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Die Viktoria stoppte. Walter sah durch das Kajütenfenster auf einen ruhigen Ozean. Durch den dunstigen Morgenhimmel schimmerte bläulich ein Streifen Land – westafrikanische Küste. »Heute gilt es,« dachte Walter, als er im Taucheranzug die Kajüte verließ. Er hatte auf Rat des Arztes nur einen leichten Imbiß genommen. Als er auf Deck erschien, bot ihm der Steward ein Glas alten Sherry. Man hatte gelotet und Abdallah war gerade dabei, die Leiter hinabzusenken.
»Stopp,« kommandierte Wyndham, die Uhr in der Hand, nachdem er festgestellt, daß die Leiter Grund faßte. Danach wendete er sich zu Walter, prüfte den Verschluß des Taucherhelms, die Kautschukringe, welche an den Handgelenken luftdicht die Ärmel abschlossen und die elektrische Leitung, welche die Lampe im Taucherhelm speisen sollte. Danach eine zweite an der Brust des Tauchers.
» All right,« murmelte er, die unentbehrliche Shagpfeife zwischen den Zähnen. Dann legte er das Ende des Seiles in Form einer Schlinge um Walters Hüfte. Abdallah ergriff den aufgerollten Teil des Seiles und das Hörrohr, denn dieses Mal sollte er oben die Aufsicht behalten. Zwei Matrosen standen wieder zur Bedienung der Sauerstoffpumpe bereit. Man wartete noch auf den Geheimrat. Vanderbergen kam gerade in Begleitung des Kapitäns, fröstelnd in seinen Mantel gehüllt herauf, nickte beifällig und winkte Walter mit der Hand zu.
» Go on!« kommandierte Wyndham. Walter zögerte, fühlte nach seiner Harke und seinem Messer im Gürtel und sah sich um. Er begegnete dem fragenden Lächeln Abdallahs. Da stieg er hinab. Dieses Mal dauerte es länger, bis er die letzte Sprosse erreicht hatte. Er merkte den stärkeren Druck des Wassers. Aber die Luftzufuhr, welche die Pumpe aus der Oberwelt beförderte, war reichlich. Er konnte ohne Beschwerde atmen.
Er verließ die Leiter, sein Fuß tastete und fand festen Grund. Als er sich an die Dämmerung gewöhnt hatte, blickte er prüfend umher, danach gab er das verabredete Zeichen durch das Hörrohr, daß er Grund gefunden habe. Das Seil wurde gleich darauf ein wenig gelockert.
In der Ferne gewahrte er einen matt phosphoreszierenden Schimmer – er griff nach dem Messer und faßte die Harke fester am Stiel. Das mochten riesige Kraken sein, die es lieben, in der Tiefe schimmernd auf Beute zu lauern. Er mußte sich auf alle Fälle rüsten gegen ihre gefährlichen Fangarme. Er ging behutsam weiter.
Vor ihm stiegen Blasen auf – er blieb beobachtend stehen: ein Wasserstrudel fuhr aus der Tiefe. Strömung schlug gegen ihn, warf ihn um. Er raffte sich mühsam auf, taumelte, suchte vergeblich Halt am Seil – – wo war es? – Gerissen?! Er wollte rufen und verlor den Atem – es wurde ihm dunkel vor den Augen. Wohin war er geraten? Welch ein Druck! Welch ein unerträglicher Druck! Wo war er? wachte er? träumte er? – Nein, er schritt ja weiter, hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Schritt weiter, qualvoll! Mit unsäglicher Anstrengung – in der Dämmerung – seine Lampe war erloschen – aber ein wundersam bläulich phosphoreszierender Schein stieg vom Boden auf – er trat auf weiche und doch lederartig zähe Masse – es regte sich unter ihm, riesige Kraken wanden sich schimmernd unter seinen Füßen, umklammerten seine Beine – er löste sie gewaltsam mit dem Messer, mit der Harke brach er sich Bahn, aber die Kraken folgten ihm.
Der Fangarm eines riesigen Polypen streckte sich mit blitzschnellem Griff nach ihm aus und umschlang seine Beine, ein zweiter Arm wand sich um seine Hüfte. Näher gleitend umgab ihn die ganze lederartige Masse des Achtfüßlers mit wachsendem Druck. Noch hatte er den rechten Arm frei und begann mit der scharfen Harke verzweifelt auf das Ungeheuer loszuschlagen. Aber es schien, als ob die in Regenbogenfarben flimmernde Haut des Polypen gepanzert sei. Mit jedem Hieb wurde die atemraubende Umklammerung enger. Walter fühlte seine Kräfte schwinden.
Plötzlich merkte er, daß er eine empfindliche Stelle getroffen haben mußte – es kam ihm vor, als ob der Druck, der seine Knochen zu zerbrechen drohte, etwas nachließe. Hoffnung belebte ihn. Er setzte seine Angriffe mit dem letzten Aufgebot von Kräften fort. Da löste sich das Tier ermattet von ihm ab. Sein phosphoreszierender Schimmer erblich – es ward grau und sank auf den finsteren Grund. Aber auch er drohte vor Müdigkeit umzusinken. Gewaltsam raffte er sich auf, bemüht, aus dem gefährlichen Bereich der schimmernden Ungeheuer zu entkommen schleppte er sich weiter.
Da trat sein Fuß auf Stein. Eine Stufe? Wahrhaftig, ja! – Eine zweite – dritte – vierte stieg er empor. Er fiel, erhob sich und schritt mühsam weiter, wohl an fünfzig Stufen hinauf: Tageslicht schimmerte ihm entgegen, endlich die Oberwelt! Luft! Aber seltsame rötliche Wolken hingen über dem Wasser, dumpfe Schwüle blieb lastend und atembeklemmend auf ihm, und vor ihm aus der Flut ragten mächtige Säulen, die ein Tempeldach trugen, und darunter in der Mitte auf einem gelblich schimmerndem Obsidianblock – thronte riesengroß – Tlaloc, der Gott des Wassers und der Fruchtbarkeit!
Zu den Füßen des Gewaltigen stürzte aus einer Rinne des Felsens ein Wasserfall in die Tiefe, auch die Treppe bespülend, die zu beiden Seiten aus dem Meere aufstiegen.
Atlantis! wollte Walter rufen – aber die Stimme versagte ihm, er blieb erschöpft stehen und atmete schwer. Da erblickte er zwischen den Säulen des Tempels eine Gestalt im fremdartigen Gewande – sie kam näher – ein Priester des Gottes? Aber die Züge waren bekannte, unter dem weißen Mantel die bronzene Haut und der schwarze Bart des Arabers. Ja, er erkannte Abdallah el Farsik an dem Lächeln, das die Oberlippe ein wenig hob und weiße Zähne entblößte.
Ein zweiter kam, eine hohe greise Gestalt in wallendem Gewande, in der Hand das scharfe Opfermesser aus goldgelb schimmerndem Obsidian. War es der Oberpriester des Tempels?
Der Alte deutete befehlend auf den Ankömmling – nun erkannte Walter auch ihn, den Bleichen, Stolzen: es war Vanderbergen! Wie kam er hierher? – Nein! Der huschende Widerschein des ziehenden rötlichen Gewölkes hatte diese Augentäuschung erzeugt – es waren fremde Gesichter. Walter hörte Worte in einer unbekannten Sprache, die er wunderbarerweise doch verstand. Der Ältere, im priesterlichen, wallenden Gewande, winkte ihm mit dem Opfermesser gebieterisch zu, er möge näher kommen. Walter stieg die letzten Stufen zum Tempel mühsam hinan, und von einem unerklärlichen Zwange getrieben, folgte er dem Alten.
Sie durchschritten den Säulengang. Aus einem offenen Torbogen kamen ihnen flinke Diener entgegen und knieten vor dem Alten nieder, seiner Befehle gewärtig. Auf einen Wink, den er gab, befreiten zwei von ihnen Walter mit unbegreiflicher Geschwindigkeit von der beengenden Kleidung, ein anderer besprengte ihn mit einer stark nach Moschus duftenden Flüssigkeit, ein vierter warf ihm ein seltsam kühlendes Gewand über und bot ihm dann eine Achatschale mit einem erfrischenden Getränk.
Der Oberpriester, denn ein solcher schien ihm der Alte zu sein, klopfte mit seinem Obsidianmesser dreimal gegen eine riesige flache Trommel, welche von der Decke herabhing. Es gab einen weithin hallenden Ton. Kaum war er verklungen, da rauschte und flatterte es in den Lüften, vom Dache des Tempels kam ein Schwarm von Drachen geflogen, auf denen halbnackte bewaffnete Männer rittlings saßen.
Die Tiere ließen sich auf den Kanten des Tempels zwischen den Säulen nieder und zogen ihre Flügel ein. Die Reiter stiegen ab und grüßten den Alten in einer Reihe stehend durch tiefe Verneigung, wobei sie die Arme zum Zeichen der Ergebenheit über der Brust kreuzten.
Walter betrachtete mit freudigem Erstaunen diese merkwürdigen Drachen, welche den Umfang etwa junger Kälber hatten, in denen er jedoch auf den ersten Blick eine größere Abart des Urvogels erkannte, die Drachenflügel und den gezähnten Vogelschnabel des Odontoperix! Die Übergangsform vom Amphibium zum Vogel, deren Umrisse seine Versteinerung auf Rügen so deutlich gezeigt hatte, hier lebte sie! Diese merkwürdigen Tiere schienen zahm und wohl erzogen zu sein, sie saßen geduldig in den Zwischenräumen der Säulen auf der Kante des Tempels. Ihre Führer fütterten sie aus einem Holztroge, den ein Diener gebracht hatte, mit kleinen Fischen, die sie im Wurfe fingen und gierig verschlangen.
Der Alte deutete gebieterisch auf das Walter zunächst hockende Tier; Walter zögerte, als er aber sah, wie gelassen einer der Reiter, welcher der Anführer zu sein schien, seinen Drachen bestieg und davonflog, folgte er, von einem unwiderstehlichen Drange getrieben, seinem Beispiel.
Kaum saß er rittlings auf dem Drachen, so kroch das Tier bis an den äußersten Rand der Tempelkante und ließ sich mit ausgebreiteten Flügeln in die Tiefe fallen. Es sank langsam nieder und flog dann, sich in die Lüfte schwingend, dem vorausflatternden Drachenreiter nach.
Die Tiere schwebten im großen Bogen über das Meer landeinwärts. Walter gewahrte in der Tiefe würfelförmige niedrige Bauten, dazwischen Pflanzungen von palmartigen Gewächsen. Sie kamen über einen Talkessel, aus dem dichter Dampf wallte, kleine Flammen zuckten hin und wieder durch den weißen Dunst.
»Der Feuersee!« sagte der Drachenreiter ihm zur Seite erklärend. »Er ist der Segen und der Fluch des Landes, er wärmt die Erde und macht sie fruchtbar, doch wehe uns, wenn er überkocht!«
»Der Feuersee ist verhüllt,« fuhr der Reiter fort, während sie den Talkessel umkreisten, »das ist nicht gut für dich, Fremder. Der Feuersee grollt, er verlangt sein Opfer!«
Sie kehrten zum Tempel zurück, mit ausgebreiteten Flügeln sanken die Drachen auf die Fliesen. Walter wollte geschwind absteigen. Er trat dabei mit dem linken Fuß auf den noch gestreckten Flügel seines Tieres. Es wendete mit einem gackernden Ton den Vogelkopf und biß ihn heftig in das Bein.
Ein Wärter sprang hinzu und befreite den Angegriffenen durch wiederholte Schläge auf den Schnabel des Tieres von dem scharfen Gebiß.
»Sie sind zahm, Herr, gute Tiere,« sagte der Wärter, »Ihr habt nur einen leichten Abdruck von den Zähnen bekommen. Wenn sie richtig beißen, geht es durch die Knochen. An den Flügeln, müßt Ihr wissen, sind unsere Tiere sehr empfindlich. Ihr hättet mit dem Absteigen warten müssen, bis das Tier seine Flügel eingezogen hatte!«
Der Drache schnappte noch einige Male mit dem langen Vogelschnabel und stieß einen leise gackernden Ton aus, erst als der Wärter beruhigend schnalzte, zog das Tier die Flügel ein, wodurch sich sein Rücken ein wenig höher wölbte und Walter eine bequeme Stütze zum absteigen bot.
Inzwischen war sein Begleiter, der Drachenreiter, an den mit Fellen bedeckten Sitz des Oberpriesters herangetreten und flüsterte ihm geheimnisvoll einige Worte zu.
Darauf erhob sich der Alte und sprach feierlich:
»Fremdling! Der heilige Feuersee ist dir nicht günstig, er hat sich dir verhüllt. Nach dem Gesetze des Landes bist du ihm verfallen, es gibt keine Rettung für dich. Dein Wissensdurst aber, der dich, du Verwegener, in das Verderben stürzt, soll zuvor gestillt werden. Du wirst das Glück haben, noch in deiner letzten Stunde die gesegneten Stätten von Atlantis zu schauen. Folge mir!«
Sie stiegen auf der dem Lande zugekehrten Seite des Tempels hinab und erreichten einen großen freien Platz. Der Priester deutete auf einen niedrigen langgestreckten Bau:
»Die Drachenzucht,« sagte er erklärend.
Zelle an Zelle, zu beiden Seiten der Halle lagen hier hinter starken Holzgittern die jungen Drachen. Gemauerte Wasserbehälter dienten ihnen zum Bad und darin befindliche Fische zur Nahrung. In kleineren Käfigen kroch eben aus den Eiern geschlüpfte Brut, handgroße Tierchen, schwerfällig im Sande umher.
Der Priester verließ die Halle durch den entgegengesetzten Ausgang, der auf einen Garten mündete. Hier lagen von der Sonne bebrütet die Dracheneier im Sande, unter der gelblichen Haut waren die dunklen beweglichen Formen der sich entwickelnden Tiere zu sehen.
Die beiden Männer standen vor einem kleinen Gartenhaus, dessen schimmernde Wände aus mattglänzenden kleinen Steinen erbaut zu sein schienen. »Dieser winzige Tempel, mit außerordentlicher Sorgfalt aus Obsidian zusammengesetzt, beherbergt die größte Merkwürdigkeit unseres Landes!« erklärte der Priester dem Wißbegierigen. »Es ist dies,« setzte er andächtig hinzu, »ein winziges Geschöpf von einer unverhältnismäßigen Kraft. Wir nennen es nie anders als mit Ehrfurcht den großen Springer. Denn bedenke, o Fremdling, es erhebt sich mit einem einzigen Sprunge zweihundertmal so hoch, als es selber ist. Durch diese Sprünge, die er mit seinen langen Hinterbeinen ausführt, entzieht sich der Seltsame seinen Verfolgern. Trotz dieser ungewöhnlichen Gabe wurde das Geschlecht des Meisterspringers, der das Blut des Menschen zur Nahrung braucht und dessen Stiche ein böses unerträgliches Jucken der Haut verursachen, durch unablässige Verfolgung nahezu ausgerottet.
»Ich kann Euch daher nur ein einziges Wesen dieser Gattung zeigen, das wegen seiner Seltenheit einen sorglich gehüteten Schatz unseres Reiches bildet. Ich selbst behüte ihn und gewähre dem Meisterspringer alle zwei Tage auf meinem Arme das priesterliche Blut zur Nahrung und muß dabei die äußerste Vorsicht gebrauchen, damit das kostbare Tier nicht entspringt und vertraue ihn niemanden sonst an.«
Der Priester öffnete umständlich mittels eines wunderlich geformten Hakens den Eingang zu dem runden Gemach, welches durch eine Kuppel von dünn geschliffenem Obsidian ein gedämpftes Tageslicht empfing. In der Mitte stand auf einem Sockel ein hohes durchscheinendes Gefäß, in dessen Inneren sich ein winziger dunkler Punkt zu bewegen schien.
»Er ist nur springfähig, ehe er sich vollgetrunken hat,« sagte teilnehmend der Priester, »augenblicklich ist er satt und schwerfällig.«
Walter erkannte zu seiner Verwunderung in dem Meisterspringer einen Floh.
Der Priester geleitete Walter hinaus und schloß behutsam die Pforte.
»Ihr seid nachdenklich,« sagte er, während sie zum Tempel zurückschritten, »und wirklich ist es der Mühe wert, über dieses Rätsel zu sinnen. Gar viele unserer Gelehrten haben sich darüber den Kopf zerbrochen, man vermutet, daß ein unergründlicher Zauber in diesem Springer steckt. Kann er, was sonst kein Wesen vermag: zweihundertmal höher springen als er selbst ist – dann kann er noch mehr!«