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20. Kapitel.
Inselwanderung.

Noch immer hatte sich kein Laut von den Lippen Walters gelöst, und es schien ihm, als ob sich – je länger ihm die Stimme aus einem unwiderstehlichen inneren Zwange versagte – desto merklicher von Tag zu Tag sein Gehör verfeinerte: jeder Ton, jedes Geräusch gewann eine besondere Bedeutung für ihn. Er vernahm die Melodien der Brandung um die steilen Felsenriffe, achtete auf den Schrei der kleinen Habichte, die über den tiefen Klüften des Eilandes kreisten, auf das Gurren der Tauben, welche die Lorbeerbäume bevölkerten, und hörte mit Entzücken die schmetternden Weisen der wilden Kanarienvögel, die in Scharen aus ihren Verstecken in Akazienbüschen aufflatterten – gekennzeichnet durch ein grünleuchtendes Federkleid, das in der Nähe schwärzliche Streifen zeigte.

Absonderlich aber bemerkte er beständige Pfeifsignale, die aus weiter Entfernung zu kommen schienen und in der Nähe beantwortet wurden. Er hörte sie nicht gleichmäßig, sondern in wechselndem Zeitmaß, in verschiedener Tonlage und Stärke an sein geschärftes Ohr dringen.

Er fragte seine Pflegerin auf die den beiden schon vertraute stumme Art, was dieses Pfeifen bedeute.

Sie antwortete lächelnd: » Languaje sibilado!«

Sibilado?Languaje heißt Sprache, das wußte er und sibilado? – Ach ja »gepfiffen«! Also gepfiffene Sprache!

Plötzlich besann er sich auch, daß er über diese merkwürdige, auf der ganzen Welt einzige Sprache der Gomeros schon näheres erfahren hatte. Durch eine kleine Abhandlung aus der Büchersammlung seines alten Lehrers Dr. Stoppel. Er hatte damals flüchtig darin geblättert und erinnerte sich, daß die Gomeros in dieser Weise auf ihrer vulkanischen Insel, wo es keine geraden Wege gibt, sondern nur durch Schluchten vielfach gewundene Pfade, sich zu verständigen pflegen. Es wurde vermutet, daß diese Sprache die Ursprache des Eilandes gewesen sei.

Als nach der Landessitte des Abends bei Fackelschein der Fischfang betrieben wurde, beobachtete Walter einen alten Mann, der einen gellenden Pfiff ausstieß, wobei er Zeigefinger und Mittelfinger in Gestalt einer Gabel in den Mund schob. Ein gleicher Pfiff antwortete aus weiter Entfernung. Darauf entspann sich eine längere Unterhaltung in Pfeiftönen. Fragen und Antworten bezogen sich vermutlich auf die Fischbeute, es handelte sich anscheinend um eine Bestellung, die von der Südküste der Insel kam.

Am nächsten Morgen sah Walter die Fischer mit ihrem reichen Fang fortziehen, sie hatten ihn in Hängekörbe auf Maultiere geladen. Walter fragte seine Wirtin, wohin sie gingen, sie deutete nach den Klippen hinüber und sagte: San Sebastian! Dabei gewahrte er, daß auch sie zum Ausgehen gerüstet ihr buntes Kopftuch umband und sie forderte ihn mit geheimnisvoller Miene auf, mitzukommen.

Walter hatte an den Kapitän Arndt geschrieben, ihm seine wunderbare Rettung mitgeteilt. Er zeigte Maria, wie seine Pflegerin zu heißen schien, mit einem fragenden Blick die Aufschrift: Alemania – Deutschland!

» Un Alemán – ein Deutscher?« rief sie überrascht.

Er nickte.

Und sie wiederholte lächelnd: »San Sebastian!«

Er folgte der Voranschreitenden auf dem Pfade, den die Maultiere eingeschlagen hatten.

Es war eine beschwerliche Wanderung, sie führte durch wilde Klüfte, in welche Wasserfälle Kühlung bringend ihren perlenden Schaum warfen, in einen Urwald von Lorbeerbäumen, die ihre schlanken Stämme bis zu einer Hohe von zwanzig Metern streckten. Käfer summten und fremdartige bunte Falter kreuzten den Pfad. Hin und wieder grüßte Landvolk die Wanderer, Männer in weißen mantas, den wollenen Mänteln der Vorzeit, in den gebräunten Händen die lanzas, die feuergehärteten Stäbe der Ahnen, nun als friedliche Bergstöcke benützt. Frauen mit bunten Kopftüchern und zierlichen Strohhütchen gingen still vorüber.

Die Waldungen wurden nun spärlicher, Adlerfarn bedeckte in Büscheln den Boden. Walters Begleiterin bückte sich und hob einige der Pflanzen mit der Wurzel aus. »Gefio!« sagte sie erklärend, und Walter erinnerte sich, daß diese Knolle zur Bereitung der landesüblichen Brotspeise diente, des Gefio.

Sie betraten einen schmalen Steg, der über einen Wasserfall führte. Auf dem gegenüberragenden Fels, wo sich der Pfad wiederum in die Tiefe der Schlucht wand, lag eine kleine Ansiedlung. Ein gegen den Abgrund schützendes Geländer umgab die Hütte, die aus rohen Baumstämmen gefügt schien. Unter dem weinbewachsenen Vordach stand in härener Kutte ein Mönch. Er hob die Hände zum Gruß. Die scheidende Abendsonne umspielte sein bärtiges Gesicht mit trügerischem Rot, während er das Zeichen des Kreuzes machte.

Maria küßte ihm demütig die Hand.

»Fraile Bernardo!« sagte sie ehrfurchtsvoll. » Un Alemán – ein Deutscher!« fügte sie zu Walter gewendet hinzu.

Bei den letzten Worten blitzte in den dunkelumschatteten Augen des Mönchs ein freudiger Schein. Und er erwiderte herzlich in gutem Deutsch: »Willkommen, Landsmann – nach so langer Zeit der Erste aus der Heimat!«

Walter neigte sich stumm und ergriff die dargebotene Hand. Maria flüsterte dem Mönch einige Worte zu, worauf Bruder Bernardo den Ankömmling mitleidvoll ansah.

Danach öffnete er die Türe für seine Gäste. Sie betraten ein niederes Gemach: ein roher Herd von Feldsteinen, ein dürftiges Bett, ein Wandbrett mit Gerät, ein Tisch mit Stühlen und ein kleines Büchergestell – das war die ganze Einrichtung.

Fraile Bernardo bot seinen Gästen den landesüblichen Imbiß: Gefio, Ziegenmilch, getrockneten Fisch und Früchte.

Darauf sagte Maria: gute Nacht! und ging in das Nebengelaß, wo sie ein Lager bereitet wußte.

Fraile Bernardo hatte inzwischen die altertümliche Hängelampe über dem Tische angezündet und bat Walter, er möchte ihm noch ein wenig Gesellschaft leisten. Er hob geschwind ein Brett aus dem Boden aus, holte eine verstaubte Flasche hervor und füllte zwei Holzbecher mit duftendem dunklem Wein.

»Tun Sie mir Bescheid!« bat er. »Diese Flasche – ein Geschenk des gütigen Bischofs drüben in Icod – hatte ich mir für eine besondere Gelegenheit aufgespart – sie ist da.«

Er schwieg eine Weile und sagte dann nachdenklich: »Ich nehme es als einen Teil der mir auferlegten Buße hin, daß dem ersten Deutschen, der mich in dieser Abgeschiedenheit findet, Gott die Lippen verschloß. Sie sehen mich fragend an – mit so guten, ehrlichen Augen – Sie sollen meine Geschichte hören. Ich stamme vom Niederrhein – Bernhard ist unser Familienname. Ich war so jung wie Sie – achtzehn Jahre! – und besuchte die Bonner Universität. Da erhielt ich von einem Freunde meines Vaters, der eine Fabrik besaß – sein Automobil zu Übungsfahrten. Meinem Vater gefiel es nicht, daß ich mich noch eifriger als vorher mit diesem Sport befaßte, er befürchtete, ich könnte meine Kollegien darüber vernachlässigen. Als er starb, führte ich, um seinen Willen zu ehren, meine Studien zu Ende. Dann aber widmete ich meine ganze Kraft und Zeit dem Sport. Ich gewann bald die Meisterschaft im Fahren und mehrere Rennpreise. – In dieser Zeit verlobte ich mich.«

Hier unterbrach sich der Erzähler und starrte eine Weile vor sich hin.

»Einige Tage darauf« – fuhr er fort – »geleitete ich meine Mutter nach der Eifel, wo die Eltern meiner Braut ein Landhaus hatten. Ich war stolz darauf, meine Mutter in einem Auto fahren zu dürfen, das einen neuen von mir vervollkommneten Typ darstellte und dessen Schnelligkeit bereits erprobt und anerkannt war.«

Fraile Bernardo lachte kurz und bitter auf.

»An diesem Nachmittage« – sprach er leise weiter – »geschah, was mir heute noch unfaßlich ist: Auf der Talfahrt überschlug sich das Auto gerade in dem Augenblick, als ich merkte, daß ich die Führung verlor.

»Ich wurde kopfüber vom Sitz geschleudert und verlor die Besinnung. Ich weiß nicht wie lange ich so lag. Als ich wieder zu mir kam, brach die Dämmerung ein. Nichts unterbrach die tiefe Stille, als der Klang der Abendglocken von einem entfernten Dorfe. Ich mußte mich erst besinnen wo ich war. Dann überfiel mich eine schreckliche Ahnung, die mir Kraft verlieh, mich aufzurichten. Mit schmerzenden Gliedern schleppte ich mich an das umgestürzte Auto. Unwillkürlich rief ich: Mutter! – – Keine Antwort. – Indem ich angestrengt hinsah, gewahrte ich die regungslose Gestalt meiner Mutter unter dem verunglückten Fahrzeug. Meine Ahnung wurde schnell zur Gewißheit, als ich noch eine unversehrte Lampe fand und mit Hilfe meines Feuerzeugs Licht machte: Meine Mutter war tot –«

Die Erinnerung hatte den Erzähler derart überwältigt, daß er mit einer verzweifelten Gebärde den Kopf auf die Tischplatte sinken ließ. Ein verhaltenes Schluchzen schien seinen Körper zu erschüttern.

Walter wußte sich in seiner Hilflosigkeit keinen Rat. Mit sachter Hand streichelte er den Kopf des Unglücklichen.

Eine ganze Weile war es still im Gemach.

Dann richtete sich Fraile Bernardo auf, er schien sich gefaßt zu haben.

Tiefatmend erhob er sich, trat an das Fenster und sagte zu Walter zurückgewendet in ruhigem Ton:

»Lassen Sie mich schweigen, von dem, was folgte. Nur soviel: Ich löste meine Verlobung, weil ich merkte, daß meine Braut für meinen Schmerz kein Verständnis zeigte. – Ich bin katholisch – aber die Beichte, welche unsere Kirche auferlegt, befreite mich nicht von meinem Schuldgefühl. Ich kann das Totenantlitz meiner Mutter niemals vergessen.

»Ich gab den größeren Teil meines Vermögens den Armen und floh in diese Einsamkeit, wo es keine Automobile gibt. – Ich danke Ihnen, lieber junger Mann, daß Sie mich angehört haben. Es ist mir augenblicklich etwas leichter. Nun will ich Ihnen auch Bescheid tun und Glück auf den Weg wünschen.«

Fraile Bernardo setzte sich zu Walter. Sie tranken schweigend den Becher leer.

Der Mönch blickte prüfend auf seinen Gast – es schien, als ob er dem Schweigsamen die Gedanken von der Stirne ablesen wollte.

»Ich möchte wohl« – sagte er dann gütig – »daß Sie aus meiner Geschichte lernen! Sie sind ja noch jung und der Sinn steht Ihnen gewiß nach Abenteuern! Glauben Sie mir: Soweit Sie auch kommen mögen, alle Wege führen den Menschen schließlich nur zu dem einen Ziel, zu sich selbst – zu seinem besseren Selbst, mein' ich. Man spricht soviel von Freiheit – aber hüten Sie sich vor diesem Wort. Es gibt nur eine Freiheit, sagt Goethe – die, das Rechte zu tun.

»Und nun ist das Rechte wohl: zur Ruhe zu gehen. Die erste Morgenstunde ruft mich zu einem Kranken. –«

Fraile Bernardo bot Walter seine Schlafstätte an. Walter zögerte, sie ihm fortzunehmen. Aber der Mönch bestand lächelnd darauf. Er selbst begnügte sich mit einer wollenen Decke und streckte sich zu Füßen des Bettes auf Ziegenfelle aus.

In der Frühe verabschiedeten sich die Wanderer von ihrem gütigen Wirt. Fraile Bernardo geleitete sie nur wenige Schritte, weil seine Krankenpflege ihn nach der entgegengesetzten Richtung rief.

In einem Gehöft, umgeben von Palmen, machten die Beiden kurze Rast und mieteten zwei Maultiere, auf denen sie den Rest des Weges zurücklegten.

Zu ihren Füßen lag San Sebastian, eine Reihe weiß schimmernder Häuser mit flachen Dächern streckte sich geradlinig am Strande aus. Ein alter Turm, der letzte Überrest eines einst mächtigen Schlosses, beherrschte und überragte die helle Stadt. Grünumkränzt von Palmen und Fruchtbäumen, eingebettet in schroffes, rötliches Felsgestein lag sie in flimmernder Mittagssonne.

Mit der Ehrfurcht vor großen Menschen und ihren Taten, die Walter im Blute lag, betrat er die durch Christoph Kolumbus geweihte Stätte.

Auf seiner ersten Ausfahrt 1592 hatte der kühne Entdecker Amerikas hier vier Wochen warten müssen, um das kleinste seiner drei Schiffe, die »Pinta«, wieder auszubessern. Er nützte die Zeit, sich reichlich mit Holz und anderen Vorräten zu versehen. Wie anders fuhr er ein Jahr später aufs neue von Gomera aus. Ein gefeierter Mann, vom König beglaubigt, mit zwölf Caravelen, drei Lastschiffen und einer Besatzung von 1500 Mann erschien er vor San Sebastian – um nur wenige Jahre später – nach seiner dritten Ausfahrt – verleumdet und in Ketten zurückgebracht zu werden.

Unter solcherlei Gedanken war Walter seiner Führerin in die Hafengegend hinab gefolgt. Die Frau verhandelte mit dem Inhaber eines Segelbootes und gab Walter mit lebhafter Gebärde nach der benachbarten Insel hin zu verstehen, daß er einsteigen möge.

Walter blickte überrascht und entzückt nach der nahen Insel Teneriffa, wo der Pic aus seinem Wolkenkranz weiß aufleuchtete.

» Casa di sanitad de Doctor Forte!« sagte sie erklärend.

Das »Sanatorium des Dr. Forte?« – Gut. Walter fügte sich vertrauend in ihre mütterliche Fürsorge und stieg ein. Sie raffte gewandt das kleine Segel, während der Besitzer des Bootes das Steuer ergriffen hatte. Das kleine Fahrzeug flog, von einem günstigen Passat getrieben, mit Windeseile über das nur sacht gekräuselte Meer. Der Pic von Teneriffa versank bald hinter den näherrückenden schroffen Vorgebirgen der Insel, das waldige Gomera wich in blaugrünem Schimmer in die Ferne zurück.


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