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Als an der östlichen Grenze des Römischen Reiches deutscher Nation der Eisbär, der dort hauste, sich aufrecht stellte, seinen zottigen Kopf und seine Pranken schüttelte, sah man, daß das Ungeheuer viel kolossaler war, als man gedacht hatte, solange es schlafend dalag oder sich im Inneren seines verschneiten Landes herumschlug. Zuerst tauchte die neue Macht in Europa als harmloser Gast auf, gutmütig und in seiner barbarischen Fremdartigkeit fast ein wenig komisch. Als Peter I. im Jahre 1698 die Höfe von Wien und Berlin und Hannover besuchte, erregte der Moskowiter allgemeines Aufsehen. Dem deutschen Adel, der alles bewunderte und nachahmte, was von Frankreich kam, tat es wohl, sich im Bewußtsein höherer Kultur zu sonnen, wenn er das Benehmen des russischen Herrschers und seines Gefolges beobachtete. Man erzählte sich lächelnd allerlei Anekdoten von ihrem Schmutz und ihrer Ungeschliffenheit. Das Bedeutende von Peters Persönlichkeit fiel aber doch auf. Er gab sich ungezwungen, frisch, sicher, voll Empfänglichkeit und Verständnis für alles Neue, was er sah. Er war begierig zu lernen und lernte schnell als ein geistvoller Mensch, der ein Gerüst schon in sich hat, das er nur auszufüllen braucht.
Die russischen Großfürsten aus dem Hause Romanow, das seit dem Jahre 1613 in Rußland herrschte, hatten schon mehrfach versucht, sich in die europäischen Angelegenheiten zu mischen, namentlich im Hinblick auf den Zugang zum Meere, das dem riesigen Binnenreich Bewegungsmöglichkeiten verschaffen sollte. Schweden hatte zuerst unter Gustav Adolf, dann unter Karl X. Gustav diese Vorstöße zurückgeschlagen. Mit der Tatkraft des Genies, das eine bestimmte Bahn sich vorgezeichnet sieht, und mit der Hemmungslosigkeit eines halbbarbarischen Despoten unternahm es Peter, zuerst die westliche Kultur kennenzulernen und sich davon anzueignen, was die Macht und das Ansehen seines Reiches fördern könne, sodann nach zwei Seiten hin, nach Norden und nach Süden das Meer zu erreichen, im Norden die Ostsee, im Süden das Schwarze Meer. Dabei war ihm im Norden Schweden, im Süden die Türkei im Wege. Seine Jugend, seine Unerfahrenheit, seine Genialität gaben ihm den Mut, so vieles zugleich zu unternehmen.
Bei seinen Plänen gegen Schweden fand er natürliche Bundesgenossen in Schwedens alten Gegnern: Dänemark, Preußen und Polen. An der Spitze des letzteren Landes stand damals ein Barockfürst, der für jedes Projekt zu gewinnen war, bei dem er eine Rolle spielen und sich in bengalische Beleuchtung setzen zu können glaubte: Friedrich August von Sachsen, als August der Starke bekannt. Nach dem Tode des Polenkönigs Sobiesky im Jahre 1697 trat August als Bewerber um die Krone auf. Da sein protestantisches Bekenntnis ein Hindernis war, ließ er sich in die katholische Kirche aufnehmen, ohne daß ihm die Rücksicht auf sein lutherisches Volk oder die Pietät gegen seine Ahnen Bedenken gemacht hätten. Geld, das ihm seine sächsischen Untertanen aufbringen mußten, gewann ihm eine Anzahl polnischer Wähler, das übrige tat eine Armee, die er an der polnischen Grenze aufziehen ließ; auf diese Weise wurde er König von Polen. Irgendein Interesse für dies Land und Volk hatte er nicht, außer daß er den geheimen Wunsch hegte, sich in dem halbrepublikanischen Staatswesen zum erblichen König zu machen, was möglicherweise den Polen hätte zugute kommen können.
Im selben Jahre wie Sobiesky in Polen, starb in Schweden König Karl XI., dem es gelungen war, den schwedischen Adel der Krone zu unterwerfen. Er hatte das hauptsächlich dadurch bewirkt, daß er die königlichen Domänen, die während der letzten, von Kriegen erfüllten Regierungen in den Besitz des Adels gelangt waren, wieder an sich brachte. Auf eine besonders gewalttätige Art und offenbar dem Rechte zuwider hatte er das in Livland getan und den dortigen Adel dadurch arm gemacht. Einer der livländischen Edelleute, Reinhold Patkul, machte sich, obwohl er selbst seiner Güter nicht beraubt worden war, zum Vertreter der Gekränkten. Geächtet und flüchtig bereiste er die Höfe von Dänemark, Rußland, Sachsen, um einen Rachekrieg gegen Schweden zu entflammen, wo inzwischen auf Karl XI. sein jugendlicher Sohn Karl XII. gefolgt war. Hatte Karl XI. wie ein Räuber in Livland gewirtschaftet, so taten die Monarchen, die seinen Sohn bekämpfen wollten, sich ihrerseits wie Raubgesellen zusammen. Solange wie möglich spielten die freundschaftlichen Beziehungen weiter, in denen sie zu Schweden standen, bis sie sich für genügend vorbereitet hielten, es mit der Aussicht auf Erfolg überfallen zu können. August von Sachsen-Polen begann mit einem Angriff auf Livland, den Karl XII. zurückschlagen konnte; der livländische Adel, auf dessen Erhebung gerechnet worden war, schloß sich dem Eroberer nicht an.
Zar Peter war durch Krieg gegen die Türkei beschäftigt. Er kam seinen Bundesgenossen erst zu Hilfe, nachdem er ihn durch die Eroberung von Asow beendigt hatte, dann aber brachte ihm der junge Schwedenkönig, den Ruhm Karls X. Gustav erneuernd, bei Narwa eine furchtbare Niederlage bei. Voll des gerechten Zorns warf sich der Sieger auf August den Starken, verjagte ihn aus Polen und quartierte seine Armee in Sachsen ein. Für ihn war wie für Karl X. Gustav Polen der eigentliche Feind, die russischen Barbaren, die sich unberufen einmischten, glaubte er mit einem Ruck abgeschüttelt zu haben. Aber er machte mit den Russen dieselbe Erfahrung, die sein Großvater vor 50 Jahren mit den Polen gemacht hatte und die ihm das Kriegführen im Osten verleidet hatte: man glaubte, den Feind vernichtet zu haben, und sogleich stand ein neues riesiges Heer wieder da. Für die östlichen Regenten waren die Untertanen keine kostbare Ware. Das russische Heer, das Peter ihm nach Verlauf einiger Jahre gegenüberstellte, war besser gerüstet und ertüchtigt als das im Jahre 1702 besiegte, denn der lernbegierige Herrscher hatte die Zeit, die Karl XII. ihm ließ, gut benützt. Karl wurde vollständig geschlagen. Er wandte sich nicht, wie Karl X. getan hatte, als ihm der östliche Kriegsschauplatz unbehaglich geworden war, gegen Dänemark, sondern ging nach der Türkei in der Hoffnung, sie zum Bundesgenossen zu gewinnen.
Friedrich, der erste König von Preußen, sah beunruhigt zu, wie der russische Nachbar der schwedischen Macht zu Leibe ging. Schweden, der Erbfeind seines Hauses, Schweden, das seit 50 Jahren auf das nördliche Deutschland drückte, das die Mündungen der deutschen Ströme beherrschte, die Macht, die man haßte und der man doch schmeicheln mußte, schien ihrem Sturze nah zu sein. Konnte Preußen ruhig zusehen, da es doch den Hauptanteil an der Beute beanspruchen wollte? Wenn der Tisch gedeckt sei, hatte August der Starke gesagt, wolle man Preußen mitessen lassen. Was für ein Verhängnis, daß seine Truppen durch den Krieg im Westen gebunden waren! In demselben Jahre, als im Osten die Schlacht bei Poltawa geschlagen wurde, halfen preußische Truppen in der Schlacht bei Malplaquet Frankreich besiegen, das Friedrichs Vater Jahre hindurch ein zahlungsfähiger, höflicher Verbündeter gewesen war. Welchen Dank würde er vom Hause Österreich davontragen? Er dachte vorübergehend an einen Krieg nach zwei Fronten; davon wollten die Stände nichts wissen, und seine Kräfte hätten dazu auch nicht ausgereicht. Ein Plan, den er ausarbeitete, Polen zwischen Rußland, Preußen und Sachsen zu teilen, fand die Billigung August des Starken, der seinen Anteil dann als erblicher König besessen hätte, nicht aber den Peters, der sich eben mit den Türken und Schweden herumschlug. Friedrich Wilhelm I., der im Jahre 1713 seinem Vater nachfolgte, war zwar sehr soldatisch, aber nicht kriegerisch. Ihm lag die Politik seines Großvaters, bei Verwicklungen der Nachbarn eine undurchsichtige Neutralität zu bewahren, um sich im letztmöglichen Augenblick dem erfolgreichsten anzuschließen. Die Entscheidung war nicht leicht; sowohl Peter wie Karl waren jeder in anderer Art in der Türkei dem Verderben nahe gewesen, Peter zog sich mit dem Verlust Asows aus der Schlinge, Karl XII. rettete wenigstens seine Person, und beide rückten heran, um ihren Kampf auszufechten. Der zweite nordische Alexander hatte durch sein erstes stürmisch siegreiches Auftreten und durch seine bizarre Persönlichkeit solchen Eindruck gemacht, daß er auch jetzt als vereinzelter Flüchtling noch Schrecken erregte. Friedrich Wilhelm entschied sich dennoch für das Bündnis mit Rußland und Polen und beteiligte sich an der Belagerung Stralsunds, dessen Verteidigung Karl selbst leitete und das er erst verließ, als er einsah, daß er es trotz hartnäckigster Tapferkeit nicht halten konnte.
Vielleicht hätte der unbeugsame Sinn des jungen Königs Wege gefunden, den Niedergang Schwedens für eine Weile aufzuhalten, den sein abenteuerndes Wesen beschleunigt hatte; aber er fiel vor einer norwegischen Stadt, die er im Kampfe mit Dänemark belagerte. Nur auf Frankreich gestützt hatte Schweden seine Großmachtstellung erwerben und behaupten können, als Frankreich nicht in der Lage war zu helfen, und als ein neuer, massiverer Gegner sich erhob, brach sie zusammen. Es war natürlich, daß der größte Teil des Kriegsgewinnes Rußland zufiel: es erhielt Livland, Estland, Ingermanland und einen Teil von Karelien. Preußen bekam das längst begehrte Hinterpommern, Hannover, das noch rechtzeitig in den Krieg eingetreten war, Bremen und Verden. Von den Erwerbungen des Dreißigjährigen Krieges blieben nur Rügen und Wismar in schwedischem Besitz.
Am Schlusse der beiden großen Kriege, die das erste Viertel des 18. Jahrhunderts erfüllten, gab es im Abendlande vier Großmächte: England und Rußland, umwogt von grenzenlosen ferneblauen Möglichkeiten, Österreich ruhend im Schimmer alter Würde und alter Glorie, Frankreich im Glanze seiner reifen Kultur. Der englische Löwe war nur ein kleiner Körper; aber seine Tatze griff über Meere hinüber und schuf sich Glieder, die ihn an Größe übertrafen. Den Felsen Gibraltar, den ihm ein deutscher Prinz, Georg von Hessen, im spanischen Kriege erobert hatte, behielt er nur so nebenbei, gleichsam als Andenken; aber er sollte künftig zum tragenden Pfeiler eines Weltreichs werden. In die Angelegenheiten des Festlandes griff England nicht ein, um Eroberungen zu machen, sondern um für das europäische Gleichgewicht; zu sorgen, keine Macht, weder Frankreich noch Österreich noch Rußland übermächtig werden zu lassen. Ganz besonders ließ es keine Handelsmacht zur See aufkommen. Als Karl VI. sich bemühte, die einst so handels- und geldmächtigen Niederlande zu neuer Blüte zu bringen, hintertrieb es England. In einem großen Kriege vernichtete es Frankreichs Kolonialmacht.
Ganz anders geartet war das durch seine Ländermasse und seine Volksstämme ungeheure Rußland. Sein Ausdehnungstrieb bedrohte unmittelbar den Westen. Friedrich Wilhelm I. fühlte unwillkürliche Sympathie für den Zaren Peter, ein Despot für den andern, ein unermüdlich fleißiger Arbeiter für den andern; aber er konnte doch nicht ohne Sorge an den unberechenbaren Freund denken. War nicht das zwar unruhige, aber schwache Polen ein angenehmerer Nachbar? Man mußte darauf bedacht sein, Rußland nicht zu reizen und möglichst gute Beziehungen zu ihm zu unterhalten. Seine Freundschaft konnte viel nützen, seine Feindschaft sehr gefährlich werden. Österreich als die vornehmste Macht der Christenheit hielt sich zuerst zurück im Umgang mit dem zudringlichen Moskowiter. Peters Wunsch, seinen Sohn mit einer habsburgischen Prinzessin zu vermählen, wurde ausweichend abgelehnt. Bald wurde ersichtlich, daß mehr als die preußische die österreichische Politik durch den russischen Aufschwung gestört wurde. Jahrhunderte hindurch hatte Österreich durch die türkischen Angriffe zu leiden gehabt, nun es in ruhmreichen Kämpfen den alten Feind besiegt und geschwächt hatte, trat Rußland auf den Plan und behauptete, altheilige Ansprüche auf das Reich am Bosporus zu haben. Wenn Österreich jetzt daran dachte, seine Konquesten bis Konstantinopel zu poussieren, würde es auf einen kämpf es freudigen Mitbewerber stoßen, der in seinem unabsehbaren Gebiet so gut wie unbesiegbar war.
An der Erweiterung des europäischen Horizontes hatte Deutschland noch keinen Anteil. Während England und Frankreich um überseeische Kolonien kämpften, fuhren die deutschen Fürsten fort, in eifersüchtigem Hader miteinander zu ringen.