestand hauptsächlich in der Ausübung der Tugend, daneben in der Gesundheit des Leibes und dem Vergnügen der Sinne. Auch die Lehre Christi nannte man eine Glückseligkeitslehre, sein Verdienst sah man darin, daß er eine Anweisung zum glückseligen Leben gegeben und überhaupt an der allgemeinen Vereinfachung teilgenommen habe, die den Aufklärern am Herzen lag. Die Humanität des Heilands wurde hoch gepriesen, jeder Zug von göttlicher Übermenschlichkeit und Unnahbarkeit wurde aus seinem Bilde getilgt. Er war der wohlwollende Lehrer der natürlichen Religion, die dem Menschen ohnehin eingeboren ist, wozu er sich also im Grunde nicht hätte kreuzigen zu lassen brauchen. Die Deisten glaubten aus der Bibel das Unkraut ausgejätet zu haben und rissen alles Blühende mit der Wurzel aus, sie glaubten Schmutz und Schlamm aus ihr entfernt zu haben und verdrängten den fruchtbaren Urgrund des Lebens. Aus der Religion, die sie die natürliche nannten, war grade die Natur mit ihrem Reichtum ausgemerzt.
Der Deismus war dem Atheismus nah verwandt, für viele war er nur die korrekt angestrichene Hülle, hinter der sich der Atheismus verbarg. Viele Zweifler, ja selbst Ungläubige hielt doch ein unwillkürliches Grauen vor einer entgötterten Welt davon zurück, sich selbst ihre Gottlosigkeit einzugestehen, und sie klammerten sich an das Drahtgeflecht von Begriffen, das der Deismus ihnen darbot. Die Kraßheit des nackten Materialismus stieß schöngeistige und nachdenkliche Menschen ab. Abgesehen von allem diesem fürchteten die Gebildeten, der Atheismus werde den rohen Instinkten des Pöbels Vorschub leisten. Die christliche Religion war darum schätzbar, weil sie die Armen lehrte, sich mit der Armut zu begnügen, die Reichen nicht zu beneiden und den Höhergestellten zu gehorchen und zu dienen. Ganz fremd war auch Leibniz dieser Auffassung nicht; aber wenn er die unabsehbaren Folgen des einreißenden Atheismus fürchtete, so war es doch weniger, weil er das Christentum als einen Zaum des Pöbels, als weil er es als Quell des Rechts, der Ordnung und der Sittlichkeit überhaupt betrachtete. Der Staat schätzte die Kirche als Beihilfe bei der Zähmung der Untertanen, erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fühlte er sich stark genug, sie zu entbehren; Friedrich der Große bekannte sich offen zu seinen deistisch-atheistischen Ansichten.
Aus den Befürchtungen, die Leibniz und andere äußerten, darf man indessen doch nicht schließen, der Deismus oder Atheismus sei irgendwo allgemein verbreitet gewesen. In England wurde der Deismus von der Staatskirche und von den protestantischen Sekten von Anfang an heftig bekämpft, er wurde nur von den Gebildeten gepflegt und verschwand auch dort allmählich wieder. In Deutschland vollends kam er nur in den wenigen großen Städten auf. Sowohl in den katholischen wie in den protestantischen Ländern gab es auf dem Lande und in den kleinen Landstädten noch viel frommes Volk: die Katholiken folgten gehorsam den Geboten ihrer Kirche, sie beteten zu ihren Heiligen, der Glaube an die Freuden und Leiden des Jenseits lenkte die Ruhe oder Unruhe ihrer Seelen; die Protestanten folgten ihrem Pfarrer und ihrer Bibel. Die alten Geschichten und gewaltigen Verkündigungen in der musikalischen Sprache Luthers beschäftigten ihre Phantasie und erfüllten ihr Gemüt mit unerschütterlicher, oft heroischer Gläubigkeit.