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Der Schnellzug Stuttgart–Berlin hielt in dem thüringer Städtchen eine Minute, nur gerade so lange, um einem jungen Reisenden Zeit zum Aussteigen zu lassen.
Walter warf noch eine Karte, die er unterwegs an seinen Onkel, den Kapitän, geschrieben, in den Postwagen des Zuges, gab seinen Handkoffer am Bahnhof in Aufbewahrung und stand in einer Viertelstunde am traulichen Giebelhause, vor welchem die alten Linden ihre letzten herbstlich vergilbten Blätter streuten.
Der Garten war leer. Er eilte die Treppe hinauf, öffnete die Türe des Wohnzimmers und fand seine Freunde, den Rektor Gerhart und die Frau – sprachlos vor freudigem Schreck.
»Lieber Walter« – stammelte endlich die Frau Rektorin dem Weinen nah, »Gottseidank, daß du da bist! Wir waren in Unruhe um dich, weil wir gar keine Nachrichten mehr bekamen, erst gestern hat mein Mann an deinen Onkel geschrieben.«
Walter erklärte den Sachverhalt mit kurzen Worten –. »Ihr, meine lieben Freunde,« schloß er mit Wärme – »ihr seid die ersten, die ich in der Heimat begrüße!«
»Nun bleibt aber der verlorene Sohn bei uns!« sagte scherzend der Rektor.
»Vorläufig, verzeihen Sie, nur diese Nacht. Ich habe schon Onkel geschrieben, der mich morgen erwartet. Und dann muß ich gleich weiter, um mich an der Universität zu melden.«
»So ein unruhiger Weltreisender!« lachte der Rektor.
Es gab ein Fragen und Erzählen, das kein Ende nehmen wollte und abends nach dem festlichen Mahle fortgesetzt wurde, bis die Nacht einbrach und die Hausfrau besorgt zur Ruhe mahnte.
Von ihren mütterlichen Segenswünschen geleitet, verließ Walter am nächsten Tage die heimatliche Stätte.
»Walter!« sagte beim Abschied der Rektor, der ihn zum Bahnhof geleitet hatte, »nun ist es genug der Abenteuer. Von Semester zu Semester heißt es stetig weiter steigen! Hab ich Recht?«
»Gewiß, Herr Rektor,« erwiderte Walter lebhaft, »aber Ihr Sprüchlein, lieber Herr Rektor, hat sich wunderbar bewährt. Das Wort, das Sie mir in die Bibel schrieben: Denen, die Gott lieben, gedeiht alles zum Guten.«
*
Die alte Marianne war tiefbesorgt um ihren Herrn. So hatte sie den Kapitän Arndt noch nie gesehen. Die knusperige junge Sonntagsente, mit welcher sich die Haushälterin solche Mühe gegeben hatte, wartete vergeblich auf die Würdigung des Kenners und erkaltete langsam in der Schüssel. Die Rotweinflasche mit der Lieblingsmarke stand unberührt.
Kapitän Arndt saß, ohne diese Herrlichkeiten zu beachten, den Kopf in die Hand gestützt an der Mittagstafel und starrte vor sich hin. Er sah um viele Jahre älter aus.
Endlich wagte die scheue Alte zu fragen, ob der Herr Kapitän nicht wohl sei.
Kapitän Arndt antwortete zuerst nicht, dann sagte er kurz: »Abräumen!«
Marianne nahm stumm die Schüsseln und verschwand damit. Der Kapitän stand auf, zündete seine Shagpfeife an und begann auf und ab zu schreiten. Die Haushälterin kam zurück, blickte ihn scheu von der Seite an und wollte gerade fragen, ob sie nicht Tee machen solle? – da tönte die Hausglocke, die Alte schrak zusammen und eilte hinaus. Sie kam gleich wieder.
»Post,« sagte sie tief erregt und reichte dem Kapitän einen Brief, auf dem sie sofort Walters Handschrift erkannt hatte.
Der Kapitän riß ihn auf.
»Von Walter!« murmelte er, »sein letzter Gruß.« – –
»Marianne!« rief er lebhaft, nachdem er die erste Zeile überflogen hatte. »Marianne, der Brief kommt von den Kanarischen Inseln! Aus Teneriffa! Er lebt! Er ist schon unterwegs – – Hahahaha – Marianne!«
Der Kapitän packte die alte Haushälterin an den Armen und begann einen rasenden Rundtanz mit ihr. Vom linken sprang er auf das rechte Bein und dann drehte er sie zweimal um und um, während er wie ein altersschwacher Leierkasten dazu trällerte.
»Herr Kapitän!« rief die Alte atemlos, »erbarmen Sie sich! Ich kann ja nicht weiter!«
Sie sank nach Luft ringend in den Sessel.
»Haha! Marianne,« lachte der Kapitän, »stärke dich mit einem Glas Rotspon, das muß begossen werden! Ja, ja, so sind wir Arndts! Komm, trink einen Schluck auf Walters Wohl! Er meldet aus Teneriffa, daß er unterwegs ist. Nun kannst du auch deinen Entenbraten wieder auftragen, alte Marianne.«
Die Alte lief erfreut nach der Küche, während der Kapitän die Botschaft wieder und wieder las.
Walter schrieb:
Lieber Onkel!
Hoffentlich hat Dich inzwischen nicht irgend eine falsche Meldung über meinen Untergang erschreckt und betrübt, ich bin aus großer Gefahr auf wunderbare Weise gerettet worden und von den Kanarischen Inseln unterwegs in die Heimat.
Ich war in einen sonderbaren Zustand der Abspannung, der Stumpfheit geraten, und wußte – wohl infolge von starken Erschütterungen – eine Weile nichts von mir selbst. Ja, ich hatte tagelang die Sprache verloren. So erklärt es sich, daß Du so spät erst Nachricht von mir erhältst. Inzwischen bin ich wieder ganz hergestellt, wobei das englische Geld, das Du mir mitgabst, vortrefflich geholfen hat.
Von Herzen
Dein Walter.
Dieser Brief wurde am nächsten Tage überholt durch eine Postkarte aus Thüringen, die Walters Ankunftszeit meldete.
Gleichzeitig kam ein Schreiben des Geheimrats Vanderbergen, worin er mit bedauernden Worten den Untergang Walters mitteilte. Am folgenden Abend traf der Erwartete ein.
»Braun von der kanarischen Sonne ist der Seefahrer Sindbad,« rief der Kapitän, der ihn prüfend und glücklich betrachtete. »Aber mager geworden! Wir werden ihn schon herausfüttern. Was, Marianne – wir lassen ihn nicht sobald los?«
Walter indessen bestand darauf, sich gleich bei der geographischen Gesellschaft zu melden.
»Das kann auch schriftlich geschehen!« meinte der Kapitän. Aber Walter glaubte seine Abwesenheit nicht entschuldigen zu können. Er sei einen persönlichen Bericht über seine Reise schuldig. Auch müsse er sich ohne Säumen bei dem Rektor von Brügge vorstellen und sich für das schon begonnene Semester eintragen.
Der Kapitän, der das einsah, ließ ihn ungern ziehen. Walter mußte versprechen, in den Weihnachtsferien wiederzukommen.
»Heute erst weiß ich, Marianne,« sagte Kapitän Arndt, nachdem Walter abgefahren war, zu der alten Haushälterin, »heute weist ich, was ich an dem Jungen habe.«