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Nun machte ich wieder alle Tage die Runde von einer Fabrik zu der andern. Die Ziegeleien waren mir wegen der unendlich langen Arbeitszeit und des unsicheren Verdienstes verhaßt. Auch mußte man bei ihnen für den Winter stets eine andere Arbeit suchen.
Am liebsten von allem wäre ich aus dieser ganzen Gegend verschwunden und ins Ausland gegangen. Das aber konnte ich wieder der Kinder wegen nicht. Schließlich blieb mir doch nach langem traurigen Herumlaufen und Suchen nichts anderes übrig, als wieder in einer Ziegelei anzupacken. In Tischlers Ziegelei auf der Türmitzer Straße kam ich an, als Ziegeleinkarrer in die Brennöfen. Diese Arbeit wurde, wie alle übrige Ziegelarbeit, in Akkord gemacht. Von früh vier bis acht Uhr abends konnte man dabei doch ungefähr zehn bis dreizehn Gulden in der Woche verdienen. Leicht war die Arbeit auch nicht, denn man mußte den ganzen Tag immer mit fünfzig Stück Ziegel von oder nach dem Brennofen einherfahren. Mir war diese Sklavenarbeit ganz zuwider, weil ich sie für eine ganz menschenunwürdige hielt. Aber die Verhältnisse waren stärker als ich, und ich hatte mich ergeben. Eins nur war vorteilhaft, nämlich, daß meine Eltern unweit wohnten, und ich in dieser trüben Zeit bei ihnen sein konnte. Mein Vater sah es zwar nicht gerne, wenn ich da war; aber nachdem uns das Schicksal wieder zusammengetrieben, mußte eben Rat werden. Und die Mutter? Ja, die tat für mich ihr Möglichstes; in ihrem Herzen war die Mutterliebe doch noch nicht erloschen. Mein Vater hatte, wie ich schon vorhin erzählte, auf der entlegenen Türmitzer Straße, wo nur einige Mietshäuser und vier Ziegeleien standen, einen kleinen Laden gepachtet und Viktualienhandel angefangen.
Oft, wenn ich jetzt bei den Eltern saß, riet mir der Vater ganz eindringlich, ich sollte doch sehen, ob ich nicht eine Braut fände, die etwas Geld hätte. Ich aber hatte vorläufig verdammt wenig Lust zu heiraten. Und dann: eine mit Geld? Ich war lange nicht mehr so naiv, zu glauben, daß so eine mich in meiner trostlosen Lage, mit den vier Kindern, heiraten würde.
Bald aber wurden die Kinder Allen lästig, und ich wurde von allen Seiten gedrängt, mich um eine Änderung zu kümmern. Ich sah schließlich selbst ein, daß es so nicht gut fortgehen konnte, und daß eine Änderung geschehen mußte. Doch die Wahl war für mich sehr schwer. Ich fühlte mich zu einem Entschlusse zu schwach. Meine leidensvolle Vergangenheit, die trostlose Gegenwart und eine ganz dunkle Zukunft flimmerten vor meinen Augen. Je mehr ich mir alles überlegte, desto schwermütiger wurde ich, und die Willenskraft zum Leben schwand ganz. Schreckliche Gedanken erfaßten mich: Leben wollen und nicht!
Bald siegte der eine und bald der andere Gedanke. Auch reichlicher Biergenuß vermochte den schrecklichen Selbstmordgedanken nicht zu unterdrücken, und ich schwankte machtlos zwischen den zwei Wegen.
Eines Montags nachmittags gelangte ich doch zu dem schrecklichen Entschluß, dem Elend ein Ende zu machen. Ich nahm die beiden jüngsten Kinder, den Knaben und das Mädchen, damit auch sie niemandem hier zur Last fallen sollten, und führte sie nach dem Flusse Biela zu; die Mordmischung trug ich in der Bierflasche. Unter Pflaumenbäumen setzte ich mich nieder. Die armen unschuldigen Kinder rupften unterdessen Wiesenblumen und ahnten nicht, welche Gefahr ihrem Leben drohte, welche schrecklichen Gedanken ihren Vater beschäftigten, welcher Kampf in seinem Innern vor sich ging, um Leben und Tod!
Ich streckte mich auf den Rasen, vertiefte mich noch einmal in mein vergangenes Leben. »Sollst du oder sollst du nicht?!« und dann weinte ich wie ein Kind.
Unweit von mir flog eine Lerche auf und sang ihr Lied. Sie flatterte immer über mir und sang, als wenn sie von meiner Trübsal wüßte und mich trösten wollte. Wie glücklich magst du dich fühlen, du kleines Tierchen! Wie freust du dich deines Lebens! Und ich, Mensch, Krone des Tierreiches, bin so unglücklich! Mir raubten meine Mitmenschen die Lust zum Leben! So sah und horchte ich ihr zu, und ob ich weiter noch etwas jammerte, weiß ich nicht. Es mag eine ganze Weile darüber vergangen sein, daß ich so dalag. Plötzlich erhielt ich einen Stoß. Ich erwachte, sprang auf und sah erschrocken, daß das Mädchen die Flasche an ihrem Munde angesetzt hielt. Hastig riß ich sie ihr aus den Händen und schleuderte sie in den Fluß …
Der Herr Tischer hatte eine kleine Wohnung leer stehen. Ich bat ihn nun, mir diese einstweilen zu lassen, was er auch tat, aber nur für so lange Zeit, wie er sie nicht für eine Ziegelmacherpartei brauche. Dort zog ich ein, nahm auch den ältesten und vorletzten Jungen wieder zu mir, und nur das jüngste Mädchen blieb noch bei der Frau Nekowarsch.
Wir kochten uns früh und abends selbst Kaffee, und das Mittagessen holten wir von meiner Mutter. Die Stube war gerade für drei groß genug. Als ich das Bett, den Kleiderschrank, den Tisch mit zwei Stühlen und eine Ofenbank hineingestellt hatte, blieb nicht viel Raum mehr zum Hin- und Hergehen übrig. Der Kleiderschrank stieß bereits an der Decke oben an. Es war eben eine richtige Ziegelmacherwohnung. So lebte ich mit den Kindern eine Zeitlang.
Dann kam die Frau eines Arbeitskollegen, die in die Türmitzer Zuckerfabrik ging, einmal in die Ziegelei und frug mich, ob ich nicht heiraten wollte; sie hätte für mich eine Braut. Ich nahm es als Scherz und sagte: »Selbstverständlich, wenn Sie eine haben, dann sofort. Ist sie auch noch ein bißchen hübsch, jung und wie heißt sie denn?« »Hübsche Person, vierundzwanzig Jahre alt und heißt Anastasia!« »Dann könnte es gehen!«
Nach etlichen Tagen richtete mir die Frau aus, daß ich Sonntag nachmittag zu ihr nach Türmitz kommen könnte, die Anastasia käme auch hin. Ich nahm auch diese Einladung zu dem Stelldichein entgegen und nahm es immer noch als Spaß auf.
An dem bestimmten Sonntag nachmittag versäumte ich aber doch nichts, um zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein. Als ich ankam, war die Anastasia noch nicht da. »Sie wird schon kommen!« sagte Frau Ferda.
Ungeduldig erwartete ich nun doch, bis sich die Türe öffnete, und die neue Sonne mich bestrahlen sollte. Endlich kam sie, mit einem dreijährigen Mädchen auf dem Arm. Ihre Gesichtsfarbe und Züge verrieten, daß es ihr auch nicht gerade zum besten gehe. Ihr Ansehen aber gefiel mir. Nach ungefähr einstündigem Plaudern wußte ich auch, daß sie nicht gerade eine Xanthippe sei. Als ich sie dann nach Hause begleitete, machte ich ihr meine Lage klar und gab ihr zu verstehen, daß ich heiraten möchte. Sie horchte mir ruhig zu, ohne mir durch Blick oder Wort ihre Gesinnung zu verraten. Erst unweit ihrer Wohnung, als ich umkehren wollte und ihr die Hand reichte, wurde ich an ihrem warmen Drucke gewahr, daß sich ihr Herz geneigt zeige. »Sprechen Sie darüber mit meinem Vater!« sagte sie und gab mir das Haus an. Ich versprach, Dienstag zu ihm zu kommen.
Als ich an diesem Tage abends dort hinkam, blieb ich ganz verblüfft stehen. Ein Altar mit einem großen Muttergottesbilde in der Stube! Servus! dachte ich, das paßt; ich konfessionslos, und hier sieht es aus wie bei einem katholischen Geistlichen!
Ich trug aber trotzdem dem alten Schneidermeister Lukaschek meine Wünsche vor und bat ihn um die Hand seiner Tochter. Er war auch schon vieljähriger Witmann. Er frug mich aus, was für eine Beschäftigung ich hätte, wie viel Kinder und mehr. Als ich ihm das Gröbste berichtete, wollte er auf keinen Fall von einer Heirat was wissen. Er setzte mir die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten einer Ehe auseinander, wo zweierlei oder gar dreierlei Kinder seien. Ich ging unverrichteter Sache fort. Bei dem Alten hatte ich also kein Glück.
Die Anna begleitete mich aber bis zur Haustüre hinaus, wir drückten uns warm die Hände. »Ich bin ja großjährig und kann machen, was ich will!« sagte sie und besiegelte es mit einem süßen Kuß. Bis so weit war also alles gut und schön. Ihr Herz hatte ich gewonnen, nur wegen ihrer religiösen Gesinnung war ich noch in größter Verlegenheit. Denn daß sie ihren Glauben abtrete und sich mit mir nur gerichtlich trauen ließe, damit rechnete ich gar nicht nach allem, was ich in der Wohnung ihres Vaters gesehen hatte. Aber daß ich so bald eine Frau finden würde, die sich mir in ihrem Glaubensbekenntnis anzupassen gewillt gewesen wäre, daran zweifelte ich auch. Und doch zwang es mich von allen Seiten, sobald wie möglich meine Familie in geordnete Verhältnisse zu bringen.
Am nächsten Sonntag war in Türmitz Kirmes. Wir gingen miteinander zum Tanz und haben uns fröhlich unterhalten. Und als wir uns dann auf dem Heimwege trennten, waren wir schon auf du und du! Die Heirat war nun schon soviel wie beschlossen.
Als mein Vater meinen Entschluß, und daß meine Braut unvermögend sei, hörte, zeigte er wenig Freude. »Ihr seid einer so dumm wie der andere!« sagte er und meinte damit sowohl mich wie meinen jüngsten Bruder Gottlieb.
Kirmesmontag machten meine Arbeitskollegen blau. Ich hatte mich nun entschlossen, die Ehe zu schließen und den katholischen Glauben wenigstens äußerlich wieder anzunehmen. So ging ich gleich an diesem Tage nach Türmitz, um das Nötige gemeinsam mit meiner Braut auf dem Pfarramte abzumachen. Ich mußte ihr nun sagen, was sie noch nicht wußte, nämlich, daß ich konfessionslos sei. Vor ihrem Vater sollte sie das aber nicht erfahren, der hätte wohl dann durch unsere Rechnung einen Strich gemacht. Ich lockte sie deshalb auf die Straße und teilte ihr mit, daß ich aufs Pfarramt gehe, um das Nötige wegen der Trauung abzumachen, und dann eben auch das, daß ich konfessionslos wäre. »Ja, was ist denn das, konfessionslos?« frug sie mich da ganz verblüfft. Als ich ihr sagte, daß ich gar keinen Glauben hätte, stieß es sie förmlich vor mir zurück. »Um Gottes willen, das gibt mein Vater nicht zu!« Ich beschwichtigte sie, daß ich doch eben den katholischen Glauben wieder annehmen wolle. »Dann darf mein Vater davon nichts erfahren!« erwiderte sie, schon wieder erfreut.
Nachdem der Pfarrer Bertig alles, was die Trauung betraf, aufgenommen hatte, mußte ich dann auch damit heraus, daß ich konfessionslos sei. »Ja, dann kann ich Sie nicht kirchlich trauen!« antwortete er unwillig, und sein Gesicht bekam ein unfreundliches Ansehen. »Ich will aber den katholischen Glauben wieder annehmen, Herr Pfarrer!« »Dann ist es etwas anders, dann ja, dann geht es!« Sein Gesicht erhellte sich sofort und zeigte große Freude. Der Herr Pfarrer wurde nun gar gesprächig, lobte meinen Entschluß und meinte, er müßte das auch dem Konsistorium melden. Aber das täte die Trauung nicht hindern. Dann gab er mir auf, mich vorzubereiten, da ich vor der Trauung in der Kirche das Glaubensbekenntnis ablegen müßte, und frug mich, ob ich das Glaubensbekenntnis kenne. »Das kann ich nicht mehr, Herr Pfarrer!« »Nu, dann will ich Ihnen eins geben, das lernen Sie auswendig!« und er langte mir ein Blatt Papier her, auf dem die Aufgabe geschrieben stand. Der Pfarrer mag bei alledem vielleicht ein wenig gedacht haben, daß ich mit ihm Spaß triebe; aber es war dem wirklich so. Ich kannte kein Glaubensbekenntnis, kein Vaterunser oder sonstige Gebete mehr, die ich als Junge doch einst gelernt hatte, und kann sie auch heute nicht. Mir kommt das selbst ein wenig sonderbar vor. Ich habe doch manches aus meiner frühesten Jugend nicht vergessen, aber die Gebete sind mir ganz aus dem Gedächtnis verschwunden.
Gerade damals wollte nun mein Bruder Gottlieb sich auch einen Laden in Türmitz pachten. Ich spielte dabei den Sachverständigen. Ein Laden war dort zu haben, in dem sich noch eine ganze Einrichtung, Pult und Regale befand. Die Miete betrug 120 Gulden. Schließlich sah er aber von dem Laden ab und riet mir, ihn zu pachten. Mir kam der Rat erst lächerlich vor, denn wie sollte ich ohne Geld so etwas noch einmal anfangen? Aber er versprach mir, daß er mir behilflich sein werde, und meinte, daß mir der Vater auch etwas geben könnte. Ich verkaufte nun ein Oberbett für fünfzehn Gulden, und eins hatte ich noch bei der Mutter, das wir erst vor einem Jahre neu kauften und zwei Stück blieben mir außerdem noch übrig. Und auch der Vater gab mir wirklich dreißig Gulden, dafür ließ ich das Oberbett der Mutter. Dann stand er noch beim Großkaufmann Rösler in Aussig für mich gut, weil ich bei dem für fünfzig Gulden Ware borgen mußte. Mit dieser Bagatelle eröffnete ich dann mein zweites oder auch das dritte Geschäft. Ich rechnete damit, daß auf diese Weise auch meine Frau zu meinem geringen Winterverdienst etwas zu verdiene oder, wenn ich später gar keine Arbeit haben sollte, dann doch wenigstens etwas zum Leben da wäre.
Es ging nun alles Schlag auf Schlag, mit dem Geschäft und auch mit der Heirat. Ehe der Hochzeitstag kam, war das Geschäft eröffnet, und wir hatten auch schon ein paar Flitterwochen verlebt, und auch das übrige Kindervermögen beisammen. Zusammen fünf Stück, das war ein hübscher Anfang in der neuen Ehe.
Am Hochzeitstage früh / es war nun der Herbst des Jahres 1895 / erinnerte ich mich erst, daß ich mir von dem Aussiger Pfarramte, wo ich auch aufgeboten worden war, noch zuvor einen Verkündigungsschein hatte holen sollen. Nun lief ich freilich schnell genug zum Pfarrer Bertig, um ihm die Vergeßlichkeit zu melden, und dachte, daß ich den Schein ja nach der Trauung auch noch holen könnte. Der Pfarrer war aber nicht anwesend, er hatte gewiß noch geschlafen. Ich wandte mich deshalb mit meinem Anliegen an die Köchin. »Ja, ohne den Verkündigungsschein werden Sie nicht getraut. So viel kann ich Ihnen sagen! Wenn man schon zwanzig Jahre auf einem Pfarramt ist, dann muß man es wissen!« antwortete sie mir in selbstbewußtem Tone. Ich lief nun wieder nach Hause. Meine Braut kam mir bestürzt entgegen; ich dachte, es wäre ein Unglück passiert. »Wenzel! / Jesus Maria! / Wir können heute nicht getraut werden!« »Ja, warum denn? Ist etwas vorgefallen?« »Ach! / Ich kann nicht zur Kommunion gehen, / ich habe mich vergessen, habe Kaffee getrunken und Semmel gegessen!« »Beruhige dich meine Liebe, so strenge darf man das nicht nehmen, deswegen kannst du ruhig zur Kommunion gehen!« »Dann begehe ich aber eine große Sünde!« »Das, was in den Mund geht, ist keine Sünde. Aber vieles, was herauskommt.« Und schließlich gelang es mir doch, sie zu beruhigen, und ich ließ mir auch noch einen Topf voll Kaffee geben und aß dazu schnell ein paar Semmeln und eilte dann nach Aussig aufs Pfarramt.
Der dicke Kaplan Alfons füllte den Schein sofort aus und langte mir ihn hin mit den Worten: »So, das kostet einen Gulden!« »Bitte, den habe ich nicht!« »Dann müssen Sie zum Herrn Dechanten gehen!«
Ein Schreiber ging gleich mit; der Herr Dechant war in der Kirche. Er führte mich an die Sakristei. Nach längerer Weile kam derselbe Dechant heraus, dem ich noch für die erste Trauung sein Geld schuldig war. Ich erzählte ihm, daß ich heiraten wolle und müsse, weil ich vier Kinder hätte, und daß ich momentan nicht so viel Geld hätte, um den Verkündigungsschein bezahlen zu können. »Na, wegen einem Gulden wird man Sie nicht aufhängen, wann wollen Sie das bezahlen?« »Sobald wie es mir möglich ist, Herr Dechant!« »Na, gehen Sie in Gottes Namen!«
Der Mann war also nicht so übel, wie man eigentlich nach seiner groben Stimme hätte annehmen sollen. Ich war froh, daß ich wieder mal so billig davonkam. Mit mir machten die Geistlichen überhaupt ein schlechtes Geschäft. Wenn sie von mir etwas zu bekommen hatten, da blieb ich es entweder schuldig oder zahlte nach der Stolataxe, und das paßte ihnen selten. Sie nahmen dann lieber gar nichts, weil es zu wenig war, und mir war das immer ganz recht. Zwei, drei Gulden, die sie von einem Arbeiter verlangten, oder zweiundvierzig Kreuzer, die man ihnen nach der Stolataxe zu zahlen verpflichtet war, war doch ein großer Unterschied.
In größte Verlegenheit geriet ich doch noch mit dem Glaubensbekenntnis. Der Hochzeitstag war nun da, und ich konnte es noch nicht auswendig, weil ich niemals so viel Zeit übrig gehabt hatte, daß ich es hätte lernen können. Und dann muß ich offen sagen, daß mir auch der gute Wille dazu fehlte. Ich war sehr neugierig, was der Pfarrer nun dazu sagen würde. Aber die Sache fiel viel glätter aus, als wie ich erwartet hatte. Als ich, von zwei Zeugen begleitet, vor dem Altar kam und hinkniete, und der Pfarrer sah, daß ich kein Sterbenswörtchen kannte, da war er so liebenswürdig, mir das Glaubensbekenntnis vorzusagen, und ich sagte es ihm einfach nach. Dann, nach dieser Zeremonie, ging ich zur Beichte und Kommunion. Und dann wurden wir getraut. Das alles war in ungefähr zwanzig Almuten abgetan. Die Beichte dauerte bei mir überhaupt nicht lange, denn ich hatte zur Erforschung des Gewissens ebenfalls keine Zeit gehabt, und wußte daher keine Sünden herzusagen.
Draußen vor der Kirche frug der Schwiegervater, der oben auf dem Chore mitgesungen hatte, was eigentlich heute los gewesen wäre, was der Mann vor dem Altare gemacht hätte, und wer es gewesen wäre. Nun erfuhr er erst von seiner Tochter, was das bedeutet hatte, und wer der Mann gewesen. Er war darüber aber förmlich erschrocken und blaß geworden.
Außer jenen zwei Zeugen aber und dem Schwiegervater, hatte sich niemand als Hochzeitsgast eingefunden. Trotzdem es die verwandten von beiden Seiten so nahe hatten!
Der Schwiegervater, der mich nun die ganze erste Zeit nicht schmecken konnte, hat sich doch schließlich mit mir versöhnt. Ja er machte mir, als wir einmal allein waren, gar eine Lehre aus der heiligen Schrift. Er selbst hätte den heiligen Joseph zu seinem Fürsprech gewählt, an den wende er sich immer, damit der seine Bitte beim lieben Herrgott vermittele. »Das ist mein Patron,« sagte er. »wenn es mir beschieden ist, dann gehen meine Wünsche jedesmal in Erfüllung. Wenzel, so müssen Sie es auch machen!« Ich verhielt mich gegen den alten, schon sechzigjährigen Mann streng tolerant, ließ ihm seine Freude und behielt mir meine Überzeugung. Mit ihm herumzustreiten, hätte ja auch keinen Zweck gehabt. Und so blieben wir auch fernerhin gute Freunde.
Die Umgangssprache in meiner Familie war nun die deutsche geworden, weil meine zweite Frau auch eine Deutsche war. Ihr Vater, der ein langjähriger Türmitzer Ansässiger war, war zwar auch Tscheche, aber seine Frau, die schon achtzehn Jahre unter der Erde lag, war eine Deutsche gewesen, und ihre Kinder hatten ihre Sprache geerbt, wie es immer in solchen Familien der Fall ist. Mir und meinen zwei ältesten Kindern bereitete diese Änderung keine Schwierigkeit, ich konnte ja die deutsche Sprache nun schon ziemlich gut, und die Kinder, die zu Hause bei der ersten Frau Tschechisch gelernt hatten, hatten schon in der Schule die deutsche Sprache gehabt. Den beiden jüngsten Kindern aber war es noch ganz egal, welche Sprache sie lernen würden.
Die zweite Frau hatte eine lebhaftere Natur wie die erste. Und ich war mäßiger Natur, vielleicht auch schon durch die harten Schicksalsschläge abgestumpfter; mein Blut geriet nicht mehr gleich in Hitze. So weit hätten wir also zusammengepaßt. Sie hatte auch eine schöne Handschrift und konnte im Rechtschreiben gut fort, so daß ich von ihr darin zu lernen hoffte. Ihre sonstigen Kenntnisse aber, die sie etwa noch besaß, waren etwas Rechnen und viel Beten; das letztere konnte sie besonders gut und reichlich. Alles andere wissen war ihr fremd! In ihres Vaters Wohnung war noch nie eine Zeitung gekommen und, außer Kalender und Gebetbuch, auch kein anderes Buch. Sonst war sie eine gute Wirtschafterin, rechnete mit einem jeden Kreuzer, verschwendete nichts, war nicht naschig und wußte sich die Lebensbedürfnisse der Familie nach dem Einkommen einzurichten und einzuteilen. Ich konnte ihr meinen Verdienst anvertrauen und brauchte mich um gar nichts zu bekümmern. Und so machen wir es noch bis heute, wenn ich eine Hose brauche, so besorgt sie auch die. So wie mein Vater halte ich es also nicht.
Eins nur entsprach an ihr nicht meinen Anschauungen, nämlich die Kindererziehung. Sie besaß in dieser Einsicht keine Geduld. Dazu fehlte ihr auch die Aufklärung, um die Kinder stets in einer bestimmten Richtung zu erziehen. Ihre Erziehungsmethode erbte sie von ihrem Vater; es war die Korporalmethode. Wie er es zu Hause gemacht hatte, so machte sie es ihm nach. Nach seiner Auffassung sollte ein Kind immer vor den Eltern in Angst leben, wie der Hund vor seinem Herrn. Wer ein paar gesteckt bekam und dann gleich wieder schmeichelnd gekrochen kam, der wurde als rechter Charakter belobt, der war gut und brav! Sie gebrauchte zu allem sehr viele Worte. Aber gerade durch ihre laute Stimme stumpften die Kinder schnell ab, so daß sie auf das erste und zweite Wort von ihr überhaupt nicht mehr hörten, wodurch sie nun nur noch größeren Lärm machte. Daß ihr auch die natürliche Mutterliebe fehlte, war ja selbstverständlich, und daß sich die größeren Kinder auch dessen stets bewußt blieben, bezweifelte ich nie. Eine bessere, vernünftigere Erziehungsmethode ihr beizubringen, ist mir auch bis heute nicht gelungen. Sie behandelt ihre eigenen Kinder genau so wie die Stiefkinder. Das verursachte schon oft Zwietracht unter uns. Aber das siebente Sakrament: die Ehe, hielt sie heilig. Was auf Erden verbunden war, sollte so auf Ewigkeit bleiben, bis in den Himmel. Ich hatte noch nie Ursache, ihr hierin nicht zu trauen. Es war also ein Weib, wie ich es mir nur wünschen und wie ich es als Arbeiter auch alleine gebrauchen konnte / bis auf die obengenannte Ausnahme.
Ich hatte mich in der Zeit, wo ich Witmann war, dem Trinken ergeben. Ich war zwar kein Gewohnheitstrinker; wenn mich aber Kummer und Sorgen drückten, dann suchte ich gewöhnlich eine Gesellschaft auf, die lustig und sorglos war, um mich zu betäuben und zu erheitern, und dabei wurde oft eins zuviel getrunken.
Einmal war ich auch so »fett«, sagen wir Arbeiter, daß ich in der Gerste auf dem Felde neben der Straße bis früh liegen blieb. Zehn oder zwölf Glas Bier hatte ich da wohl getrunken. Wenn ich nicht irre, war es gerade die Nacht vor dem Tage, wo ich mich mit den Kindern vergiften wollte. Nun aber, wo ich wieder verheiratet war, nahm ich mir vor, alles Derartige wieder zu meiden und mich ganz der Familie zu widmen. Auch an die politische Arbeit dachte ich nicht mehr, konnte ja auch nicht dran denken. Aber ich wandte mich wieder meinen früheren Gesellschaftern, meinen Büchern, zu und vertrieb mir mit ihnen zu Hause die Zeit.
Mit meiner Arbeit und meinem Verdienst in der Ziegelei ging's mir bald so, wie ich es noch im Sommer gefürchtet hatte. Die Tage wurden kurz, mehr wie fünf bis sechs Gulden in der Woche konnte man schon nicht mehr verdienen. Schließlich nahm der Vorrat in grünen Ziegeln ab, sie wurden nach und nach aufgebraucht, und wir hatten schon vor Weihnachten gar keinen Verdienst mehr.
Ich hatte mich zwar noch im Herbst eifrig umgesehen, den und jenen Kollegen in den Fabriken angeredet, wenn etwas frei wäre, es mir mitzuteilen, oder gleich selbst für mich vorzusprechen, weil man durch Protektion stets leichter ankam. Es war überall so üblich, daß sich die Arbeiter sofort ihre Bekannten hereinholten, wenn der Entlassene oder freiwillig Gehende der Fabrik den Rücken gekehrt. Alles aber war umsonst gewesen, Wir Ziegeleiarbeiter kamen überhaupt sehr schwer irgendwo an, weil sich die Herren in den Fabriken sagten, daß wir im Frühjahr doch wieder davongingen. Wie groß aber die Konkurrenz war, beweist die Tatsache, daß man in Aussig und Umgebung jetzt schon in jedem Winter mit rund tausend Arbeitslosen zu rechnen hatte. Die Kohlenkarrer an der Elbe und die Bauarbeiter bildeten die Mehrzahl von ihnen.
Unsere Krämerei ging natürlich auch nicht besonders, schon weil die Konkurrenz im Orte zu groß war, und dann, weil wir nicht mehr kreditierten. Der Verdienst, den sie uns einbrachte, reichte kaum für die Miete. Ich sah voraus, daß wir, ehe das Frühjahr da war, das Geschäft aufgegessen haben würden. Darum war es mir schon damals gleichgültig, ob ich hier oder auswärts Arbeit bekommen hätte, was ich auch mehrmals brieflich und persönlich versuchte.
In der »Narodni Politika« suchte damals auch wieder einmal ein Ziegeleibesitzer, und zwar in Raudnitz, einen Ziegelbrenner. Ich entschloß mich hinzufahren, trotzdem ich wußte, daß die Arbeit dort noch schlechter wie in Nordböhmen bezahlt wurde. Ich löste mir in Aussig gleich eine Rückfahrkarte und fuhr los. Als ich den Herrn in Raudnitz gefunden hatte und mich vorstellte, erfuhr ich natürlich, daß der Posten schon vergeben war. Nach diesem »wieder nichts!« ging ich dann, da ich schon einmal hier war, zu meinem Genossen Helbig, bei dem ich mich bis Abends aufhielt. Dann fuhr ich mit dem Zuge wieder nach Hause.
Der Kondukteur kam, die Fahrkarten zu kupieren. Ich suchte meine Karte, fuhr mit den Fingern aus einer Tasche in die andere, nirgends nichts. Je länger ich vergebens suchte, desto mehr steigerte sich mein Schreck, denn ich hatte ja kein Geld mehr bei mir. »Bis ich wieder komme!« sagte schließlich der ungeduldig vor mir stehende Mann und ging weiter. Ich suchte immer wieder in meinen Taschen, fand aber keine Karte, sie war weg. Was nun? was wird er sagen, wenn er kommt?
Der Wagen war voller Menschen. Mir war so, als hätte mich jemand mit einem Messer ins Herz gestochen. Niedergeschlagen saß ich auf der Bank und dachte nach, was der Kondukteur nun mit mir machen werde. Die neben mir sitzenden Frauen frugen mich aus, ob ich eine Karte gelöst, ob ich sie verloren hätte und andre Dinge, die mir alle nichts nützten. Ich antwortete gleichgültig »Ja« oder »Nein«. Dann kam der Kondukteur wieder. »Na, haben Sie schon die Karte gefunden?« Ich erzählte ihm, daß ich eine gelöst, aber sie offenbar verloren hätte. »Sie scheinen ein Schwindler zu sein! Wenn ich wieder komme, will ich die Karte sehen, verstehen Sie!« fuhr er mich nun barsch an und ging wieder weiter. Alle Blicke wandten sich wieder zu mir. Mir war es nun schon ganz egal, was mit mir geschehen würde. »Na, was ist nun?« »Ich habe sie nicht gefunden!« antwortete ich reumütig. »Dann werden Sie in Salesel aussteigen. Der Stationschef mag dann mit Ihnen machen, was er will!« Da stand eine neben mir sitzende Frau auf und tat, wohl von Mitleid gerührt, das, was ich eigentlich selbst hätte tun sollen. Sie bat die Passagiere, die fünfundsechzig Kreuzer, die die Fahrkarte kostete, zusammenzusteuern, was auch sofort geschah. »Na, und nun bedanken Sie sich bei den Herrschaften!« forderte sie mich lächelnd zu dem auf, was ich ebenfalls hätte schon selbst tun sollen. Aber ich war stets in meinem Leben leicht zerstreut, erst recht bei solchen fatalen Gelegenheiten. »Der Mann muß gar nicht recht sein!« sagte da eine Frau und klopfte sich mit den Fingern auf die Stirn. Die anderen aber lachten darüber, und ich war in meinem Innern tief empört. Ihr lacht über einen unglücklichen Arbeitslosen und wißt nicht, was in dessen Seele vor Kummer und Sorgen vorgeht. Gewiß, er lacht und singt nicht, hat keinen Lebensmut, geht niedergeschlagen umher und sieht wahrlich aus wie nicht gescheit!
Erst Ende Februar 1896 bekam ich wieder Arbeit; leider wieder nur in einer Ziegelei: Richters Dampfziegelei in Prödlitz bei Aussig. Ich hatte dort schon, bevor die eigentliche Ziegelfabrikation begann, mit mehreren Arbeitern Lehm gegraben. Diese Arbeit war für beide Teile, für den Herrn sowohl, wie für uns Arbeitende, ein Vorteil; jener bekam die Arbeit billig fertiggemacht, und wir brauchten nicht ganz und gar zu hungern.
Als dann die Ziegelkampagne beginnen sollte, kam eine ganze Partie Arbeiter und Arbeiterinnen, zusammen gegen vierzig Menschen, angewandert. Mit ihnen ihr Vorarbeiter und Dolmetsch, denn sie waren alle Tschechen und nur wenige von ihnen konnten ein bißchen Deutsch. Unter ihnen befanden sich ledige Burschen und Mädchen, aber auch ganze Familien. Sie waren alle aus der Schüttenhofer Gegend. Und weil es dort keine Industrie gibt, wanderten sie alle Jahre im Frühjahr nach Nordböhmen oder Sachsen, und im Herbst kehrten sie wieder nach Hause zurück.
Sie waren alle kontraktlich verpflichtet, bis Ende der Kampagne in der Arbeit auszuhalten; dabei mußten sie sich zehn Gulden allmählich von ihrem Lohne abziehen lassen, die bis zum Austritt aus der Arbeit als Kaution stehen blieben. Daß ein solcher Kontrakt ungesetzlich war, wußten die Leute nicht. Unter dieser Partie fing auch ich nun an zu arbeiten. Ich fuhr mit noch zwei Mann die gebrannten Ziegel aus dem Ringofen. Wir mußten im Durchschnitt täglich 15 000 Stück Ziegel fahren und draußen auf dem Platze aufsetzen oder auch gleich auf die Wagen laden. Für ein Tausend hatten wir vierzig Kreuzer. Zu arbeiten fingen wir wieder gewöhnlich um vier Uhr früh an und waren abends um sechs Uhr mit unserer Arbeit fertig. Die Arbeit war an und für sich so schwer, daß einem der Schweiß schon bei normaler Wärme durch alle Poren kam. Im Ofen aber war es noch viel schlechter; dort waren unter dem Gewölbe meistens über sechzig Grad Hitze; aus dieser Glut mußten die Ziegel herausgeholt werden. Dazu gab es in der Ziegelei noch kein Trinkwasser! Dem Vorarbeiter Audes, der eigentlich die ganze Arbeit akkordiert und daneben noch eine Kantine hatte, war das freilich sehr recht; denn wir mußten nun Bier trinken, vier bis fünf und auch noch mehr Liter täglich, und dazu brachten wir uns auch noch zwei bis drei Liter Kaffee von zu Hause mit. So groß war die Not des Schwitzens. Als dann meine Kollegen wegen der intensiven Hitze nicht mehr in den Ofen hineinwollten, / wir hatten uns bisher alle Tage abgewechselt, jeden Tag kam von uns ein anderer in den Ofen und zwei blieben auf dem Platze / da bat mich der Audes, ich solle ganz im Ofen bleiben; er wolle mir jede Woche dafür etwas extra vergüten, und da ich jeden Kreuzer bitter nötig brauchte, schlug ich ihm die Bitte nicht ab. Die Vergütung betrug immer einen Gulden an barem Gelde, und einen Gulden rechnete er von meiner Bierschuld ab, bei jeder Lohnzahlung. Aber ich hatte schließlich von den zwei Gulden keinen Nutzen, weil sie meistens nicht einmal für das reichten, was ich im Ofen an Essen und vor allem an Trinken mehr brauchte. Ich hatte nur so viel davon, daß ich immer elender wurde, bis ich schließlich das immerwährende Arbeiten im Ofen aufgeben mußte; dafür wollte mich der edle Audes auch noch entlassen, und es wäre sicher auch geschehen, wenn sich der Direktor nicht ins Mittel gelegt hätte.
Schon bald nachdem ich in dieser Ziegelei zu arbeiten angefangen hatte, gaben wir unser Geschäft wieder auf und bezogen eine Stube in Prödlitz. Mit dem Geschäft hatte sich es richtig so abgespielt, wie ich es schon im Winter vorausgesehen hatte. Wir hatten am Ende kein Betriebskapital und auch keine Ware mehr, und wir waren froh, daß wir noch die Miete decken konnten, um sie nicht schuldig zu bleiben. Am schlechtsten bei diesem Ladenschluß kam mein Vater als Bürge davon. Denn von den fünfzig Gulden, für die er bei dem Rösler für mich haftete, hatte ich auch rein nichts abzuzahlen vermocht, daraufhin er sie, wie er mir wenigstens sagte, bezahlte. So erhielt ich von meinem Vater im ganzen, die dreißig Gulden für das Oberbett nicht mit einbegriffen, siebzig Gulden, die ich als mein Erbteil verrechne, wenn er in der letzten Stunde seines Lebens nicht mehr an mich denken sollte. Von dieser Verpflichtung abgesehen, hatte ich, selbst den besten Willen vorausgesetzt, bei niemandem weiter Schulden machen können, weil mein Name den Kaufleuten noch von Schönpriesen her wohl bekannt war. Kein einziger Geschäftsreisender hatte mich je in dem neuen Geschäft besucht.
Die Schüttenhofer Leute führten auch ein Leben, das der Menschenwürde nicht entsprach. Sie kochten und schliefen in der Kaserne. Gewöhnlich kauften und kochten vier Mann zusammen. Abends nach der Arbeit wurde erst eingekauft, Fleisch und Reis oder Graupen; das wurde dann in einem Topfe gekocht und am nächsten Tag aufgewärmt. So ging das fort, Tag für Tag. Diese Kost kam einem jeden etwa auf zwei Gulden und vierzig Kreuzer wöchentlich zu stehen; natürlich Brot, Bier und anderes noch nicht mitgerechnet. Zum Schlafen standen immer zwei Pritschen übereinander, in denen je zwei Mann schliefen. Zu dieser Wohneinrichtung kam dann noch ein Tisch und zwei Bänke. Alles war unangestrichen, und kein einziger Schmuck zierte die Wohnungen. Große Reinlichkeit gab's auch nicht, vor allem hatten es da die Flöhe gut, weniger die armen Menschen, die so manches Mal nach ihrer schweren Arbeit nicht schlafen konnten, und dann mit der Decke unterm Arme vor den Plagegeistern nach dem Ringofen oder auf den Rasen hinaus retirierten. Es war alles fast noch schlimmer wie in meiner Jugend in Sachsen. Und doch lebten diese Menschen die ganze Zeit so, so lange wie eben die Arbeit in der Ziegelei dauerte, und so lebten sie wieder, wenn sie im Herbst die Kasernen der Zuckerfabriken bezogen, von wo sie dann gewöhnlich erst kurz vor Weihnachten nach Hause zurückkehrten, um einmal ihre Familie und Verwandten zu sehen, und endlich wenigstens ein bißchen ordentlich auszuruhen. Aber schon Ende Januar gingen dann viele von ihnen wieder von zu Hause fort, in die Welt. Und also lebten diese Menschen jahraus, jahrein. Kein Wunder, wenn sie dann für etwas geistig Höheres, Schönes und das Menschenleben Veredelnde keinen Sinn hatten. Und ich, der ich so voll Sehnsucht nach alle dem war, ich mußte nun meine Tage unter ihnen verbringen, mußte auf alle geistige Beschäftigung verzichten. Jene aber fühlten sich zufrieden. Ihr einziges Bestreben war, recht viel Geld nach Hause schicken zu können. Darum sparte und schränkte sich jeder ein, so wie es nur irgendwie anging. Ihre Gesinnung war sehr religiös und demütig. Sie steckten keinen Bissen in den Mund, ehe sie nicht gebetet hatten, und nach dem Essen taten sie wieder so. Vor Beginn der Arbeit wurde auch erst der Körper bekreuzt. Mein näherer Arbeitskollege Kojsar erhielt oft in Briefen von seiner Frau Bilder der Mutter Gottes geschickt, die er dann alle als Schützerinnen bei sich trug. Als ich ihn deswegen einmal auslachte, wollte er mir sofort einen Ziegel auf den Kopf hauen. Sie alle hatten die Köpfe noch voll von gesellschaftlichen und religiösen Vorurteilen, glaubten noch das dümmste Zeug, das selbst mit der Religion nichts mehr zu tun hat, so an die Zauberkraft einzelner Menschen, die, wenn sie wollen, durch Hexerei Schaden oder Nutzen zufügen können, und ähnliches. Ich überzeugte mich hier abermals, daß zwischen sächsischen und böhmischen Landbewohnern, was religiösen Fanatismus und Aberglauben angeht, noch heute kein wesentlicher Unterschied besteht. Dagegen den eigentlichen und wertvollen Bestandteil der Religion, ihren sittlichen Kern, die Sätze: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Tue den andern nicht, was du selbst nicht gern hast!« beachteten sie wieder so gut wie nicht. Ihre Gesinnung ging nur aufs Äußerliche, das Beten zu Hause und in der Kirche; das genügte ihnen zur Befolgung der Gebote Gottes; wie sie dann in dem Kampfe ums Dasein fortkamen, war wieder eine Sache für sich. An Falschheit, Zank und Streit fehlte es unter ihnen nie. Ach, mir tat oft das Herz darüber weh.
Der Direktor Post, schon ein alter Mann, der aus Preußisch-Schlesien stammte, war auch höchst religiös. »Anstatt Sonntags zu Hause zu beten, wird in Gasthäusern herumgesoffen!« sagte er, als einmal Montags früh einer aus der Ziegelsetzerpartei fehlte und sich krank melden ließ. Unter diesen Verhältnissen durfte ich natürlich meine wahre Gesinnung nicht sehr zeigen, wenn ich die Arbeit nicht verlieren wollte. Und das war jetzt doch die Hauptsache.
Mit diesem Direktor kam ich ziemlich gut aus. Schon weil ich unter den Arbeitern der einzige war, der in der deutschen Sprache fortkonnte, mit dem er sich also unterhalten konnte. Und dann ließ ich mir auch in der Arbeit nichts zuschulden kommen. Als daher der Winter nahte, machte mir der Herr Post Aussicht, daß für mich auch den Winter hindurch ein bißchen zu tun wäre, und ich mir also keine andere Arbeit suchen brauchte. Mir armen abgetriebenen Gaul war das schon recht, und ich blieb. Zunächst war der Ofen in Ordnung zu bringen. Als dann diese Ofenarbeit kurz vor Weihnachten zu Ende war, grub ich wieder mit einigen Arbeitern Lehm. Dabei dachte ich, daß ich, weil es im Winter fünf Kreuzer für den Kubikmeter mehr gab, doch etwa wöchentlich noch sechs bis acht Gulden verdienen könnte. Aber die unbarmherzige Natur machte bald durch meine Rechnung einen tüchtigen Strich; es kam Frost. Nun mußte die gefrorene Erdkruste mit Eisenkeilen und Schlägeln losgerissen werden. Es kostete viele Mühe und Kraft, ehe wir einen Meter so losmachten. Drei bis vier Gulden, mehr konnten wir nun in der Woche nicht verdienen. Der schreckliche Gast, die Not, zog wieder in unsere Wohnung ein. Wir mußten wieder ausschließlich mit Brot, Kaffee und Kartoffeln fürliebnehmen; auch zu dieser Kost wollte es oft nicht langen. Als dann aber die Witterung ein bißchen milder wurde, und wir wieder mehr verdienen konnten, erkrankte ich auch noch und lag an Lungenentzündung und wer weiß was noch, sechs Wochen zu Hause. Und es gab nur vier Gulden und zwanzig Kreuzer wöchentliche Krankenunterstützung! Das reichte nun nicht einmal für die allerspärlichste Kost. Dabei hatten wir noch vier Gulden monatlich Miete zu zahlen. Und schon waren wir mit dem neugeborenen Knaben ihrer acht zum Essen!! Was war das für eine Zeit! Bei meinem Bruder Albert hatten wir zwar Kredit, aber man durfte dort auch nicht große Schulden machen, schon weil ja im Sommer wieder Kleidung, Geschüh und Wäsche angeschafft werden mußte, da das im Winter durchaus nie möglich war.
»Wenn aber die Not am höchsten, ist die Gotteshilfe am nächsten!« sagt ein altes Sprichwort. Meiner Frau wurde von einer Beamtenfamilie, die gleich neben uns wohnte, das Stillen ihres neugeborenen Kindes angeboten. Es widersprach durchaus meiner Überzeugung; es war eine neue Erniedrigung, daneben auch eine Unmöglichkeit, zwei Kinder gleichzeitig zu stillen. Auch war ich mir ganz klar, daß, wenn sie es täte, es jedenfalls für ihre Gesundheit schlimme Folgen haben konnte. Aber sie sollte zwölf Gulden monatlichen Lohn und auch noch die Kost dafür bekommen. Das war eine schöne Hilfe für uns in unserer bedrängten Lage! Schließlich übernahm sie also doch diese schwere Pflicht.
Dann, als ich mich von meiner Krankheit wieder ein bißchen erholt hatte, ging ich wieder in die Lehmgrube, mühselig, aber es ging. Bei Beginn der Kampagne kamen dann wieder die Schüttenhofer angerückt. Diesmal ließ mich aber der Audes nicht wieder mit anfangen. Warum, sagte er mir nicht. Nach meiner Ansicht, hatte er Angst um seinen Posten. Das war freilich eine lächerliche Sache! Hätte ich seinen Posten übernehmen wollen, wären mindestens achthundert Gulden dazu nötig gewesen, die ich doch nimmermehr hatte.
Ich erhielt auch gleich wieder andere Arbeit, und zwar an dem neuen Schulbau in Prödlitz, wo es freilich auch nur einen Gulden Taglohn gab. Deshalb wollte ich hier auch nur so lange arbeiten, bis ich etwas Besseres gefunden hätte, wo ich mehr verdienen konnte. Aber kaum hatte ich eine Woche hier an diesem Bau gearbeitet, da erkrankte wieder meine Frau. Die Folgen der Überanstrengung stellten sich ein. Sie ließ sich aus dem Türmitzer Kloster eine barmherzige Schwester kommen, aber deren Beten half durchaus nicht, und die Krankheit wurde immer schlimmer, so daß die Schwester es für gut hielt, schon den Geistlichen kommen zu lassen, um der Kranken für die bevorstehende weite Reise wenigstens die Fußsohlen einzuschmieren. Ich aber ließ von Türmitz den Arzt, Dr. Chwoika, kommen. Er konstatierte Lungenentzündung, Herzleiden und Wassersucht. Ach, das war für mich eine traurige Mitteilung! Ich gab aber die Hoffnung noch nicht auf und nahm nun den Bilz her, holte mir bei ihm Rat. Die geschwollenen Beine wurden nun bei Tag und Nacht in warme Umschläge eingepackt. Der fiebernde Körper, dessen Hitze schon weit über neununddreißig Grad gestiegen, erhielt so lange kühle Umschläge, bis die Wärme wieder normal geworden war; dann wurden wieder laue Umschläge gemacht. Alle Leinen- und Handtücher wurden herbeigeholt. Anstatt Wärmeflaschen, die ich nicht hatte, verwendete ich heiße Mauerziegel. Dann kamen Dampfbäder daran, auch nur sehr primitiv freilich, und Abwaschungen und Abreibungen. Ich hatte Tag und Nacht zu tun und ging gar nicht auf Arbeit. Die Schwester war unterdessen auch sehr fleißig. Während ich so hantierte und pfuschte, leierte sie ein Gebet nach dem andern herunter, bis sich die Kranke besserte. Und nach acht Tagen hatten wir sie wieder so weit hergestellt, daß sie in der Stube herumgehen, schon ein bißchen Essen kochen konnte, und ich also nicht mehr zu Hause zu bleiben brauchte. Aber die Arbeit auf dem Schulbau hatte ich nun verloren. Dafür kam ich schließlich beim Gebirgsverein an, und arbeitete vierzehn Tage auf der Ferdinandshöhe, wo dieser Verein das Restaurant, in dem ich einst auch gesprochen, und das er gekauft hatte, umbauen ließ. Und dann fing ich doch wieder in Tischers Ziegelei an, wieder als armseliger Ziegeleinkarrer.
Doch war auch das nicht lange. Plötzlich schien sich mein Schicksal bessern zu wollen, und das Glück lachte mich aus einem Weltwinkel an, von woher ich es gar nie geahnt hätte.
Eines Abends, wir wollten gerade recht lange arbeiten, dann im Schürhause nur ein bißchen schlafen und gleich früh um drei Uhr wieder anfangen, damit wenigstens zu den Pfingstfeiertagen etwas mehr Geld im Hause wäre, kam meine Frau in die Ziegelei und richtete mir aus, daß ich sofort zum Direktor Post nach der Ziegelei kommen solle. Ich ging, und er machte mir die Mitteilung, daß soeben bei ihm ein Ziegeleibesitzer von Ladowitz bei Dux, namens Schütze, gewesen wäre und gebeten hätte, ihm einen Meister für seinen Betrieb zu ermitteln, und nun gab er mir den Rat, gleich den nächsten Tag hinzufahren und mich um den Posten zu bewerben.
Ich wußte im ersten Moment nicht, wie mir geschah. Da mit so einem Posten ein besseres Leben verbunden war, lockte mich's ach so lieblich. Aber ich zögerte doch, weil ich mich im Ringofenbrennen nicht ganz taktfest fühlte. Was ich auch dem Post nun offen sagte. »Ach, was! Immer fahren Sie hinauf, und wenn Sie es kriegen, dann werde ich zwei Tage mit oben bleiben und Sie einrichten,« tröstete er mich und reichte mir seine Visitenkarte hin und ließ Herrn Schütze grüßen.
Der Herr Schütze nahm mich auch sehr freundlich auf, nachdem ich ihm die Visitenkarte abgegeben hatte. Und als ich dann um den Ziegelmeisterposten ansuchte, war er sofort bereit, mich aufzunehmen.
Der Anfangslohn betrug fünfzig Gulden monatlich, dazu Wohnung und Gebrenne frei. Später sollte ich um zehn Gulden monatlich mehr bekommen. Die Ziegelproduktion betrug rund vier Millionen jährlich. Es waren fünfzehn Ziegelmacherfamilien beschäftigt. Bei der Besichtigung des Betriebes fand ich, daß es alles Tschechen waren. Nach den Pfingstfeiertagen sollte ich den Posten antreten. Schütze klagte, daß das Brennen in seinem Ofen schlecht ginge, daß er deshalb nicht vorwärts käme, da die Ware nicht gut genug gebrannt würde. Das erschreckte mich. Das Einzige, was mir entsprach, war, daß ich keine Kaution zu stellen brauchte, wie es in den meisten Ziegeleien üblich war.
Pfingstsonntag fuhr ich noch einmal nach Ladowitz, und Herr Post mit mir. Wir hielten uns dort bis Nachmittag auf, und er klärte mich über alles auf: wie das Feuer zu halten und zu regulieren sei, und wie man sich hilft, wenn eine Stockung eintritt. Und er versprach mir auch, noch einmal herzukommen, um mir zu helfen, wenn es nötig sei, den Ofen wieder in richtigen Gang zu bringen. Ich zeigte mich aufrichtig dankbar für seine Liebenswürdigkeit und Opferwilligkeit. Phantastische Pläne und rosige Bilder machte ich mir freilich, trotz dieser Glückswendung, nicht mehr; darin wurde ich schon zu oft in meinem Leben getäuscht. Aber ich versprach mir doch nun ein leichteres und nicht mehr so kummervolles Leben, wie ich es bisher mit meiner Familie hatte durchmachen müssen.
Am Dienstag nach Pfingsten trat ich meinen Posten an. Der junge Herr Schütze, ungefähr einundzwanzig Jahre alt, führte mich im Geschäft ein.
»Wünsch gut Morn, Herr Meister!« kam bald da, bald dort, einer von meinen Landsleuten, den Ziegelmachern, ehrfurchtsvoll, in sklavischer Haltung, schüchtern und demütig zu mir, dem neuen Meister, dessen Familie selbst noch im Jammertale ächzte, herangekrochen, um mit mir ein Gespräch anzubandeln, wohl alle in der Absicht, sich bei mir gleich ein gutes Auge zu machen. Gar aber, als ich nachher mit dem jungen Herrn durch die Ziegelei ging, da kamen diese geistig und körperlich armen Teufel erst recht in einer Haltung wie ein Hund zu ihrem Herrn herangeschlichen: »Gut Morn, küß' die Hand, junge, gnädige Herr!« Und ebenso verhielten sie sich auch zum alten Herrn. Ich fühlte mich sogleich wie in einer anderen, freilich nicht besseren Welt. So schlimm, so gesunken hatte ich doch noch nie Arbeiter angetroffen. Ich empörte mich innerlich. Besser freilich wär's wohl gewesen, ich hätte es ähnlich so gemacht, da ich ja doch dem neuen Herrn für das bessere Leben, das ich nun haben sollte, danken mußte. Aber ich brachte es nicht fertig. Ich konnte den ehemaligen Bergwerksdirektor nicht anders wie Herr Schütze nennen. Ob ihm das gerade sehr recht war, wußte ich freilich nicht.
In derselben Woche noch kam auch meine Familie nach. Ich aber hatte Arbeit gerade genug. Früh um vier Uhr schon mußte ich nachsehen, ob die Kutscher alle im Stalle waren, die Pferde zu füttern und zu putzen. Dann ging es an den Ofen, und ich sah nach, in welcher Ordnung der Brenner nachts das Feuer gehalten hatte. Um fünf Uhr fingen schon die zwei Schmiede an zu arbeiten; ob sie es rechtzeitig taten, mußte ich auch wissen. Die Ziegelmacher hatten Akkord, nur um die brauchte ich mich also nicht zu kümmern; die waren von selber noch eher draußen wie ich. Um sechs spannten dann die Kutscher ein, ihre Fuhren mußten bis dahin geladen sein. Dann kamen mehrere fremde Fuhrwerke, die auch nicht lange warten wollten. Jedem, der fortfuhr, mußte ich einen Lieferschein ausfertigen. Dann mußten den vier Mann, die den Wintervorrat von Ziegeln machten, zwanzig Tausend und noch mehr abgezählt werden, damit sie von ihnen unter den Schuppen gefahren werden konnten. Der und jener kam sonst mit einem Anliegen. Einige arbeiteten auch in Lohn; denen mußte also vor allen andern Arbeit angewiesen und dann öfter nachgesehen werden, ob sie auch arbeiteten und wie viel sie schafften. Die Hauptsache aber, an der mir sehr viel lag, war der Ofen, den ich in richtigen Gang bringen wollte, damit die Ziegel ordentlich gebrannt werden konnten. Die Ziegelsetzer mußten deshalb die Ziegel im Ofen anders setzen, als sie es gewohnt waren und es ihnen anscheinend paßte. Deshalb war ich nie sicher, ob sie es auch nach meinem Wunsche machten, und mußte ich auch da immer hinterher sein. Und so war es auch mit den Brennern.
Die ganze erste Zeit stand ich bis zwölf Uhr nachts und noch länger an dem Ofen, schüttete mit Kohlen und regulierte das Feuer. Da kam einmal einer von den Einkarrern zu mir und steckte mir, daß die Setzer in der Rundkammer die Kanäle versetzt hätten, damit das Feuer nicht durch- und vorwärtskäme. Daß Leute so etwas zu machen fähig wären, daran zweifelte ich nach meinen Erfahrungen nicht, aber ich schenkte dem Manne doch nicht völlig Glauben, weil ich annahm, er wolle sich vielleicht bei mir nur einschmeicheln. Ich sagte also niemandem etwas, auch Schütze nicht, und wartete ab, bis wir mit dem Feuer in die Rundkammer kamen, dann mußte sich ja sofort zeigen, ob der Mann recht hatte. Und der Mann hatte recht. Als wir mit dem Feuer so weit kamen, blieb es stecken; wir konnten nicht vorwärtskommen, und wir blieben mit dem Brennen um eine ganze Schicht zurück, trotzdem ich die ganze Nacht mitarbeitete.
Schließlich war es mir aber doch gelungen, eine besser gebrannte Ware herzustellen, als die war, wie ich sie bei meiner Ankunft vorfand. Ich erreichte also, was von einem Fachmann gefordert wird. Und ich nahm nun an, daß ich damit den Chef von meiner Fähigkeit überzeugt hätte, und daß ich somit fester stünde als anfangs.
Der strengste Tag war immer der Freitag, wo die fertigen Ziegeln von den Ziegelmachern übernommen werden mußten. Die wöchentliche Produktion betrug bei schöner Witterung zweihunderttausend Steine. Man mußte von einem Ziegelmacher zum andern, um die fertige Ware nachzuzählen. Spät in der Nacht wurde ich dann gewöhnlich erst mit der Lohnliste fertig.
Drei Wochen waren inzwischen vergangen. Alles ging gut und glatt. Keiner von den beiden Herren machte Ausstellungen, daß ihm das oder jenes nicht recht wäre. Und ich hoffte das Beste!
Eines Tages kam ich ins Kontor. Der alte Herr saß allein drin. Als er mich dann über Verschiedenes im Betriebe ausgefragt hatte, trat er näher zu mir, sein Blick schien mir zwar mitleidig, aber aus seinem Munde kamen Worte, durch die ich so betroffen wurde, daß mir schwindelte. »Hören Sie, Meister! Mit uns beiden wird es wohl doch nicht gehen,« sagte er langsam, als wäre er doch noch nicht recht schlüssig über das, was er wollte. »Weshalb denn, Herr Schütze? Haben Sie vielleicht an der Ware noch etwas auszusetzen?« »Das nicht! Aber sehen Sie, Sie sind mit den Leuten zu gut. Und Sie werden auch nicht anders. Denn das liegt offenbar so in Ihrer Natur. Mit diesen Menschen muß man energisch umgehen. Wenn die nicht angeschnauzt werden, da haben sie keinen Respekt und machen was sie wollen.« »Bitte, Herr Schütze! Nach meiner Ansicht genügt es, wenn man es ihnen ein-, zweimal nachdrücklich sagt. Hört einer dann nicht, so muß man ihn vor die Wahl stellen, entweder die Arbeit zu verlassen oder die Anordnungen zu befolgen.« »Das zieht nicht. Für so etwas haben die Arbeiter keinen Begriff. Die Leute haben mir selbst gesagt, daß Sie ›dumm‹ sind. In meinen Augen sind Sie zwar nicht dumm, aber zu gut!«
Der alte Herr hätte aber doch vielleicht noch Nachsicht gehabt und hätte mich weiter behalten. Aber mit dem jungen Herrn war nicht zu reden.
So stand ich wieder draußen, und noch dazu in der Fremde, mit meiner Familie, ohne Arbeit, ohne Geld. Ich und meine Frau, wir weinten wieder einmal wie Kinder. O, hätte ich doch nur so viel Mut gehabt, um uns alle umzubringen! Was sollte man noch da auf der Welt, wenn ein Mißerfolg, ein Unglück nach dem andern einen traf?
Mein Vorgänger war auf diesem Posten ein Jahr lang gewesen, und der Schütze war mit ihm zufrieden, wie er mir selbst gesagt. Er gab aber den Posten trotzdem freiwillig auf, weil ihn die Arbeiter wegen seines energischen Vorgehens schon mehrmals verprügelt hatten, das letztemal gleich so, daß er mehrere Wochen bettlägerig gewesen war. Dieser Meister soll, wie ich später erfuhr, den Posten auch am längsten bekleidet haben von allen, die schon bei Schütze gedient hatten. Und mein Nachfolger hielt dann auch nicht lange aus.
Glücklicherweise fand ich wenigstens gleich wieder andere Arbeit. Natürlich nur wieder als Ziegelarbeiter, in Hockes Ziegelei, ebenfalls hier in Ladowitz, und eine Wohnung / in der Kaserne! Nun fuhr ich wieder wochenlang Ziegel, Ziegel, Ziegel. Aber auch diese Arbeit hing sehr von der Witterung ab. Manche Tage war viel zu tun, dann wieder weniger oder gar nichts. Meine Frau half mir zwar die Karren laden, aber wir verdienten doch wieder nur so viel, daß wir unser Leben nur ganz notdürftig durchschleppten. So schlecht war es, daß wir uns jeden Morgen auf das, was wir tags vorher verdient hatten, Vorschuß holen mußten, weil wir das letzte Geld, das wir noch gehabt, dem Bauer für den abermaligen Umzug hatten geben müssen. Wenn dann der Lohntag kam, kriegte ich nur wenig Geld noch heraus. Und schon Montag oder Dienstag mußte ich von neuem Vorschuß holen. So ging das von einer Woche zu der andern.
Der Hocke hatte in der Ziegelei selbst einen Kaufladen und eine Kantine; aber es wurde niemandem geborgt. Ich hörte aber gleich die ersten Tage von den Arbeitern, daß, wenn jemand, der in der Ziegelei arbeitete, wo andershin einkaufen gehe, er bald hinausflöge.
Es ging uns also herzlich schlecht. Und doch waren wir froh, daß wir hier noch Unterkunft gefunden, und daß wir wenigstens etwas zum Leben hatten. Wie es weiter werden würde, wußte ich freilich nicht, und wo ich mit meiner Familie zum Winter sein würde, auch nicht. Denn in diesem Betriebe schien für mich keine Aussicht auf Winterarbeit zu sein. Übrigens machte ich mir in meiner Mutlosigkeit auch schon gar keine Pläne mehr. Mir war nun alles egal, ganz gleich, was und wie es weiter kommen werde. Ich ging schwermütig, zerstreut und niedergeschlagen umher. Die Arbeit und alles was ich ansah, verdroß mich höchst. Und manchmal, wenn ich mir doch wieder alles überlegte, und mein Gehirn dabei lange genug geplagt hatte, so daß es die Schwäche erfaßte, da griff ich wieder nach dem heilbringenden Helfer: Alkohol, Schnaps! Ach, da zerstreuten sich die sorgenvollen Gedanken, und ich fiel einmal in tiefen Schlaf und war glücklich.
Meiner Frau Laune war auch nicht besser. Sie machte mir zwar keine Vorwürfe, sie wußte ja, daß ich das Beste für uns alle wollte; aber ich sah es ihr an, daß sie es jetzt bereute, daß sie mich kennen gelernt und sich ins Unglück gestürzt hatte. Dies setzte noch dem Elende die Krone auf. Diese Erkenntnis schmerzte mich am meisten. Meine Erbitterung stieg noch mehr. Wenn sie dann manchmal gar so sehr klagte und jammerte, da wirkte das auf mich, als schüttete sie Öl aufs Feuer; es fiel mir nun alles noch schwerer, ich wurde böswillig und zornig. Das aber machte sie nicht höflicher, und da geschah das, was wir wohl beide nicht wollten, und was unter günstigeren Verhältnissen zwischen uns wohl nie vorgekommen wäre: ich vergriff mich auch an ihr. Eine Verzweiflung sollte eben die andere bändigen.
Eine große Last fiel uns vom Herzen, als ich dann doch noch als Ziegelsetzer in den Ringofen eingestellt wurde und wenigstens eine, wenn auch bitterschwere, so doch sichere Arbeit den ganzen Winter über hatte. Als Setzer hatte ich Tag für Tag gleiche Arbeit und auch den gleichen und festen Verdienst. In den ersten Wochen verdiente ich doch noch zwölf, später zehn und im Winter dann wenigstens sieben oder acht Gulden wöchentlich. Das Setzen und Brennen dauerte diesen ganzen Winter hindurch bis Mitte März, und dann ging schon wieder das Ziegelmachen wenigstens mit der Maschine los.
Denn diese Ziegelei arbeitete auch schon mit Maschinen. Sie ist die größte von allen, in denen ich bis heute gearbeitet habe. Die Produktion soll sieben bis acht Millionen Stück jährlich betragen haben. Außer der Ziegelpresse, mit der täglich bis 32 000 Stück gemacht wurden, waren noch über zwanzig Familien bei der Handstrichproduktion tätig. Sie machten das Tausend Ziegel hier gar um siebzig Kreuzer billiger als die Ziegelmacher in Aussig. Trotzdem bekamen sie weder freie Wohnung noch auch frei Gebrenne, wie es sonst überall üblich war. Auch das mußten sie dem Hocke bezahlen. Für die fertige Ware mußten sie von Freitag bis Freitag haften; erst danach wurde sie von jenem übernommen. Inzwischen wurden die Ziegel auf Plätzen unter freiem Himmel geschlagen, und wenn es zum Aufsetzen kam, so wurden sie ebenfalls im Freien in Stöße gesetzt und mit Schindeln abgedeckt. Vor der Übernahme wurde ihnen nicht der geringste, etwa durch Regen entstandene Schaden ersetzt.
Es gehörten zu dieser Ziegelei gegen sechzig Wohnungen, alles natürlich nur einzelne Stuben. Ich wohnte in dem Hause, das gleich gegenüber dem Ringofen stand. Unser bißchen Kram, zwei Betten, ein Schrank, ein Tisch, drei Stühle und eine Ofenbank brachten wir auch hier nur knapp in diese Stube hinein. Die Miete dafür war allerdings nicht hoch, nur einen Gulden und fünfundsechzig Kreuzer in vierzehn Tagen, die uns immer gleich vom Lohne abgezogen wurden. Wer die Stube geweißt und den Ofen repariert haben wollte, der mußte es sich ganz einfach für sein Geld machen lassen. Sämtliche Arbeiter waren Tschechen; nur sechs Mann von ihnen waren Deutsche. Unter ersteren waren viele, die nur einen Tisch, eine Bank und Strohsäcke, je nach der Zahl der Familienglieder, hatten; ja, manche begnügten sich auch nur mit Strohsäcken. Das Leben dieser Menschen glich schon bald dem der Abraumleute, das ich damals als zwölfjähriger Junge in der Abraumkolonie vierzehn Tage lang mit durchmachen mußte. Und also war ich beinahe wieder so tief unten wie damals.
Der Hocke war sogar selbst, wie man wenigstens allgemein hörte, ein ehemaliger Partieführer vom Kohlenabraum. Einige ältere Arbeiter erzählten mir, daß sie mit ihm noch dort zusammen gearbeitet hätten, nachdem er vom Eisenbahnbau weg nach Dux angewandert gekommen. Er hätte sich aber bald emporgearbeitet bis zum Partieführer. Als solcher verdiente er dann wie alle so viel Geld, daß er diese Ziegelei kaufen konnte. Die Arbeiter nannten ihn nun gnädiger Herr. Und seine Frau und sein Sohn Anton waren nun auch die gnädigen! Gerade die Arbeiter aber, die sich dem Herrn gegenüber am meisten untertänig gebärdeten und ihren Mund immer voll des Wortes gnädig hatten, erzählten dann hinter seinem Rücken die ruchlosesten Sachen von ihm, so, wie er sich hauptsächlich durch die Geschicklichkeit und Schönheit seiner Frau emporgebracht hätte. Die paar Deutschen, die da arbeiteten, muß ich mir dagegen doch loben. Ich sah an ihnen wieder, daß ein Deutscher, und wenn er politisch und sonst auch nicht aufgeklärter wie der Tscheche ist, doch keinen solchen demütigen, sklavischen Charakter besitzt wie wir Tschechen. Nicht ein einziges Mal hörte ich von ihnen gnädiger Herr oder gnädige Frau zu Hockes sagen.
Stolz waren die Hockes trotzdem nicht gerade. Sie behandelten uns Arbeiter nicht grob, aber kurz und gleichgültig. Es herrschte sonst volle Freiheit. Jeder konnte, wenn eine Stelle frei war, anfangen und auch wieder, wenn er wollte, gehen. Es war hier, wie wir sagten, ein reiner Taubenschlag. Auch ob jemand viel fertig brachte oder nicht, war egal; es geschah ja alles in Akkord, und wie viel er eben gemacht hatte, so viel bekam er bezahlt.
Als ich mich einmal gegen einen deutschen Kollegen, Kornhäuser mit Namen, der schon das zweite Jahr hier war, wunderte, wie das hier so zugehe, und was für eine Sorte Menschen sich eigentlich da befinde, lachte er, und gab mir zur Antwort: »Das ist noch gar nichts, mein Lieber, später kommt noch eine ganz andere Sorte, Hausierer, Komödianten und auch Zigeuner, in die Wohnungen! Da wirst du noch mehr erleben!« Und wirklich! Als das Ziegelmachen, das Hopfenpflücken und die Zuckerrübenkampagne zu Ende war, kamen sie nacheinander angerückt, um die nun leeren Wohnungen zu beziehen. Unter ihnen waren besser und schlecht Gestellte; das unterschied man schon an ihren Wanderwagen. Manche hatten einen größeren mit einer hübschen Plane, die andern nur einen kleinen, mit groben Säcken zugedeckt. Sie besetzten bald alle die Wohnungen, die die Wanderziegelmacher vor kurzem verlassen hatten, um nach Hause zurückzukehren. Dieses neue Wandervolk, mit angeborener Kleptomanie behaftet, lehrte uns, alles hübsch unter Aufsicht zu halten. Für Hocke war Hauptsache, daß sie die Miete bezahlten; das übrige rührte ihn nicht. Wie ich hörte, mußten sie die Miete für die Zeit, die sie dableiben wollten, stets im voraus bezahlen. Ihre Beschäftigung war Handel mit Schnürsenkeln, Knöpfen und ähnlichem, oder sie gingen gar in die Umgebung betteln.
So verbrachten wir wieder einen Winter wenigstens leidlich, wenn auch lange nicht sorgenlos, und keinesfalls eines Kulturmenschen würdig. Geistige Interessen konnte ich schon längst nicht mehr pflegen. Auch geistig fing ich an, zurückzugehen. Indessen, ich brauchte aber doch den Kummer nicht mehr zu haben, meine Familie hungern zu sehen; brauchte nicht mehr verzweifelt zu fragen, was wir morgen zu essen haben würden. Zu Brot, Kartoffeln und Kaffee langte es im schlimmsten Falle doch stets. Kohlen hatten wir hier auch umsonst, denn wir schliefen ja am Kohlenrevier, man brauchte sie also nur aus der Lettenhalde am Kohlenschachte zusammenzulesen und nach Hause tragen. Das besorgte meine Frau treulich. Sie schleppte auf ihrem Rücken den ganzen Kohlenvorrat nach Hause, den wir im Winter zum Kochen und Wärmen brauchten.
Wie dann im Frühjahr das Ziegelmachen abermals losging, stieg auch mein Verdienst wieder höher. Wir Setzer hatten für eine Ringofenkammer je einen Gulden Lohn, und wir machten dreizehn bis vierzehn Kammern wöchentlich, von sechs bis sechs Uhr abends. Dies neue Jahr aber waren viel weniger Ziegelmacher eingestellt als im vorigen.
Meiner tapferen Frau, die auch wieder gerne mitverdient hätte, fiel es ein, nun auch das Ziegelmachen zu lernen. Sie ließ sich vom jungen Herrn einen Ziegelplan anweisen und fuhrwerkte los. Ich mußte ihr natürlich nach Feierabend den nötigen Lehm zuschicken, weil sie zu dieser Arbeit zu schwach war. Die ersten Tage brachte sie ja nicht viel fertig, zwei- bis dreihundert, und so machte sie auch mir nicht gar viele Mühe. Ihre Leistung stieg aber von Tag zu Tag; sie war schließlich in das Ziegelmachen wie verbissen, und ich kam immer strenger dran. Schließlich machte sie zehn- bis zwölfhundert Stück fertig. Für ein Tausend gab's zwei Gulden und vierzig Kreuzer! Nun mußte ich schon früh um drei oder halb vier Uhr in der Lehmgrube sein, um den Lehm, den ich mir auch noch stets am Abend zuvor wässern mußte, durchzuhacken und auf einen Haufen neben dem Ziegeltisch zu bringen. Dann warf ich, ehe ich an meine eigne Arbeit ging, auch noch den Tisch voll fertigen Lehm. Manchmal blieb dann nicht so viel Zeit mehr übrig, um zu frühstücken, wenn die Pfeife vom Wilhelmschachte sechs Uhr pfiff, wenn dann meine Kollegen schon zu arbeiten anfingen, dann mußte eben schnell das Brot in Bissen geschnitten und während der Arbeit gegessen und dazu der Kaffee schluckweise getrunken werden, während der zweiten Frühstückspause tischte ich dann auch erst wieder Lehm auf und verzehrte erst danach mein Brot und meinen Kaffee. Und zur Vesperpause ging's wieder so. Abends mußte dann auch noch Lehm von der Wand losgehackt und gewässert werden. Und schließlich mußten auch die abgetrockneten Ziegel vom Platze aufgeräumt und in Stoß gesetzt werden. Es wurde neun und oft zehn Uhr abends, ehe alles in Ordnung war. Ja, auch unsere Kinder, die schon einen Ziegel erschleppen konnten, mußten nun auch beim Aufräumen mit helfen, obwohl ich mir das doch einst verschworen hatte! Sonntags war auch immer zu tun. Nur wenn es regnete, gab es wenigstens für die Ziegelmacher einmal Feiertag. Im Ofen aber arbeiteten wir auch da fort. Und auf diese Weise war es uns schließlich möglich, in den Sommerwochen den Kindern und uns selbst wieder einmal das notwendigste Schuhwerk, Kleidung und Wäsche anzuschaffen. Das Schlechteste war nur immer, daß die Hockes in ihrem Laden alles teurer als andere Kaufleute verkauften und ihre Waren dabei lange nicht so gut waren wie wo anders. Man war aber eben gezwungen, bei diesen dreifachen Ausbeutern einzukaufen.
Ungefähr Ende Juli machte die Natur den Ziegelmachern einen bösen Strich durch ihre Rechnung. Eines Mittwochs nachts fing es plötzlich stark an zu regnen, und es regnete bis Freitag vormittag. Es war für uns arme Teufel alle ein verhängnisvoller Regen, weil jeder Ziegel von mindestens fünf Arbeitstagen auf dem Platze liegen oder stehen hatte. Es waren Familien darunter, die, als der Regen begann, zehn- bis fünfzehntausend Stück fertig hatten. Und nun? Nun standen diese Männer, Frauen und Kinder auf allen Lehmwänden umher, einen Sack oder sonst was über den Kopf geworfen, und schauten zu, wie der Regen ihre mehrtägige Arbeit vernichtete. Die noch auf den Plätzen liegenden zerweichte er und die in den Stößen fielen um, wenn die unteren Schichten von dem heranschlagenden Regen ganz durchnäßt waren. Die Frauen jammerten und weinten, die Männer fluchten, manche aber spotteten über die Weisheit Gottes und das Glück Hockes. »Der eine vernichtet unsere mühevolle Arbeit, und der andere braucht uns dafür nichts zu geben. So sind wir von allen Seiten geschlagen!« meinte zornig ein Prager Ziegelmacher. Und nach diesem großen Regen wurde das Ziegelmachen gleich ganz eingestellt. Jeder konnte sich nun wieder eine andere Arbeit suchen.
Auch meine Stellung hier schien mir nun für den künftigen Winter unsicher zu sein. Erstens war in diesem Sommer schon infolge der geringeren Anzahl der anwesenden Ziegelmacher weniger fertig geworden, und dann wurde durch den großen Regen das frühe Ende der Saison, die Produktion, um acht Wochen gekürzt. Nach dem Wintervorrat, der dastand, rechnete ich, daß wir höchstens bis zu Weihnachten würden arbeiten können, und daß ich dann auch ohne Arbeit hier läge. Was dann in dieser Wüste tun? In eine Kohlengrube zu gehen, konnte ich meiner schlechten Augen wegen nicht wagen, und Fabriken befanden sich fast keine da. Der gute Rat war wieder einmal teuer.
Nun hatte mein Bruder Albert gerade dies Jahr in der Richterschen Ziegelei in Prödlitz an des Audes Stelle die Ziegelproduktion akkordiert, und als ich ihn damals in meiner Not besuchte und ihm meine unsichere Lage mitteilte, riet er mir, wieder hier eine Wohnung zu mieten; bei ihm hätte ich ja den ganzen Winter über Arbeit. Er meinte, daß die Ofenarbeit sicher bis zu Weihnachten dauern würde, dann wäre noch Ordnung im Betriebe zu machen, und schließlich ließe er mich allein den Ringofen auskarren. Damit aber brächte ich wieder so lange zu, bis das Ziegelmachen von neuem angefangen würde. Sein Vorschlag gefiel mir, ich sah in ihm meine Rettung vor den Nöten des nahenden Winters. Denn im Winter wieder ganz arbeitslos sein und wieder mit der Familie hungern, davor schauderte mir, wenn ich nur von ferne daran dachte. Auch meine Frau, der ich mein Vorhaben dann mitteilte, wendete nichts ein, sie hielt es auch für besser, ehe es zu spät sei, von Ladowitz fortzukommen. So legte ich denn eines Samstags die Arbeit nieder. Der junge Hocke wunderte sich aber doch, daß ich so ohne Ursache die Arbeit aufgäbe.
Am zehnten Oktober verließ ich Ladowitz und fing nun wieder in Richters Ziegelei, wieder als Auskarrer, zu arbeiten an. Meine Familie blieb so lange in Ladowitz, bis ich eine passende Wohnung gefunden hätte. Ich selbst wohnte bei meiner Mutter, die auch in der Ziegelei war. Sie kochte da für die Arbeiter und führte die Kantine. Sonst waren die Verhältnisse hier immer noch dieselben, wie ich sie vor zwei Jahren verlassen hatte. Die Arbeiter von Schüttenhofen und auch der Direktor Post waren noch alle da. Der letztere hatte in der letzten Zeit ein Magenleiden bekommen und schlich kränkelnd umher.
Schließlich fand ich auch noch eine kleine Wohnung in Türmitz, die nur zwei Gulden und fünfzig Kreuzer monatliche Miete kostete. Als wir dann einzogen, brachten wir wieder kaum unsere paar Möbel hinein. Die Decke des Stübchens war noch niedriger als alle früheren, das Häuschen vielleicht schon hundert Jahre alt. Auch seine Fenster waren sehr klein. Unser einziges Fensterchen bot uns die Aussicht in den ein paar Schritte entfernten Friedhof. Es war eine Wohnung für die ärmsten der Armen!
Da kam alsbald ein neuer Schlag und traf uns schwer. Die Krankheit des Direktors verschlimmerte sich nämlich sehr schnell, so daß er schließlich seinen Posten nicht mehr versehen konnte. Er kündigte schon bald nach meinem Antritt, um wieder in seine Heimat zu gehen, wo er seine letzten Tage in Ruhe zubringen wollte. Und eben diese unverhoffte Änderung verdarb uns, mir und meinem Bruder, den uns im voraus gemachten Plan. Denn nun mußte schon bis zum neuen Jahr der Ofen leer und alles übrige in Ordnung sein. Und als dann alles so weit fertig war, und mein Bruder von neuem für das nächste Jahr den Vertrag schließen wollte, kam dieser mit Richter nicht zustande. Nun traf mich doch das, was ich so sehr gefürchtet, und wegen dessen ich von Ladowitz ausriß. Ich stand wieder vor dem verhaßten Gast / der fletschenden Not! Ehe aber die Arbeit zu Ende war, fiel mir die letzte Woche von der oberen Stoßschicht im Ofen auch noch ein Ziegel auf den Fuß, und traf mich so heftig, daß ich am nächsten Morgen am Stocke in die Arbeit gehen mußte. Dort schwoll der Fuß immer mehr an, und ich mußte mich mit Gewalt zwingen, um bis abends auszuhalten. Den folgenden Tag früh konnte ich nicht mehr auf den Fuß auftreten; ich mußte mich krank melden. Ziemlich drei Wochen brachte ich an diesem Unfall zu Hause zu. Meine Frau bemühte sich inzwischen doppelt, etwas zu verdienen. Sie wusch Wäsche, räumte Mistgruben aus, kurz, sie machte alles, was ihr jemand anbot, und was ihr einen Verdienst versprach. Wir waren schon beide so abgehärtet, abgestumpft und verschreckt, daß wir unser Schicksal einfach so hinnahmen, wie es eben kam. Als ich dann wieder gesund war, ging ich wohl sofort wieder Arbeit suchen, aber ich hatte wieder kein Glück, ich kam immer zu spät; es war überall alles besetzt.
Damals schrieb ich eines Tags für meinen Bruder Gottlieb, den Glasmacher, einen Brief wegen einer Glasmacherstelle an die Dresdner Glasfabrik, vormals Siemens. Er hatte zwar die Schule bis zu vierzehn Jahren besuchen können, aber doch viel weniger gelernt wie ich. Bei dieser Gelegenheit frug auch ich an, ob auch für mich etwa dort Arbeit vorhanden wäre. Die Antwort lautete für uns beide günstig. Wir konnten beide kommen.
Meine Frau suchte nun die letzten Kreuzer zusammen, damit ich nach Dresden fahren konnte. Mein Bruder fuhr schon den Tag vorher. Schweren Herzens schied ich von meiner Familie, in dem Bewußtsein, daß ich sie unversorgt, halb hungrig verlassen mußte. Daß ich selbst hungerte, tat mir nicht so weh. Unter dem Gedanken, was sie essen, wie sie leben werden, schritt ich, von meiner Frau begleitet, dem Bahnhofe zu, behielt aber meine sorgenvollen Gedanken bei mir. Ich wollte wenigstens ihr das Leben nicht noch mehr verbittern und schwerer machen. Auf dem Bahnhofe erfuhren wir auch noch, daß mein Reisegeld nicht auslangte. Zum Glück befand sich gerade der gräfliche Obergärtner da, den meine Frau und der sie gut kannte. Sie sprang hin zu ihm und bat ihn, ihr zwanzig Kreuzer zu borgen, was er bereitwilligst auch tat. Dann kam das rasende eiserne Pferd herbei, und wir mußten uns trennen. Sie schluchzte, in ihren Augen standen Tränen, und mich erfaßte innerer Schmerz. Ein heißer Händedruck noch, dann schlüpfte ich in das Coupé, die Maschine fing an zu keuchen, und fort ging es mit mir, dem gesellschaftlich Exulierten, aus dem stiefmütterlichen Vaterlande in die Fremde. Wie mochte aber dem heimkehrenden Weibe zumute sein?
Als ich in Dresden ankam und mich in der Glasfabrik dem Inspektor vorstellte, maß er mich mit seinen Blicken von unten bis zum Kopfe und frug mich dann: »Haben Sie schon in einer Glasfabrik gearbeitet?« »Ja, in Aussig.« »Was haben Sie dort gemacht?« »Ich bin Kohlenschieber und auch Schürer gewesen!« »Hier wird wohl die Arbeit am Ofen schwerer sein. Getrauen Sie sich, die zu machen?« »Ich werde es wohl aushalten!« »Dann können Sie gleich heute abend um sechs anfangen!« Er gab mir dann noch ein Exemplar des Krankenkassenstatuts und der Arbeitsordnung und redete von siebzehn Mark Lohn und einer wöchentlichen Prämie, mit der ich zusammen neunzehn Mark verdienen sollte. Ich war froh, daß ich Arbeit hatte, war mit allem zufrieden und wendete gar nichts ein.
Ich kam zum Gaserzeuger einer Glaswanne als Kohlenschieber. Von sechs bis acht Uhr hatte ich schon von einer Lori Kohlen abgeladen und sie an die Schüttkästen des Gaserzeugers geschaufelt. Diese Arbeit war mir nicht fremd. Nach der halbstündigen Pause / ich hatte mein trocknes Brot, das ich noch von zu Hause mitbrachte, seitwärts von meinen Kollegen in einer Ecke verzehrt, um nicht ausgelacht zu werden / wurde ich in den Kanal geführt, wo mir etliche unter der Feuerung noch glühende Schlackenhaufen gezeigt wurden, die ich mit einer Blechkarre hinaus auf die Halde fahren sollte. Die Karre kam mir sehr schwer vor, besonders dann, wenn sie voll war, aber ich nahm alle meine Kräfte zusammen, legte mich mutig ins Zeug und schob eine volle Karre nach der andern keuchend durch den niedrigen, schmalen und aufsteigenden unterirdischen Gang, auf die draußen liegende Halde. Unterwegs mußte ich öfters absetzen, der Gegenzug trieb mir die aus der Asche steigenden schwefligen Gase ins Gesicht, das Atmen wurde erschwert, und starkes Husten folgte. Schweiß rollte am Körper herunter. Nach jeder Karre, die ich hinausgefahren hatte, spürte ich, wie meine Kräfte abnahmen; es ging immer mühsamer. Zwanzig Karren ungefähr hatte ich hinausgeschafft, dann wurde mir übel und schwindlig, ich blieb immer längere Zeit auf der Karre sitzen, den Kopf auf die Hände stützend. »Na, du fauler Hund! Bist du bald fertig?« schrie mich da einer von meinen Kollegen an, der nachsehen kam, wie weit ich mit meiner Arbeit wäre. Er brachte mich mit seinen liebenswürdigen Worten wieder ein bißchen zu mir. Noch einige Karren fuhr ich hinaus, dann aber konnte ich schlechterdings nicht mehr weiter.
Wie spät es war, wußte ich nicht. Ich rechnete drei Uhr nach Mitternacht. In einem Winkel dieser unterirdischen Höhle sank ich erschöpft nieder. Der Schlaf zog mir die Augen zusammen, und doch schlief ich nicht ganz ein, hunderterlei trübe Gedanken ließen mir keine Ruhe. Ich sann wieder über mein Elend nach. Alle meine Gedanken waren bei der Familie.
Der Inspektor hatte recht gehabt. Die Arbeit hier an dem Ofen war schwerer als in Aussig. Und doch hatte ich in meinem Leben schon noch schwerere Arbeit geleistet, als diese war. Nun aber konnte ich, trotz meines guten Willens, trotzdem mich die Not zwang, meine Pflicht zu tun, nicht mehr. Ich ließ die Arbeit unvollendet liegen. Ich war zu elend, zu ausgehungert und kraftlos geworden.
»Was kauerst du dich hier umher, schau, daß du heimkommst!« brüllte da plötzlich jemand vor mir. Ich erwachte aus meiner Melancholie, guckte auf, es war einer, den ich nicht kannte. »Wie spät ist es?« frug ich ihn schüchtern, »Halb sieben!« Die Nachtschicht war also lange zu Ende.
Langsam kroch ich aus dem Kanale heraus und schleppte mich wie ein Kranker in das Haus Nummer 7 auf der Hohenzollernstraße. Dort haben wir uns, ich und mein Bruder mit seiner Frau, einstweilen bei der Frau Tutschek, deren Sohn auch ein Glasmacher war, aufgehalten, bis mein Bruder eine Wohnung fand. Die Tutscheks kannten wir von Aussig her. Die Frau war auch nicht überflüssig eingerichtet und hatte auch mehrere Kostleute, die je zu zwei in einem Bett schliefen. Ich wälzte mich in einen Winkel in der Kammer, zog mich nicht erst aus, benutzte meinen kurzen Winterrock als Kopfkissen und schlief dann sanft, bis mich die Kälte wieder aus meinem Schlafe aufstörte. Ich zitterte am ganzen Körper und klapperte mit den Zähnen. Zwei Stunden mochte ich aber doch so geschlafen haben.
Nachmittags zog mein Bruder in seine neue Wohnung auf der Zietenstraße, die ihm von der Fabrik aus gemietet wurde. Ich griff beim Umzug mit zu, wo es nötig war. Abends ging ich dann wieder in die Schicht mit dem festen Vorsatz, es noch einmal zu versuchen, bei der Arbeit auszuhalten. Denn ich wußte zu gut, daß, wenn ich diese Arbeit verlöre, ich nicht sogleich andere wieder finden würde, besonders bei der grimmigen Kälte, wo alles eingefroren war. Hätte ich Geld gehabt, da hätte ich mir freilich auch Rat gewußt. Ein halbes Liter Schnaps als Einstand in die Partie, das hätte mich vielleicht noch retten können. Die Kollegen hätten mir dann wohl geholfen beim Aschefahren, oder hätten mich andere Arbeit machen lassen. Ich wußte aus Erfahrung, daß ein neuer immer zur schlechtesten Arbeit hingestellt wird.
Wie ich es voraussetzte, so geschah es auch. Ich mußte wieder in den Kanal hinuntergehen und Asche fahren. Es ging mir wieder so, ja sogar noch schlechter, als in der vorigen Nacht. Meine Kräfte ließen schnell immer mehr nach, bis ich in der Mitternachtspause wieder todmüde sitzen blieb. Meine Arbeitskollegen schimpften, höhnten und spotteten über mich. »Du bist ein Scheißkerl!« lachte einer. »Ach, ein fauler Hund ist es, er will nicht arbeiten!« sagte ein zweiter zornig. »Ja, ja, mein Lieber! Hier kriegt man das Geld nicht umsonst! Da heißt es schuften!« meinte der dritte mit schadenfroher Miene. Ich zog mich an und ging wieder nach Hause.
Früh um sechs Uhr war ich schon wieder in der Hütte und bat den Inspektor um andere Arbeit, aber umsonst. »Andere Arbeit habe ich keine, wenn Sie nicht am Ofen bleiben wollen!« sagte er lakonisch und ging wieder weiter, mich stehen lassend. Geld bekam ich für das, was ich gemacht hatte, keins.
Ich ging dann noch acht Tage lang in Dresden und Umgebung umher, suchte sämtliche Steinbrüche, Ziegeleien und auch viele Fabriken auf. Mein Bruder hatte mit mir Mitleid und gewährte mir während dieser Zeit die Kost, weil ich selbst kein Geld hatte. Dabei nahm ich freilich peinlich Rücksicht auf seinen Geiz, und schränkte meinen Magen soviel wie möglich ein. Ich war zufrieden, wenn ich früh Kaffee und trocknes Brot zu essen hatte und mir eine Schnitte, mit Salz bestreut, auf die Arbeitsuche mitnehmen konnte, und wenn ich abends zurückkehrte, machte ich wieder keine andern Ansprüche wie des Morgens. Aber mein Umherrennen zählte nichts. Überall, wo ich wegen Arbeit anfragte, hieß es: »Besetzt!« oder »Später!« In Königsbrück sollte, wie ich erfahren hatte, Arbeit an der Eisenbahn sein. Es war mir aber zu Fuß zu weit.
Nach einer Glasmacherversammlung, die am Sonntag stattfand, und die ich besuchte, traf ich einige mir bekannte Glasmacher, die mir, nachdem ich ihnen meine Lage schilderte, eine Unterstützung von einer Mark und siebzig Pfennigen zusammensteuerten. Ich fuhr gleich den nächsten Tag nach Königsbrück. Auch diesen Weg mit seinen Auslagen machte ich umsonst. »Bis später!« sagte mir der Schachtmeister. Dann erst entschloß ich mich, nach Hause zurückzukehren. Meine Frau hatte mir während der Zeit schon zweimal geschrieben; sie wurde ängstlich, daß mir etwas zugestoßen sein könnte, weil ich selbst gar nichts von mir hören ließ. Was sollte ich aber schreiben? Etwa mein Elend berichten und sie in noch größere Verzweiflung treiben? Ich schrieb lieber gar nicht.
Nächsten Tag früh machte ich mich marschfertig. Bevor ich von der Schwägerin und meinem Bruder Abschied nahm, bat ich ihn, mir noch dreißig Pfennige zu borgen; ich hatte selbst nur noch etwa zwanzig. »Hm, kannst ja unterwegs fechten gehen!« antwortete er mir trocken.
Von Leid ergriffen trat ich den langen Weg an. Um sechs Uhr war ich schon am Hauptbahnhofe und wollte denselben Tag am Abend nach Hause kommen. Es ist dann ein schöner sonniger Tag geworden. Die Kälte hatte nachgelassen, und es strich ein so warmes Lüftchen, daß ich sogar meinen Winterrock ausziehen mußte. Auf dem Wege nach Pirna versuchte ich es noch immer wieder, wenn ich eine Fabrik sah, ob ich nicht Arbeit bekommen möchte, und ging dann nach dem Worte: »Besetzt!« wieder weiter.
Als ich nach Pirna kam, war's Mittag. Ich ging nach Copitz in die Steinbrüche, nirgends nichts! von Pirna wollte ich nach Berggießhübel, verfehlte aber den Weg und ging nach Nauendorf. Wie ich dorthin kam, wurde ich erst meinen Irrtum gewahr. Was sollte ich aber machen? Dieser Weg war bis nach Peterswalde mindestens um zwei Stunden länger als der, den ich erst gehen wollte. Eine Stunde Weges umzukehren, dazu hatte ich aber auch keine Lust. »Bitte, wie weit habe ich noch bis nach Peterswald?« frug ich einen alten Mann. »Vier Stunden!« Und drei Uhr nachmittags war es schon. Von Peterswald rechnete man bis nach Türmitz auch noch fünf Stunden. Ein schöner Trost! Ich gab aber die Hoffnung noch nicht auf und streckte meine Beine noch ein bißchen schneller, um mein Ziel doch noch zu erreichen. Nachdem ich wieder ungefähr eine Stunde gegangen, frug ich wieder so wie den Alten, diesmal einen Kutscher. »Vier Stunden noch!«
Meine Beine versagten, ich ging anstatt schneller, immer langsamer. Die Straße wandte sich nach allen Seiten, durch ein Tal der viel besungenen Sächsischen Schweiz; hüben und drüben war Wald. Es schien mir wie eine Ewigkeit, ehe ich wieder ein Dörflein zu sehen bekam. Durst und Hunger stellten sich ein, und in der Tasche stak nur noch ein Groschen. Es war schon finster, als ich das nächste Dorf erreichte. Ich war nun sehr müde, aber ich hielt noch immer fest an meinem Entschlusse, bis nach Hause zu gehen. Denn das Geld reichte ja nicht zugleich zum Essen und Nachtquartier. »Bitte, wie heißt dieser Ort?« frug ich eine Frau, die mir gerade mit zwei Wasserkannen in den Händen entgegenkam. »Langhennersdorf!« »Und wie spät wird es nun sein?« »Sieben!« »Wie weit ist es noch bis nach Peterswald?« »Eine gute Stunde!«
Sechs Stunden Wegs noch. So müde und erschöpft. Mein Entschluß fing an zu schwanken. Während ich durch das Dorf weiter zottelte, überlegte ich, ob es nicht doch besser wäre, hier zu übernachten. Weitergehen, da fürchtete ich, daß ich mich vielleicht dann irgendwo vor Müdigkeit hinsetzen würde und erfrieren könnte. Es lag mir selbst ja nicht das Geringste mehr an meinem Leben; aber ich dachte an die andern. Sie hatten es zwar während meines Lebens noch nie gut; wenn ich aber wegfiele, könnten sie es noch schlechter haben, prophezeite ich im Geiste.
Ziemlich am Ende des Dorfes gelangte ich zu einem Gasthause. »Richters Gasthaus« hieß es. Eine lange Weile stand ich vor dem Hause und wußte nicht, was ich machen solle, übernachten oder weitergehen. Schließlich entschloß ich mich für das erstere. Ich trat in die Gaststube ein, in der sich nur einige Gäste befanden. Eine Frau in mittleren Jahren kam mir entgegen und frug mich, was ich wünsche. Ich bat sie um Nachtquartier, erzählte ihr kurz, von wo ich komme, wohin ich gehe, daß ich vor Müdigkeit nicht mehr weiter könne und auch kein Geld hätte. »Mir ist es egal, und wenn ich im Stalle schlafen muß!« bemerkte ich dann noch. »Na, da setzen Sie sich nieder!« antwortete sie höflich. Ich setzte mich unweit der Türe hinter einen Tisch, guckte und horchte den Gästen zu. Nach ungefähr einer halben Stunde brachte mir die Gastwirtin ein Glas Bier, ein Stückchen Wurst und Brot. »Bitte, Frau! Ich habe kein Geld und kann es nicht bezahlen,« entschuldigte ich mich. »Das macht nichts! Immer essen Sie!« sagte sie lächelnd. In meinem Magen hätten mindestens zwei solche Portionen Platz gehabt, ich gab mich aber auch mit dem Wenigen zufrieden und freute mich über die Gastfreundschaft der Leute im Erzgebirge.
Nach einer langen Weile kam die Frau wieder zu mir und hieß mich schlafen gehen. »Sie sind doch rein?« frug sie mich noch, als ich schon zum Gehen bereit dastand. »Bitte, Frau, ganz rein!« »Nu, dann geb ich Ihnen ein Bett.« Sie meinte nämlich, ob ich keinen Gottessegen, Läuse, hätte. Sie führte mich dann hinauf in ein kleines Zimmer, in dem zwei Betten standen, in denen sich's herrlicher lag und schlief, wie in meinem zu Hause.
Als ich früh aufstand, konnte ich mich vor Schmerzen kaum auf die Beine stellen. Wie ich doch mühsam über die Treppen hinuntergekrochen war und in das Schankzimmer kam, langte mir die Wirtin mein Arbeitsbuch hin mit den Worten: »Warten Sie, ich geb Ihnen noch ein bißchen Kaffee!« Sie brachte mir ein Töpfchen voll, mit zwei Brötchen. Ich bedankte mich vielmals und ging dann, als ich es verzehrt hatte, weiter.
Ich ließ mir nun Zeit, denn das Elend zu Hause lockte mich wenig. In Peterswalde, ungefähr im halben Dorfe, traf ich auf zwei Straßen, die eine ging geradeaus und die andere nach links, den Berg hinauf. Ich war im Zweifel, welche von ihnen nach Aussig führte, sah aber auch niemand, den ich hätte fragen können. Plötzlich kam aus dem rechts an der Straße stehenden Hause ein altes Mütterchen herausgesprungen, wie ein junges Mädchen. Ich frug sie. »Geradeaus! Aber, he, wollen Sie nicht erst ein bißchen Kaffee trinken?« »Bitte, mit Freuden!« In diesem Hause mußte eine Hochzeit oder Taufe gewesen sein, weil alles glitzerte und weiß gedeckt war. Ich sah aber niemand weiter wie die alte Frau. Und sie stellte mir ein Töpfchen Kaffee hin und legte dazu einen halben Kuchen. Ich machte mich gleich darüber, wie ein hungriger Wolf über seine Beute. Der Hunger war dann größtenteils auch gestillt.
Ich kam erst gegen Abend nach Hause. Meine Frau war gerade nicht anwesend, kam aber bald. Wie sie mich erblickte, schlug sie die Hände zusammen und weinte, wie abgehärmt und abgemagert ich aussehe. Dasselbe hätte auch ich über sie tun können, denn sie sah um nichts besser wie ich aus. Sie hatte schwere Tage durchgemacht, sich ja allein während der Zeit, wo ich fort war, mit den Kindern durchschlagen müssen. Und sie erzählte mir, wie sie in ihrer größten Not, als sie sich keinen andern Rat mehr wußte, zu meinem Vater gegangen wäre, ihn gebeten hätte, ihr auszuhelfen, aber sein Herz hatte sich nicht erweichen lassen, er gab nichts her. »Ja, Sie müssen sich halt kümmern! Ich hab nichts,« so tröstete er sie in ihrer verzweifelten Lage. Sie kannte eben sein Herz noch nicht. Ihr eigner Vater, der selbst nicht viel verdiente, weil er fast nur Flickarbeit zu machen hatte, und nur selten etwas Neues, konnte ihr ebenfalls nur mit Wenigem helfen. Er tat aber doch so viel wie er konnte.