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Die befürchtete schreckliche Stunde des Abschieds näherte sich nun für uns Verliebte immer mehr. Wir sahen ihr gar beklommenen Herzens entgegen. Als wir nun eines Abends wieder umarmt dasaßen und uns noch wärmer wie sonst liebkosten und küßten und aneinander schmiegten, rief Luis plötzlich entschlossen: »Ohne dich will ich nicht leben! Ich gehe mit!« legte ihre Hände auf meine Achseln und schaute mir freudenvoll ins Gesicht. Mir kam schon manchmal ihre Liebe zu lau vor, und öfter wurde ich von der Eifersucht gepeinigt, nun aber war ich überzeugt, daß auch sie mich aus vollem Herzen liebte. Nun schätzte ich mich als der Glücklichste auf Erden!
Bald nachher traten wir vor ihre Mutter und enthüllten ihr unsere Herzenswünsche. Ich besonders hatte die Aufgabe, ihr einen Plan über unser künftiges Leben zu entwerfen. Ich riet, das Haus zu verpachten und auch sie mit nach Aussig zu nehmen, wir beide, Luis und ich, wollten auf die Arbeit gehen; alle drei sollten in einer Wohnung leben und gemeinschaftliche Kasse führen. Dabei rechnete ich ihr auch vor, wie viel Pacht sie bekommen könne, daß sie davon dann die Zinsen für die auf dem Hause lastenden Schulden zahlen, ja sogar noch die Schuld selbst tilgen könnte. Und wenn wir auch noch das dazu legten, was wir ersparen würden, so sei das Haus bald schuldenfrei. Wie hoch die Schulden waren, frug ich gar nicht. »Alles wird bezahlt werden!« versicherte ich mir selbst, ohne zu wissen, daß ich mich selbst belüge. Die Frau horchte gespannt und verwundert zu, wie selbstbewußt und sachverständig ich ihr das alles auseinandersetzte. Dann setzten wir die Beratung über die Einzelheiten des Vorhabens fort. Nachdem alles kreuz und quer beraten war, stimmte sie dem Plane zufrieden zu. Hocherfreut, daß sie nichts einwendete, fiel ich ihr mit beiden Armen um den Hals und küßte sie auf die Stirn. Es wurde beschlossen, daß ich einstweilen allein hingehen solle, und wenn ich Arbeit für Luis hätte, es zu schreiben. Unterdessen sollte alles mit dem Hause in Ordnung gebracht und die Reise der Luis und ihrer Mutter vorbereitet werden. Zu Hause erfuhr niemand etwas von dem ganzen Vorhaben. Nur der Mutter teilte ich mit, daß ich abreisen wolle, ohne ihr sonst etwas zu verraten. Sie wandte mir auch nichts ein, meinte nur, daß mir ja nichts anderes übrigbleibe.
Eines Morgens, es war am 18. August 1883, der Vater war in der Fabrik, packte ich meine Sachen, Wäsche und zwei Anzüge, den dritten hatte ich an, in eine Reisetasche, hing meine Harmonika auf die Achsel, nahm Abschied von Mutter und Geschwistern und begab mich auf den Weg nach der Stadt, von woher mir in meiner Phantasie ein neues Glück entgegen winkte.
Auf dem einsamen Wege über Budin nach Lobositz, von wo ich dann mit dem Dampfschiff weiter nach Aussig fahren wollte, versank ich tief in Zukunftsgedanken. Voll von Plänen über mein künftiges Leben, schritt ich langsam meinem Ziele zu. Könnte ich heute alles, was mein Gehirn damals auf dem über drei Stunden langen Wege ausheckte, aufs Papier bringen, so würde mich's selbst freuen. Die süßesten Hoffnungen waren es! Ich träumte und plante so wie alle Landbewohner, die von der Not getrieben oder vom Glanze der höheren Löhne in die Städte gezogen werden, um sich dort auch ein kleines Kapital, durch Arbeit und Sparen, zu erringen, um dann womöglich wieder zurückzukehren aufs Land. Denen ihre Lebens- und Weltanschauung noch ganz von bäuerlichen und religiösen Vorurteilen durchflochten ist. So einer war auch ich. Arbeiten und sparen war auch mein Ziel. Ich war meinem Vater ganz verwandt: im Gelde erblickte auch ich doch schließlich das Heil! Von einem menschenwürdigen Leben und was zu ihm gehörte, davon hatte ich noch keinen Begriff damals. Und für das Schöne noch keinen Sinn. Meine Hoffnungen waren noch ganz unreif, ganz persönlich. Meine Auserwählte, die Luis, sollte an meiner Seite stehen, die Früchte unsers glücklichen Daseins, wie ich mir's in die Luft malte, mitgenießen. Ich wollte sie glücklich sehen, ihres Lebens mich freuen. Sie sollte sich nicht so wie meine Mutter Tag und Nacht schinden und plagen, wenn sie einst meine Frau wäre. Unsere Kinder sollten sich nicht in ihren jungen Jahren bettelnd in der Welt herumtreiben dürfen, wie ich es tun mußte. Das war der Kern meiner Erwägungen, bevor ich Lobositz erreichte und das Dampfschiff bestieg.
In Lobositz bekam ich nach langer Zeit wieder die deutsche Sprache zu hören. Die Fahrt auf der Elbe, die sich zwischen grün gezierten Bergen dahinwendet, war sehr schön, nur für mich zu lang. Ich sah ungeduldig und sehnsüchtig der letzten Station, Aussig, entgegen.
Als ich das Dampfschiff dann verließ, schritt ich, hier und da gleich nach der Glasfabrik fragend, durch die Gassen der Stadt, ohne mich nach rechts oder links viel umzuschauen, bis ich endlich die Familie Maj unweit von der Glasfabrik in ihrer Wohnung fand. Ich wurde freundlich empfangen, auch von den beiden Töchtern, die bald nach mir aus der Arbeit ankamen. Abends führten mich dann Maj und seine Töchter gleich in der Fabrik herum, um mir zu zeigen, wie die Flaschen gemacht werden, da ich das zu sehen wünschte. Als wir uns dann vor dem Schlafengehen versammelten, waren wir im ganzen zehn Personen. Der Maj mit seiner Frau, die zwei Töchter, dann noch zwei kleinere Kinder, außerdem drei Logisburschen und ich. In dem Zimmer rechts standen zwei Betten. In die schmale Küche wurden Strohsäcke geworfen, auf die sich die zwei kleinen Jungen legten. Wir übrigen vier aber begaben uns in den noch übrigen Raum, ein sehr kleines Kämmerchen, das links sich an die Küche anschloß, und streckten unsere Glieder auf Strohsäcken aus, die auf einer von Holzböcken und Brettern aufgestellten Stellage lagen. Na, so etwas erschreckte mich nicht mehr. Ich hatte in meinem Leben schon schlechter gelegen und geschlafen. Die Hauptsache war ja, daß man unterm Dache war. Doch aber machte das, was ich da sah, auf mich einen tiefen Eindruck. Die ganze Wohnungseinrichtung schien mir gegen die hübschen Verdienste, von denen ich hörte, sehr ärmlich. Wo lag die Ursache? war die Frage, die mich sehr lebhaft ergriff.
Am nächsten Tag saß ich in der Küche. Frau Maj bereitete das Mittagessen. Wir plauderten über die Verhältnisse auf dem Lande und verschiedenes andere. Sie meinte dann: »Ach, man hat dort nichts und hier auch nichts.« Dann fuhr sie fort, das Ausgesprochene zu begründen. Ihre Meinung war, daß es auf dem Lande in einer Beziehung besser wäre wie hier, wo Miete und Lebensmittel viel teurer wären. Sie hätten, wie sie noch auf dem Lande waren, eine Ziege, Hühner, Gänse und auch ein Schwein sich halten können. Man brauchte daher keine Eier und Federn kaufen. Die Gänse wurden im Herbst verkauft, das Schwein vor Weihnachten geschlachtet; es gab Fleisch, und das Fett reichte lange Zeit. Gras und das übrige Futter holte man sich vom Rain oder erntete es auf den Feldern nach. Das alles sei hier in der Stadt nicht möglich; man müßte alles, was man in den Mund stecken wolle, kaufen und teuer bezahlen. »Das Schlechte ist dort nur wieder, daß die Arbeit nicht dauert; sonst täte man dort besser leben wie hier, wo noch einmal soviel und mehr als das verdient wird.« Das war das Ergebnis, Doch war ich in diesem Augenblick davon noch nicht überzeugt. Daß man hier, bei so viel höherem Verdienst, wirklich nichts sparen könne, schien mir doch zweifelhaft. Aber ein bißchen trübte es schon meine Hoffnungen. Als ich dann dem Onkel Maj die Kohlen in den Hund einladen half, sagte er zu mir zutraulich: »Am besten wäre es, wenn man dem Polier Richter einen Gulden steckte, der schafft dann Rat!« »Fahre hin!« dachte ich.
Ich kam daraufhin auch gleich als Kohlenschieber bei der ersten Glaswanne an. Als solcher hatte ich in jeder Schicht ungefähr sieben Tonnen Kohlen an den Glasofen zu schaffen und diese mit dem Schürer zusammen in den Ofen zu schütten. Nebst dieser Arbeit waren noch vier bis fünf Hunde Asche von dem Ofen auf die Halde hinauszuschaffen. Dies war die schlimmste Arbeit. Die Ascheschaufel war an einer Eisenstange angemacht und wie eine mittlere Tischplatte groß. Durch die Feuerungsroste drang heftige Hitze vor. Nach drei bis vier Würfen schon mußte einmal abgesetzt werden, und bevor der Hund geladen war, regnete der Schweiß vom Leibe; man sank fast ohnmächtig zusammen. Ich war Wärme gewöhnt, aber diese Hitze schien mir anfangs unerträglich.
Den fünften Tag schon kam der Inspektor mit dem dicken Polier Richter und hieß mich am nächsten Tag zu Hause zu bleiben, weil sie Arbeiter übrig hätten. Das war für mich eine schreckliche Nachricht. Ich taumelte förmlich vor Schreck. Was nun? Hätte ich wenigstens der Luis nicht schon geschrieben, daß sie kommen könnten! Und nach einer schlaflosen Nacht eilte ich nach der Dampfschiffstation, um mit dem zu allererst fahrenden Schiff abzufahren, dann nach Charmatetz zu rennen, und der Luis und ihrer Mutter zu sagen, was vorgefallen, und daß sie mit der Reise nach Aussig noch aufhalten sollten. Es war gut, daß ich kam. Alles war schon gepackt, und den nächsten Morgen wollten sie abreisen. Sie erschraken nicht wenig über meine Rückkehr. Vorsichtig, daß mich niemand von meinen Leuten und Bekannten erblickte, trat ich dann wieder den Rückweg an, in der Hoffnung, in einer andern Fabrik Arbeit zu finden.
Einige Tage ging ich von einem Fabriktor zum andern. »Besetzt!« hieß es überall.
Schließlich befolgte ich einen Rat des Onkel Maj und seines Kollegen Wantscha. Ich schlich mich nach der Mittagstunde mitten unter die Arbeiter in die große chemische Fabrik hinein, wo ich dann nach dem Ziegelmeister Bamba frug, von dem ich wußte, daß er ein Tscheche war. Und von ihm erhielt ich auch wirklich Arbeit als Ziegelmacher, noch in so spätem Herbst! »Aus der Not ist es einstweilen gut!« dachte ich mir. Einige Tage schaffte ich noch allein, dann kam die Luis mit ihrer Mutter nun doch nach. Sie brachten aber nichts mit wie das nötigste Kochgeschirr und Deckbetten. Die Möbel, das alte Gerille, das unsere Mutter da zu Hause hatte, hätte dem Transport doch nicht standgehalten. Deshalb brauchten wir auch momentan keine selbständige Wohnung zu mieten, wir einigten uns mit den Majs, daß wir die Hälfte Miete zahlen und dafür so lange mit ihnen zusammen wohnen würden, bis wir uns neue Möbel angeschafft hätten. Und die Luis sollte einstweilen mit Ziegel machen, bis sich auch für sie wo anders Arbeit fände.
Ach! war das ein schwerer Anfang in dieser Ziegelei! Luis hatte in ihrem Leben nicht gesehen, wie Ziegel gemacht werden. Jeden Griff mußte ich ihr mehrmals zeigen. Und ich selbst hatte die Ziegel in Sachsen auf ganz andere Art gemacht, es ging mir deshalb auch nicht besonders von der Hand. Dann waren auch die Tage kurz. Der Ziegelmachertag muß mindestens von vier Uhr früh bis acht Uhr abends dauern, wenn man etwas über den gewöhnlichen Tagelohn verdienen will. Drei Gulden gab's für das Tausend Ziegel, wenn sie fix und fertig unter dem Schuppen standen. Regnete es einmal und sie zerschwammen auf dem Platze, dann bekam man überhaupt nichts dafür. Am schlechtesten war es, wenn man die Ziegel auf dem Platze liegen hatte und ein Regen kam, und dann schien die Sonne wieder. Da bekamen sie querdurch Risse, mußten weggeworfen werden und waren ebenfalls umsonst gemacht. Ja, so hoch war unser Risiko! Wir pfuschten so sieben Wochen und verdienten dabei kaum so viel, was wir zum Leben brauchten. Dann hörte das Ziegelmachen überhaupt auf.
Die Luis kam dann in der Glasfabrik an. Sie wurde in der Glasschleiferei eingestellt und wusch das geschliffene Glas ab. Aber ihr Lohn betrug sechzig Kreuzer den Tag! Ich selbst wurde vom Ziegelmeister Bamba zum Hofaufseher Schindler in derselben chemischen Fabrik geschickt. Dieser nahm mich aber nicht auf, weil ich nur erst kurze Zeit in der Ziegelei gearbeitet hätte. »Hab' nichts!« fuhr er mich an, als ich mich vorstellte, und lief von mir fort.
Wieder lief ich nun mehrere Tage von früh bis abends, traurig und niedergeschlagen, von einer Fabrik zur andern, immer vergebens. Bis mich eines Abends der Portier Wanek aus der Glasfabrik holen ließ und wieder an der ersten Glaswanne als Kohlenschieber einstellte. Der hatte nämlich damals auch noch das Recht, Arbeiter einzustellen. Ich kam also wieder zu dem Ofen, bei dem es bisher niemand lange ausgehalten hatte. Das schreckte mich aber nicht, denn ich war froh, daß ich diese Arbeit bekam. Ich verdiente, wenn gerade die lange Woche von acht Schichten war, doch acht Gulden und die nächste Woche, die nur sechs Schichten zählte, sechs Gulden. Schließlich konnte man sich den Verdienst auch noch durch halbe oder ganze Überschichten verbessern. Die aber konnten, wenn man nur wollte, oft gemacht werden.
Die meisten Ofenarbeiter waren Tschechen; nur einige Deutsche befanden sich unter ihnen. Mein Nachbar Hübner an Ofen zwei war auch ein Deutscher; er hielt mich anfangs für einen Deutschen, so geläufig konnte ich schon damals Deutsch sprechen. Freilich war das nur eine, ich möchte sagen deutsche Arbeitersprache, die kaum ein paar hundert Worte enthielt. Hörte ich dagegen hier und da einmal das Hochdeutsche, so kamen mir viele Worte fremd vor.
Von uns Ofenleuten machten die meisten, wenn sie die Nachtschichtwoche hatten, bei Tage halbe und manchmal auch ganze Überschichten. Ich natürlich war stets dabei. Einmal z. B. kamen achtzehn Waggons Stroh, das abgeladen und in den Strohschuppen geschichtet werden mußte. Da machte ich alle Tage eine halbe Überschicht, das waren drei ganze, und Sonntag von sechs bis zwei Uhr nachmittags die vierte Überschicht in dieser Woche. Und so war es mit wenigen Ausnahmen auch bei den anderen Arbeitskollegen.
Sonst machten wir die Überschichten gewöhnlich beim Kohlendeponieren. Jeden Freitag früh beim Verlesen gab dann jeder dem Wanek, der die Arbeitsleistungen sämtlicher Arbeiter eintrug, auch seine Überschichten an. Und da kam es häufig vor, daß sich mancher mehr einschreiben ließ, als er wirklich gemacht hatte. Ich wagte es auch einigemal und sagte eine halbe Schicht mehr an. Für eine Überschicht kriegten wir auch nur einen Gulden. Sonntags galt als ganzer Arbeitstag die Zeit von früh sechs bis zwei Uhr nachmittags.
Die erste Zeit sparten wir so, daß ich und die Luis zur Frühstück- und Vesperpause nur trockenes Brot mitnahmen. Wir richteten uns fast ganz noch nach dem Brauche bei uns auf dem Lande. Ich kaute mein Stück Brot gewöhnlich irgendwo beiseite, um von meinen Nachbarn nicht ausgelacht zu werden. Dazu tranken wir immer Kaffee. Fleisch wurde nur, wenn's Kartoffeln gab, verwendet. Knödel aßen wir stets ohne Fleisch. »Du wirst nicht lange ärmeln!« sagte mir da immer mein Nachbar Hübner, wenn er mich bei meinem Schmaus erwischte und sah, wie ich das trockene Brot verschlang. Und später / ich wußte noch nicht, war das Hübners Suggestion oder war es Wirklichkeit / fühlte ich mich in der Tat immer schwächer und matter. Ich hieß deshalb die Schwiegermutter, wenigstens Fett anzuschaffen. Denn Wurst und dergleichen schien mir zu teuer. Später mußte die Kost noch mehr verbessert werden. Denn ich sah nun schon selbst ein, daß man bei der schweren, von Tag zu Tag anhaltenden Arbeit auf die Dauer nicht so notdürftig leben konnte. Und daß ich mich nicht allein nach den Verhältnissen bei uns auf dem Lande richten konnte, wo eine härtere Arbeit immer nur kürzere Zeit anhielt, und es immer dazwischen wieder etwas Leichteres zu tun gab.
Nach Weihnachten wurde das Weibervolk zu Hause uneins und konnte sich nicht mehr vertragen. Um dem Zank und Streite, den es bald alle Tage gab, auszuweichen, mietete die Schwiegermutter im Städtchen Türmitz, unweit von Aussig, eine kleine Wohnung, die sechsundzwanzig Gulden jährlich kosten sollte. Bis zu der Zeit hatte ich schon einige Möbelstücke machen lassen. Der Tischler Honsa in Aussig lieferte dieselben gegen Ratenzahlungen. Ein Schrank, eine Bettstelle, ein Tisch mit zwei Stühlen und eine Ofenbank genügten einstweilen. Dazu kaufte ich noch eine Wanduhr für vier Gulden. Diese hängt heute noch in meiner Wohnung. Sie begleitete mich treu durch das Labyrinth meines weiteren Lebens. Sie war Zeuge der Liebe, Freude, Not, List und was sonst noch in meiner Wohnung vorging. Fünfundzwanzig Jahre schon zeigt sie mir zuverlässig die Zeit. Nur ihr Schlagwerk kündigte mir schon vor Jahren seinen Dienst. Ich ließ es aber wie ein hartherziger Despot bis heute streiken. So hatten wir jede Woche etwas zu kaufen und abzuzahlen.
Das sittliche Leben unter den Arbeitern der Glasfabrik konnte man gegen das der ländlichen und derer in der Zuckerfabrik eher ein unsittliches nennen. Es herrschte da die größte Zügellosigkeit im Benehmen und auch in der Ausdrucksweise, gleichgültig, ob es nun erwachsene oder jugendliche Arbeiter waren. Das galt besonders von den Flaschenmachern. Die Mehrzahl von ihnen waren noch jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen von vierzehn Jahren an, die entweder als Gehilfen, Motzer geheißen, oder Einträger den Glasmachermeistern zugeteilt waren.
Jeder Glasmacher arbeitet im Akkord, springt hin und her, von der Werkstelle zum Ofen, vom Ofen zur Werkstelle, holt das Glas aus der Wanne, motzt es, bläst die Flasche und macht dann das Mundstück. Er kann nur kurze Sätze, nur Worte ausstoßen; zu langer Auseinandersetzung ist keine Zeit, sonst kühlt das Glas aus und muß weggeworfen werden. Je fetter also die kurzen Ausdrücke herauskommen, desto mehr ersetzen sie die Unterhaltung, desto sicherer werden die Nachbarn über sie lachen. »Dummer Hund, dummes Luder, Schwein, Sauhund« waren die gewöhnlichsten Ausdrücke, die man da ständig hörte. Unter den Einträgern war die gute Hälfte Mädchen, auch von vierzehn bis siebzehn Jahren, gegen die mit den unverschämtesten geschlechtlichen Ausdrücken nicht gespart wurde, besonders in der Nachtschicht. Dieser unzüchtige Ton pflanzte sich dann weiter, auch außerhalb der Fabrik, fort. In den Familien, auf den Straßen und Tanzsälen konnte man ihn damals wahrnehmen.
»Pst, pst!« winkte mir mal der Schürer Lanz zu. Es war Nachtschicht. Ich ging ihm nach, wie er, behutsam. Hinter aufgeschichteten Glasballons, beim Strohschuppen, waren zwei noch sehr junge Leute bei einer Umarmung. Motzer und Einträgerin! Sehr häufig hörte man, wie sich diese jugendlichen Arbeiter mit solchen Sachen einander verspotteten. »Du hast wieder mal die …« Es schien, daß auch den Vorgesetzten das alles nichts ausmache. Die Hauptsache war, daß jeder seine Arbeit tat, sich nicht raufte und nicht so betrunken war, um noch arbeiten zu können. Alles übrige war offenbar ganz Nebensache. Betrunken sein, hieß unter den Glasarbeitern: »Hosack haben!« Diesen Ausdruck hörte ich sonst nirgends, nur in den Glasfabriken. Das Trinken über den Durst hieß: »Hosack machen!« Wenn gehosackt wurde, na, da kamen erst recht die innersten Triebe und Gefühle zum Ausdruck. Und bei jedem Ofen waren mindestens vierundzwanzig Jugendliche beiderlei Geschlechts!
Das Frühjahr 1884 rückte langsam heran. Die Sonne meinte es immer freundlicher und bei unserm Ofen fing's nun erst recht an, warm zu werden. Mich packte eine Angst vor der Ofenarbeit. War ich schon den Winter körperlich sehr abgekommen, wie sollte es erst den Sommer über werden? Mein Nachbar Hübner, der mich oft foppte: »Dich wird bald der Lehmann kriegen!« er meinte den Aussiger Totengräber, machte auch Feierabend und ging Ziegel machen. Ich bekam Lust, dasselbe zu tun. Aber wohin?
Aus dieser Verlegenheit half mir unverhofft der Ziegelmeister Bamba wieder. Er suchte mich auf und trug mir den Posten als Dachziegelmacher an: drei Gulden dreißig Kreuzer fürs Tausend, das ganze Jahr hindurch Arbeit, freie Wohnung und Gebrenne. Die heikelste Sache war dabei die Wohnung, da die Direktion der chemischen Fabrik unverheiratete Leute in ihren Wohnungen nicht duldete. Der Bamba setzte es aber doch durch, daß ich einziehen durfte. Ich zog in eine von den sogenannten Bergwohnungen, weil sie auf einem Berge im Hintergrund der Fabrik standen. Diese Stuben waren, besonders die für Ziegelmacher, nicht gar groß. Die meine war wohl drei Meter breit, vier lang und nicht ganz drei Meter hoch. Unser bißchen Hausrat, das wir uns bisher mühsam angeschafft hatten, brachten wir knapp hinein; zum Hin- und Hergehen blieb dann nicht viel Raum übrig. Es war aber doch eine freie Wohnung, für die man nichts zu zahlen brauchte. Es war das eine alte böhmische Sitte. In Böhmen wohnen nämlich die Ziegelmacher überall in den Ziegeleien, und meist auch unentgeltlich. Mein Bruder Albert kam mir damals nachgereist. Auch er wohnte bei uns mit, und beim Bamba arbeitete er.
Als wir bei der ärztlichen Untersuchung waren, der sich ein jeder in die Arbeit Eintretende dort unterziehen mußte, behorchte und beklopfte mich der Arzt immer wieder und schüttelte dann mit dem Kopfe. »Sind Sie krank?« frug er mich. »Nein!« »Sie waren aber krank! Man sieht es Ihnen an. Sie sind ja sehr abgezehrt!« Ich erzählte ihm nun, sowie dem Fabrikwachtmeister, in dessen Kanzlei die Visite stattfand, daß ich den Winter über am Glasschmelzofen gearbeitet hätte. Daraufhin wurde ich dann doch für tauglich anerkannt.
Von dem Berge, auf dem wir wohnten, konnten wir fast die ganze Fabrik mit ihren vielen Feueressen übersehen. Sie hatte einen sehr großen Umfang. Es sollen schon damals in ihr über zweitausend Menschen beschäftigt gewesen sein. Sie war Eigentum, wie ich hörte, einer reichen österreichischen Aktiengesellschaft, der auch die Glasfabrik und mehrere ähnliche Fabriken anderwärts gehörten.
Nachdem sich die Luis auch in das Dachziegelmachen eingearbeitet hatte, verdienten wir in den langtägigen Sommerwochen bis achtzehn Gulden zusammen. Im Frühjahr und Herbst, wo die Tage kürzer waren, waren es nur zwölf Gulden und auch weniger.
Wir arbeiteten unter einem Schuppen und hatten weder Sonnenhitze auszustehen, noch Regen zu fürchten. Auch war die Arbeit der Gesundheit nicht so schädlich, wie die in der Glasfabrik. Daß wir früh um vier anfingen und erst abends um acht Uhr zu arbeiten aufhörten, störte uns damals noch nicht. Das gehörte ja auch stets schon zu diesem Beruf! Es gefiel mir da also halbwegs, wenn nur der Bamba ein anderer Mensch gewesen wäre. Er schikanierte zwar niemanden. Ja, man sah ihn gewöhnlich erst Donnerstags in der Ziegelei. Vom Sonntag bis Montag nachmittag hielt er sich meistens in der Stadt beim Gastwirt Bauer auf, von dort ging er zur Lohnauszahlung / in dieser Fabrik war Montags Lohntag / zahlte uns aus, ging wieder saufen und versoff so nicht nur seinen eigenen Gehalt, sondern auch den Lohn seiner Frau, seiner zwei Töchter und des Sohnes mit. Er war ein sehr lustiger, aber sehr verschwenderischer Patron. Zudem besaß er noch die böse Eigenschaft, bei der Übernahme der Ziegel jeden gerne um einige Hundert zu knapsen. Da gab's immer langes Zählen, Rechnen, Zank und Streit.
Das peinlichste für mich war immer die Nachfeier, die er nach seinen Gelagen gewöhnlich noch zu Hause abhielt. Da mußte ich mit der Harmonika kommen und noch spät in der Nacht spielen. Und er sang und tanzte. Er komponierte und sang zugleich. Deutsch, Tschechisch, alles durcheinander, und niemand verstand etwas davon. Aber man mußte trotzdem darüber lachen und es loben, wenn man vor ihm Ruhe haben wollte. Bier und Schnaps fehlte natürlich nicht dabei. Manchmal wenn ich nicht kommen wollte, bat mich seine Frau himmelhoch so lange, bis ich mitging. Sie hoffte immer, daß, wenn ich da sei, sich ihr Mann wenigstens vor mir schämen würde, sie zu schlagen. Aber meist schützte sie auch meine Anwesenheit nicht davor, er schämte sich eben nicht. Wenn sie es verpaßte, und nicht sofort zu seinem blöden Gerede lachte und es lobte, hatte sie sofort einen Schlag im Gesicht. Dann flüchtete sie in einen Winkel, die Töchter stellten sich vor sie, um sie zu schützen, und ich mußte dem Trauerspiel zusehen. Ausreißen? Ich wollte mir auch nicht den Zorn des Meisters auf den Hals wälzen. So saß ich gewöhnlich da wie gekocht. Diese Frau verdiente nicht, so behandelt zu werden. Sie plagte sich von früh bis abends, trieb die Kinder an, daß etwas fertig wurde, alles vergebens. Sie kriegte so viele Schläge im Jahre, wie es Tage zählte. Sie war eine wahre Dulderin. »In den fünfundzwanzig Jahren, die wir hier sind, könnten wir uns ein schönes Haus in der Stadt gekauft haben, wenn mein Mann so wie ich wäre,« waren immer ihre Worte, wenn sie bei uns saß und von ihren Familienverhältnissen klagte.
Bei dem Bamba waren wir ihrer fünf Ziegelmacherparteien beschäftigt. Ebensoviel waren beim zweiten Meister Roda, der auch ein Tscheche und nicht viel besser als der erstere war. Einen dritten gab's noch bei der Ziegelmaschine; es schien aber ein ordentlicher Mann zu sein.
Unter einer Ziegelmacherpartei versteht man in Böhmen eine ganze Familie, die zusammen arbeitet. Der Mann bereitet den Lehm und die Frau macht die Ziegel, die Kinder aber, die schon Ziegel zu tragen imstande sind, räumen sie vom Arbeitsplatze nach dem Schuppen, wo sie wieder der Vater in die Stöße setzt. Manchmal werden sie auch gleich auf dem Platze aufgeschichtet und mit Schindeln zugedeckt.
So war der Herbst gekommen, und uns Ziegelarbeitern wurde nun andere Arbeit zugewiesen. Ich, mein Bruder und der Nachbar Süßmilch / er hatte, wie viele Tschechen, einen deutschen Namen, sprach aber sehr schlecht Deutsch / wir wurden zum Hofaufseher Schindler geschickt. Die übrige Mannschaft ging wieder in die Glasanstalt.
Erst als Hofarbeiter gewann ich die Gelegenheit, in das Innere der Fabrik Einblick zu bekommen, verschiedene Menschen kennen zu lernen und ihre Meinungen zu hören. Und mich ein bißchen zu orientieren, was da alles erzeugt wird.
Auf dem Hofe gab's schon verschiedene Arbeit: zu graben und abzugraben, mit zweirädrigen Karren Ziegel an die Bauten heranzufahren oder Schotter auf die Straßen zu füllen. Auch wurde zur Ziegelmaschine in Hunden Lehm hingefahren, um für den Sommer Vorrat zu machen.
Sämtliche Arbeiten sind in Akkord gemacht worden. Man erfuhr aber nur selten den Lohnsatz von der einzelnen Arbeit. Wie viel man in der Woche verdient hatte, konnte man erst Montags bei der Lohnzahlung auf dem Akkordzettel sehen, den man, wenn es stimmte, unterschrieb, und sich dann bei der Kasse das Geld auszahlen ließ.
Die Akkordarbeiter waren alle in Partien zu je drei Mann eingeteilt, von denen immer einer den ersten Partiemann machte. Der mußte früh vor sechs Uhr nach Schindlers Schreibstube gehen, die Arbeit vom vorherigen Tag angeben und sich neue zuweisen lassen. Dabei bekam er oft noch eine Portion Grobheiten als Zugabe. Deshalb sehnte sich niemand nach dem Posten. Jemand mußte aber doch den Sündenbock machen.
Die Arbeitszeit auf dem Hofe dauerte im Sommer von früh sechs bis sechs Uhr abends. Im Winter von früh sieben bis fünf Uhr abends. Der Lohn schwankte zwischen sieben und zehn Gulden wöchentlich. Nur selten überstieg er einmal diese Höhe.
Bei den Schmelzöfen war eine achtstündige Arbeitszeit eingeführt. Aber freilich nicht im modernen Sinne. Es arbeiteten da zwei sich abwechselnde Partien, von denen die eine in der Woche zehn und die andere elf Schichten machte. So kamen im Durchschnitt auf jede Partie vierundachtzig Stunden Arbeitszeit in der Woche, bei einem Lohn von dreizehn bis vierzehn Gulden. Eine kürzere Arbeitszeit hatten die Arbeiter im Chlorhause, wo Chlorkalk erzeugt wurde. Dort betrug die Arbeitszeit gar nur vier bis fünf Stunden täglich. Sie war auch nicht schwer, aber sehr schädlich! Beim Herausziehen der Holzkrücken aus den Kammern stickte der Chlorkalk so, daß sich jeder vor Beginn dieser Arbeit Mund und Nase mit Watte verbinden mußte. Auch das aber half oft nicht. Sie wurden durch den Dunst doch noch oft aus dem Hause hinausgetrieben und warfen sich dann stark hustend einfach auf die Kohlenhaufen. Wie ich die armen Teufel so das erstemal sah, glaubte ich, ihre letzte Stunde hätte geschlagen. Sie bekamen einen ganzen Gulden und ganze dreißig Kreuzer den Tag dafür. Unfälle aller Art waren keine Seltenheit. Aber die Arbeiter schienen abgestumpft dagegen. Wegen eines Beinbruchs oder verbrannter Glieder machte man nicht erst Gerede.
Unter Schindler arbeitete auch die Luis, als Handlangerin bei den Maurern, für sechzig Kreuzer Taglohn! Sie blieb auch hier nicht vor dem Kampfe um ihre Ehre verschont. Doch hielt sie auch hier mit Erfolg stand.
Der Schindler war ein sonderbarer Patron. Die Arbeiter untereinander nannten ihn nur den verrückten Vinz. Bei ihm mußte alles militärisch zugehen; in barschem Tone und mit kurzen Worten wurde alles abgefertigt. Eine Erwiderung duldete er nicht und wenn es einer einmal wagte, der konnte seine Flecke packen.
Ich selbst hatte den ganzen Winter keine Ursache, mich über ihn zu beklagen. Er zog mich zwar vor den anderen Arbeitern nicht gerade vor, aber er behandelte mich auch nicht mit solchen Namen und Titeln, wie die meisten von uns. Als mich dann wieder mal der Bamba abends nach der Arbeit geholt hatte, um die Nacht bei den Ziegelöfen zu feuern, da regnete und schneite es, und weil über den Schürlöchern kein Dach war, kam ich früh nach Hause, durch und durch naß. Ich ging deshalb erst nach dem Frühstück um halb neun Uhr zu meiner Arbeit auf den Hof. Da meinte Schindler, ich täte besser, wenn ich das Ziegelmachen ganz aufgebe, mir eine Wohnung mietete, und mit der Luis ganz bei ihm in der Arbeit bleibe. Sein Rat gefiel mir, und ich folgte ihm. Ehe das Frühjahr herankam, hatte ich mir noch einige Möbelstücke machen lassen und war in den nächsten Ort Pockau übersiedelt. Die Schwiegermutter zog zu Joseph, ihrem Sohn, der während des Winters auch nach Aussig angewalzt kam, und sich nun auch selbständig einrichtete.
Ich wußte zuerst nicht, wie ich mich dem Schindler dankbar zeigen sollte. Denn es schien, er meinte es mit uns sehr gut. Damit auch die Luis etwas mehr verdiene, sollte sie eine Nebenbeschäftigung haben. Sie sollte nämlich jeden Morgen, vor sechs Uhr, seine Kanzlei reinigen, und da hätte sie alle Tage wohl eine Überstunde gehabt, wenn nicht mehr. Aber mir fiel alles das ein, was ich von denen hörte, die schon diese Arbeit verrichtet hatten. Der Gottsinger, der in der zweiten, der Riesenpartie eingestellt war, verdiente schönes Geld, und auch seine Frau, die mit der Luis arbeitete. Also, die Luis ging nicht! Schließlich wohnten wir auch in Pockau nicht lange. Der Ortsvorsteher Weis duldete keine wilden Ehen im Orte und wir mußten ausziehen. »Sie wollen schon mit einer zusammenleben? Ich dächte, Sie hätten in Ihrem Alter noch Zeit zu solchen Sachen!« schleuderte er mir trocken ins Gesicht, als ich mir meine Legitimationspapiere holte. Ich wagte auch nicht, ihm etwas zu erwidern, vielmehr fühlte ich die Wahrheit seiner Worte. Und handelte doch nicht danach. Wir zogen nach Aussig zurück in die Antoniegasse, in dasselbe Haus, in dem schon die Schwiegermutter wohnte.
Die Wohlgesinnung meines Vorgesetzten aber ließ seitdem auffallend nach, und ich wurde aus einer schlechteren Arbeit in die andere geschoben. Direkt trat er mir zwar niemals entgegen, aber nach dem, was er mir indirekt fühlen ließ, nahm ich wahr, daß er sich in mir verrechnet hatte. Doch hielt ich es bei ihm noch zwei Jahre aus und arbeitete meistenteils in Lohn. Einige Male wurde ich aber auch an einen Apparat abkommandiert.
Einmal in jener Zeit gruben wir einen über zwei Meter tiefen Kanal. Die Arbeit ging die ganze Woche gemütlich vor sich, bis Samstag nachmittag.
»Pssst, Achtung!« ermahnte uns plötzlich der Richter. »Guckt, guckt, wie er geschoben kommt!« Schindler kam und war auch im Nu da. Er frug Richter, wie weit wir heute noch graben wollten. Der zögerte etwas mit seiner Antwort, und siehe, da krachte schon die Meßlatte auf seinem Rücken. »Du verfluchter alter Lump, ich werde dir helfen!« Gleich darauf raste er wieder weiter, ohne sich umzusehen. Lange wurde über diesen Auftritt gelacht. Jeder nahm es von Schindler als etwas Selbstverständliches hin. »Es ist halt Samstag. Da ist der Vinz doch immer verrückt!« hieß es.
Solche und ähnliche Auftritte spielten sich sehr oft und meistens an einem Samstag ab. Die Arbeiter waren aber derart daran gewöhnt, daß es keiner von ihnen je ernst aufnahm oder daß sich jemand von ihnen vermault oder widersetzt hätte.
War einmal nicht genügend Arbeit vorhanden, und der Partiemann erhielt keinen Auftrag, so rückten wir gleich alle vor das Kontor, stellten uns da auf und warteten, bis der Vinz herauskam. »Habt nichts zu tun? Brecht euch den Finger ab, habt ihr gleich zu tun!« rief er uns zu, wenn er herauskam und spuckend bei uns vorüberlief. Stundenlang standen wir manchmal so da und erwarteten seinen Befehl. Mir war das freilich widerlich genug. Ich konnte mich zwingen, wie ich wollte; ich brachte es nicht fertig, wie meine Arbeitskollegen so geduldig, stillschweigend zu warten wie ein Hund. Meine Natur war schon von jeher nicht fähig, sehr untertänig zu sein. Und so weckte des Aufsehers Benehmen in mir immer mehr Haß und Zorn gegen ihn. In meinen Augen war seine Art gegen uns Arbeiter eine Ungerechtigkeit. Ich konnte mir also nicht helfen. Eine Antwort rutschte doch hin und wieder über meine Lippen. Dadurch mochte auch er mich immer weniger leiden. Na, heute nach dreiundzwanzig Jahren zürne ich ihm nicht mehr. Ich haßte ihn damals auch nur, weil ich die Ursachen seiner Wut und seiner Unmenschlichkeit nicht kannte und auch nicht begreifen konnte. Im Grunde verhielt sich's mit ihm geradeso, wie mit einem Hund, der, weil er ununterbrochen an der Kette hängt, immer böser, immer wütender wird. Er war dienstlich eigentlich viel schlechter daran wie wir.
Nach fünf Uhr früh hockte er schon in seiner Schreibstube, um seine schriftlichen Arbeiten zu erledigen, Rapporte zu empfangen und Aufträge zu erteilen. Das mußte alles vor sechs Uhr geschehen sein. Denn danach hatte er sämtliche Arbeiter im Taglohn und Akkord, die auf dem großen Fabrikshofe zerstreut, verschiedenste Arbeit verrichteten, zu beaufsichtigen. Außerdem führte er noch mit einer Anzahl Maurer kleinere Bauten aus. Abends wurde es dann immer spät, ehe er Feierabend hatte und nach Hause gehen konnte.
Die strengsten Tage waren für ihn Samstag und Sonntag. Da mußte die Arbeit sämtlicher Akkordarbeiter ausgemessen und übernommen werden. Zu allem war er allein. Sonntags saß er bis spät nachmittags da, fertigte Lohnlisten und Akkordzettel für die Tagelöhner und Akkordarbeiter, um sie Montag früh im Lohnkontor übergeben zu können. So ging das jahraus und jahrein.
Dazu soll sein Eheleben auch nicht ganz ohne gewesen sein. »Du kannst mir glauben!« sagte mir einmal einer, der mit ihm Soldat gewesen. »Er war früher ein seelensguter Mensch. Aber diese Ehe und sein strenger Dienst machten aus ihm einen Wüterich, der alles haßt, vielleicht sogar das eigene Leben!«
Ich sah das da wohl auch einigermaßen ein. Aber im Grunde, was kümmerten mich solche Sachen, daß ich unter ihnen leiden sollte? Ich konnte daraufhin doch sein Tun und Handeln nicht lammfromm hinnehmen.
Im schlechten sittlichen Rufe standen bei uns die »Dampfhäuser«. Deren gab's da wohl zehn oder zwölf. Zum Kohlenaufschütten waren nun dort, tags und nachts, Mädchen oder auch verheiratete Frauen angestellt. Und ihnen war immer ein geprüfter Heizer zugeteilt. Von letzteren hörte man unter den Arbeitern sehr viel Schlimmes erzählen. »Na, von dort möchte ich kein Mädchen haben!« oder »Meine Frau darf mir in kein Dampfhaus kommen; lieber trockenes Brot fressen als das!« Später hat die Direktion den Jammer wohl selbst eingesehen; die Frauen wurden wenigstens durch jugendliche Arbeiter ersetzt.
In der Fabrik wurde sehr viel Salz gebraucht. Es wurde, wenn es mit der Bahn ankam, in Säcken in das Magazin getragen und dort ungefähr drei bis vier Meter hoch aufgeschüttet. Und lag dann sehr fest und dicht. Wurde es gebraucht, so mußte es losgehackt und klar geklopft werden. Diese Arbeit, das Loshacken, machte ein einziger Mann. Nach den Betriebsvorschriften hätten mindestens drei Mann dazu gehört. Der eine Mann nun, der nur da angestellt war und auch fertig werden sollte, konnte sich nicht anders helfen, er mußte beim Loshacken schrammen, das heißt die Salzwand untergraben, und wenn sie dann noch nicht fiel, mit Schlägel und Keule heruntertreiben. Das Schrammen war natürlich eine höchst gefährliche Sache, bei der man stets in Gefahr war, verschüttet zu werden, wenn einmal die Wand plötzlich riß. Das passierte denn auch diesem Manne. Er hinterließ Frau und Kinder. Ob aber die Armen irgendeine Unterstützung erhielten, kann ich nicht sagen. Es gab zu der Zeit noch keine Unfallversicherung. Uns ging es bei unserer Lehmwand übrigens ähnlich. Hätten wir den Lehm, wie es verlangt wurde, schichtenweise von oben abgegraben, so hätten wir nur den dritten Teil unseres kärglichen Lohnes verdient. Wir waren gezwungen, zu schrammen, trotz der Gefahr. Dazu kam, daß es von Jahr zu Jahr weniger Lohn für den Hund Lehmabfahren gab, fünfunddreißig, dreißig, bis zuletzt gar fünfundzwanzig Kreuzer. Ruhig nahmen wir deshalb die Grobheiten hin, wenn wir von Vorgesetzten beim Schrammen erwischt wurden. War uns doch nur allzu gut bekannt, daß die nur schimpften, um sich der Verantwortung zu entziehen, wenn etwas geschah. Als wir nach solcher Arbeit wieder einmal Lehm abfuhren, schlug plötzlich ein Hund auf der Halde zurück, und sofort hatte ein Mann sein Bein gebrochen. Ich und mein Bruder sprangen hin, hoben den Hund hoch, und zwei andere Arbeitskollegen zogen den Verunglückten vor. Ich weiß nicht, wann ich in meinem Leben wieder so schnell so eine Last gehoben habe, als in diesem angstvollen Augenblicke. Ein anderer Unglücksfall ereignete sich, als wir für einen neuen Gasbehälter ein sieben Meter tiefes Loch gruben. Das Bodenmaterial stand hier sehr schlecht, weil es sich aus Schichten Letten und Kies zusammensetzte und überall noch Wasser durchdrang. Bald da, bald dort rutschte ein Klumpen aus der Wand.
Neben mir arbeitete erst den dritten Tag ein neuer Mann. »Du,« sagte der da plötzlich, »das wird wohl hier rutschen!« »Ach was, wenn man immer danach gucken möchte, da würde nichts fertig werden,« erwiderte sein anderer Nebenmann. Nach einigen Minuten rutschte wirklich ein Klumpen Letten herunter. Ein Schmerzensschrei: »Jesus, Maria, Joseph!« und der neue war verunglückt; er stak mit den Beinen darunter und eins war gebrochen. Wir schleppten ihn aus dem Loche heraus. Er schimpfte und fluchte fürchterlich. Draußen legten wir ihn einstweilen auf einen Haufen Nußkohle, wo er weiter schimpfte. Zufällig kam der Bauingenieur dazu. »Was ist denn los? Was ist geschehen?« fragte er uns.
»Nu, was ist los!« schrie ihn der Verunglückte da an. »Zwei Feldzüge habe ich mitgemacht, nichts ist mir passiert, und hier in dem Dreckloche komme ich um meine Pfote!« Da wartete der Herr Ingenieur auf keine weitere Antwort und eilte schnell weiter. Wir freuten uns aber, daß es ihm der Mann wenigstens so gesteckt hatte!
Eine Mustereinrichtung in der Fabrik war zu der Zeit auch die Pensionskasse. Die Pensionisten waren nach den Dienstjahren in verschiedene Klassen eingeteilt. In die höchste Klasse gehörten Arbeiter, die einen durchschnittlichen Wochenverdienst von zwölf Gulden hatten. Ihre Pension betrug dann, nach fünfundzwanzig Jahren Dienst, monatlich dreißig Gulden. Es bestand aber die schwere Bedingung, daß zwölf Gulden auch noch im letzten Dienstjahre verdient sein mußten. Wer in den letzten drei Jahren einmal weniger verdiente, wurde sofort in eine niedrigere Klasse geworfen. Natürlich konnten unter solchen Verhältnissen nur sehr wenige Arbeiter sich des Glückes dieser höchsten Pension freuen. Meist kamen nur Vorarbeiter und Aufseher in Betracht. Heute soll das Statut zugunsten der Arbeiter revidiert sein.