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Die zweite Reise nach Sachsen

Als auch bei mir die Arbeit in der Zuckerfabrik zu Ende war, blieb ich zu Hause und ruhte ein bißchen aus. Aber der Plan, was wir den heurigen Sommer machen würden, war schon fertig: nach Sachsen gehen und in der Ziegelei, in der wir im vorigen Jahre arbeiteten, wieder anfragen, oder wenn da nichts wäre, anderwärts uns umsehen! Die Reise wurde auf nach Ostern angesetzt. Wir warteten, bis die Feiertage kamen, um dann abzurücken. Auch war mein Vater der Meinung, daß wir gar kein Geld mitnehmen brauchten. Er wollte unsere Sachen alleine tragen und ich sollte die Harmonika mitnehmen und auf dem Wege spielen; so könnten wir uns durchschleppen ohne Geld; wenn es etwas länger dauern täte, das mache ja nichts. »Uns liegt ja nichts daran, ob wir ein, zwei Tage später hinkommen.« Als Ostern vorbei war, machten wir uns gleich am Dienstag auf den Weg, und ich machte es eben so, wie es der Vater meinte. In jedem Dorfe oder Städtchen, das wir auf dem Wege trafen, spielte ich mein Spiel; er aber ging weiter, setzte sich in den Straßengraben und wartete, bis ich nachkam. Ich spielte überall, wo ich hoffte, daß ich da Geld bekomme. Auch ging ich in ein Bauerhaus, wenn wir Brot brauchten. Und so machte ich es den ganzen Weg, der vier Tage dauerte. Wir reisten über Saaz, Brüx, Oberleutensdorf, Bienenmühle auf Mulda zu. Den ersten Tag übernachteten wir im nächsten Dorfe hinter Saaz, den zweiten im nächsten Dorfe vor Brüx und den dritten Tag in Schönbach hinter Oberleutensdorf. Schönbach liegt schon ganz am Fuße des hohen Erzgebirges. Früh, als wir den hohen Berg hinaufstiegen, stand die Sonne schon hoch. Auf steilem Fußwege ging es immer höher, von dem schweren Steigen und der Sonnenwärme schwitzten wir sehr, hinter uns nahm das Geräusch der Wagen und Eisenbahnen immer mehr ab; nur hin und wieder wurde noch ein Pfiff einer Lokomotive hörbar. Dafür sangen die Vögel ihre angeborenen Lieder, als wenn sie uns Fremde begrüßen wollten. Als wir die höchste Spitze des Berges erreicht, blieb der Vater stehen, drehte sich nach der Richtung hin, von wo wir gekommen waren und sagte mit bedrückter Stimme zu mir: »Von hier können wir noch einmal einen Blick auf unser Vaterland werfen.« Nach seiner Stimme kam es mir vor, als wenn es ihn zum Weinen nötigte. Dann legte er seinen Sack weg und setzte sich auf den Rasen, und ich folgte seinem Beispiel. Er legte seine Stirne in die Handteller, stützte die Ellbogen auf die Knie, und blieb lange Zeit so sitzen. Auch mir wurde recht bange. Ich sah in das Land hin, wo unsere Heimat sein könnte, dachte daran, wie sehr die Geschwister und die Mutter geweint hatten, als wir von ihnen Abschied genommen hatten. Je länger ich darüber nachdachte, desto schwerer wurde mir mein Herz. »Was mag wohl der Vater haben? Er sitzt so traurig und ernst da?« so fragte ich mich im stillen. So saßen wir lange, aber keiner sprach ein Wort. Bis sich der Vater doch rührte und aufrichtete. Aber was sah ich da? Tränen! Große Tränen rollten aus seinen Augen in das Gras, er zog ein Taschentuch heraus und wischte sie sich ab. Wie ich das bemerkte, konnte ich mich auch nicht mehr halten und weinte auch. So saßen wir noch ungefähr eine viertel Stunde da. Dann erhob sich endlich der Vater, hockte seinen Sack auf, ich die Harmonika, und wir traten ohne ein Wort den weiten Weg an. Hundert Schritte weiter und hinter uns war nichts mehr wie eine Wand von Bäumen.

Schon weiter herab im Walde trafen wir auf ein Hegerhaus. Dort ging ich auch hin spielen. Die Frau und die Kinder sprangen aus dem Zimmer heraus, horchten mir zu und lachten, denn sie freuten sich über meine Musik. Ich aber spielte wohl fünf Stücke und bekam zwanzig Pfennige dafür. Und noch weiter im Walde trafen wir ein Försterhaus; auch in dieses ging ich hinein, zu spielen. Als ich in das Tor hereintrat, bellten mich große Hunde von allen Seiten an; bald wäre ich umgekehrt. Denn die Bestien jagten mir große Angst ein. Aber da kam eine Frau heraus, befahl den Hunden, ruhig zu sein und hieß mich hereinkommen. Auch hier kamen einige Kinder herausgesprungen, als sie mich spielen hörten und tanzten im Vorhause. Und hier erhielt ich ebenfalls zwanzig Pfennige. So eine Belohnung war ich gar nicht gewöhnt. Als ich wieder zum Vater kam und meine Verwunderung darüber aussprach, sagte er, daß hier wohl selten jemand mit einem Musikinstrument einkehre und deshalb die gute Belohnung, wenn einer kommt. Von da ging's dann weiter, über Berg und Tal, immer durch den Wald nach Rosental zu. Von Schönbach bis nach dorthin trafen wir keine einzige Straße, nur Waldwege, Fußsteige und so fort bis nach Rosental. Denn das sollte der kürzeste Weg von Brüx nach Bienenmühle sein. Der Vater sagte, daß den Weg der alte Seemann gefunden hätte, und wunderte sich, daß ihm das möglich gewesen, weil er auch kurzsichtig war. Noch vielleicht eine Stunde vor Rosental fing es an zu regnen und zu schneien. Als wir aber nach Rosental kamen, ließ es allmählich wieder nach. Auch dort packte ich meine Harmonika aus und ging wieder von Haus zu Haus spielen. Der Vater aber wartete einstweilen, kurz vor der Grenze, in einem Gasthause auf mich. Dieses Mal mußte er aber lange warten. Denn überall, wo ich spielte, habe ich Geld bekommen, fünfzehn bis fünfundzwanzig Pfennige in einem Hause, und da kriegte ich immer mehr Mut. Als ich alle Häuser vor der Grenze abgespielt hatte, holte ich den Vater ein. Aber auch in dem Gasthause mußte ich spielen. Dort waren einige Fuhrleute und andere Gäste, und jeder gab mir ein Fünfpfennigstück oder einen Groschen. Der Gastwirt aber brachte uns jedem ein Stückchen Wurst, Brot und ein Glas Bier. Nachdem wir das gegessen hatten, empfahlen wir uns und gingen weiter, über die Grenze. Dort standen auch noch Häuser, ob sie auch noch zu Rosental gehörten, weiß ich nicht mehr. Als wir mehrere Schritte hinter der Grenze waren, kam uns ein uniformierter Mann nachgelaufen und rief: »Hej, hej! Wohin? Kommen Sie zurück!« Wir kehrten um. Sie frugen uns, von wo wir kämen und wohin wir wollten. Als ihnen der Vater die Fragen beantwortet, machte der eine (ob das ein Soldat oder sonst was war, wußte ich nicht) einen hohen, schmalen Kasten auf, der nach der einen Seite ein Loch hatte, hieß zuerst den Vater sich hineinstellen, zündete etwas auf einem Teller an und machte die Türe zu. Ich sah nur noch des Vaters Kopf, den er durch das Loch hinaushielt, wobei er stark hustete. Ich schaute dem allen sehr erstaunt zu und konnte gar nicht begreifen, was sie da mit uns machten und weshalb. Danach mußte auch ich in den Kasten, hustete aber nicht, weil nicht viel Dunst mehr drin war; auch ließen sie mich nicht so lange drin, wie den Vater. Dann konnten wir weiter gehen. Ich frug den Vater, was das wohl zu bedeuten habe, und er antwortete, daß es wohl wegen der Viehseuche wäre, die in Böhmen herrsche. »Na, wir sind doch keine Viecher!« dachte ich, sagte aber nichts und ging stillschweigend weiter. Hinter der Grenze machte ich's so wie zuvor, ging in die Häuser und spielte. Überall Geld! In einem einzigen Hause gaben sie mir einen Groschen, ein Stück Brot mit Fett und noch eine Tüte voll Käsekeulchen in Leinöl gebacken. Das war im letzten Hause am Walde, von wo ich dann dem Vater nachging, der wieder hinter dem Dorfe auf mich wartete. Ich übergab ihm das Geld, er zählte alles noch einmal nach und sagte, es wären über drei Mark, was ich so verdient. Und nun ging's über den Berg, durch den Wald nach Bienenmühle hinein. Dort nahm ich wieder eins der Häuser nach dem andern mit, bis zum Bahnhofe. An diesem einen Tage habe ich mehr verdient, wie die ersten drei Tage in Böhmen zusammengenommen. Auf dem Bahnhof zählte der Vater noch einmal das ganze Geld und nickte zufrieden mit dem Kopfe: »Na, siehst du, da haben wir noch ein paar Mark bares Geld, wenn wir an Ort und Stelle kommen.« Nun warteten wir, bis der Zug nach Mulda abging. Mit dem fuhren wir.

Als wir nach Radeck in die Ziegelei kamen, war es schon Abend. Der Meister und die Großmutter empfingen uns freundlich. In längerem Gespräch sagte aber der Meister, daß heuer nicht viel Ziegel gemacht werden können, da noch viel Vorrat vom vorigen Jahr hier stände, und rückte schließlich mit der für uns traurigen Mitteilung heraus, daß er uns also heuer deshalb nicht aufnehmen und beschäftigen könne. Die heutige Nacht und auch vielleicht die nächste könnten wir aber hier schlafen, da habe er nichts dagegen.

Nach dieser Mitteilung wurde uns schlecht zumute. Oben auf dem Dachboden, wo wir uns von Stroh ein Nachtlager machten und darauf niedergelegt hatten, berieten wir nun, was jetzt zu machen sei.

»Zurückkehren, nach Hause gehen? / Aber was sollen wir da? Es gibt ja keine Arbeit dorten. Und anderwärts Arbeit suchen, die auch für dich paßt, wird schwer zu finden sein,« so überlegte der Vater, und ich horchte ratlos zu, bis wir ohne einen bestimmten Beschluß gefaßt zu haben, eingeschlafen sind.

Den anderen Tag kam uns der Meister selbst mit einem Plan entgegen. »Wenn Sie wollen,« sagte er zu meinem Vater, »dann kann der Wenzel hier bleiben, zum Ziegel wegtragen, und Sie allein finden eher anderwärts Arbeit.« Der Vorschlag des Meisters gefiel meinem Vater, aber mir nicht. Es wurde nun von neuem unter uns beraten, ich zeigte aber große Unlust, allein hier zu bleiben. Aber ich wußte natürlich auch nicht, was sonst Besseres anzufangen sei. Nach längerem Hin- und Herspekulieren entschloß sich der Vater zur Heimkehr. Jeder nahm sein Gepäck, er seinen Sack, ich meine Harmonika, wir verabschiedeten uns und begaben uns auf den Heimweg. Aber unser Gang war nun ein sehr langsamer, nur Schritt für Schritt ging es vorwärts, als wenn wir an den Haaren zurückgehalten würden.

Nach längerem Schweigen begann der Vater von neuem in seinen Erwägungen, daß, wenn wir nach Hause kommen, wir wieder anderwärts Arbeit suchen gehen müssen und es doch besser wäre, wenn ich einstweilen in der Ziegelei bliebe. Er könnte allein leichter Arbeit finden, vielleicht auch solche, bei der er auch mich unterbringen und später abholen könnte. Ich sah das alles ein. Eins wie das andere war für uns schwer. In dieser sorgen- und kummervollen Situation legten wir ungefähr eine Stunde Wegs zurück. Wir setzten uns bei einer Straßenkreuzung in den Graben unter einen Wegweiser. Der Vater öffnete den Sack, suchte etwas darin, wandte sich forschend nach mir zu: »Wo hast du dein Jackett? In der Ziegelei vergessen?« Noch einmal wurden von allen Seiten Betrachtungen gemacht, kreuz und quer erwogen, was am besten zu tun wäre. Der Vorschlag des Meisters wurde schließlich von uns beiden gutgeheißen und seine Durchführung beschlossen. Wir kehrten in die Ziegelei zurück. Der Meister war mit unserm Entschluß zufrieden.

Den andern Tag früh, es war ein Sonntag und schön sonnig, nach dem Frühstück, packte der Vater meine Sachen aus, band seinen Sack wieder zu, hängte ihn über die Achsel und nahm von Meister und Großmutter Abschied. Ich aber sah ihm traurig, schweren Herzens zu. Nun ging er fort, wohin wußte ich nicht, er wußte es wohl selbst nicht. Wie ein paar Stumme, jeder mit seinen Gedanken, so traten wir aus dem Hause. Denn ich wollte ihn noch ein Stück Weges begleiten. Wir schritten über das Bahngeleis, über die Brücke des Flusses Mulda, auf die Straße, gegen Lichtenberg zu. Keiner von uns sprach ein Wort; wir sahen einander nicht an; beide schritten wir gesenkten Kopfes nebeneinander der Straße zu. Erst als wir die Brücke überschritten, und auf der Straße waren, sah mich der Vater traurig an, und fing gleich laut an zu weinen, und ich auch. So gingen wir ein großes Stück Wegs, und konnten uns nicht trennen. Keiner machte sich bereit, Abschied zu nehmen. Als sich dann doch unsere Wehmut etwas legte, wir uns ein wenig beruhigten, waren wir schon nahe bei Lichtenberg. Da sagte mit zitternder Stimme der Vater zu mir: »Ich weiß noch eine Ziegelei in Berthelsdorf, ungefähr eine Stunde von hier, wo ich auch im vorigen Jahr anfragen war, dort gehe ich noch einmal hin fragen, vielleicht kommen wir da an, du kannst bis dorthin mitgehen, zum Zurückgehen hast du noch immer genug Zeit.« So geschah es auch. In neuer Hoffnung schritten wir nun vorwärts bis zu der genannten Ziegelei. Der Vater ging hinein anfragen, und ich wartete draußen bei dem Bündel, das er im Straßengraben abgesetzt hatte. Er kam lange nicht wieder, und das steigerte in mir die Hoffnung, daß wir doch vielleicht angenommen würden. Ach, mein einziger Wunsch war ja, daß wir beisammen bleiben könnten. Nach langem Warten sah ich ihn endlich um die Ecke des Gartenzaunes biegen. Als er näher kam, sah ich, daß er lächelte; das weckte in mir erst recht Neugierde; ich konnte es gar nicht erwarten, bis er heran war, und fragte schon von weitem: »Bekommen wir Arbeit?« Er nickte. In diesem Augenblick fiel von mir die ganze Last des Kummers und der Sorgen herunter; ich fühlte mich glücklich, wie neugeboren. Nun gingen wir zusammen noch einmal in die Ziegelei, zum Meister in seine Wohnung, wo auch ich mich vorstellte. Der Meister war ein langer, nicht sehr starker Mann, mit schwarzem Schnurrbart, sein Gesicht zeigte, daß er noch nicht alt war, aber sein Blick war nicht gerade freundlich. Seine Frau, die ein kleines Kind auf den Armen hielt, war schwach und schon etwas kleiner als ihr Mann; auch sie mochte noch nicht alt sein. Sie sprach mit uns sehr freundlich und schien gutherzig zu sein. Nebst dem kleinen Kinde sah ich noch viere sich in der Stube herumtummeln. Als sie die Harmonika erblickten, gaben sie mir keine Ruhe, ich mußte einige Stücke spielen.

Wegen der Kost, meinte der Meister, daß alles bei ihm zu haben sei, daß wir uns aber verkostieren könnten, wie es uns gefiele. Schlafen müßten wir, wenn wir wollten, auf dem Dachziegelboden. Stroh wäre hier genug, und zwei Pferdedecken könnten wir uns bei dem Ziegeleibesitzer Reichelt in Berthelsdorf holen. Auch meinte er, daß wir nicht gerade auf dem Fußboden liegen müßten, und uns ein Lager von Holzlatten und Brettern zusammennageln könnten. Er ging mit uns hinaus, uns Holz und den Dachboden zu zeigen. Dann führte er uns in den Ziegelschuppen und wies uns auch gleich die zwei Tische und Sümpfe an, wo wir arbeiten sollten. Der Vater suchte sich gleich passendes Holz aus, nagelte ein Bett zusammen, füllte es mit Stroh und deckte ein paar alte Säcke darauf. Dann erhielt er einen Zettel vom Meister, mit dem er zwei Decken aus dem Gut holte. So weit waren wir also nun versorgt. Wie alles fertig war, ging der Vater noch meine Sachen holen, und ich besichtigte mir währenddessen die Umgebung. Daß wir hier aufgenommen wurden, lag daran, daß der Ziegelmeister Leute suchte, die Wasserziegel machen konnten. Zu Wasserziegeln wird nämlich kein Sand oder Asche gebraucht. Sie werden meistens in solchen Gegenden gemacht, wo wenig Sand vorhanden und er darum teuer ist. Die einheimischen Arbeiter oder Ziegelmacher konnten also keine solche Ziegel machen. Wer aber einmal das Sandziegelmachen gewohnt war, dem fiel das Wasserziegelmachen schwer, weil das eine dreckige Arbeit war. Denn wenn man den Ball in die Form hineinhaut, da spritzt einem Wasser und Lehm ins Gesicht und überall hin.

Außer uns waren noch mehr Ziegelstreicher da. Der Walter, der Opitz, der Jünger, der Grüßbach, der Dachziegelmacher Herrmann und hinter uns kamen in derselben Woche noch zwei Brüder Wütner, die Deutschböhmen waren und auch Wasserziegel machen sollten. Eine Zeitlang arbeiteten wir ohne Lehmmacher. Der Vater machte den Lehm selbst fertig, dann die Ziegel davon, und ich trug sie ab. Die Arbeit begann alle Tage früh um vier Uhr und dauerte bis acht Uhr oder noch länger abends. Anders machte das der Vater nicht. Die andern Arbeiter fingen gewöhnlich um fünf Uhr früh an und arbeiteten bis sieben Uhr abends. Die einheimischen Arbeiter ließen sich zu dem Wasserziegelmachen nicht bewegen und machten ihre Sandziegel weiter. Der Meister ließ dann später überhaupt von den Wasserziegeln ab und wir machten alle Sandziegel. Dort habe auch ich das Ziegelmachen gelernt und fleißig meine neue Kunst geübt.

Für das Ziegelmachen wurde für tausend Stück Ziegel siebzehn Groschen, für Lehmmachen sechzehn, für Abtragen neun und für das Lehmeinsümpfen sechs Groschen gezahlt. Unsere wöchentliche Kost bestand aus drei sechspfündigen Broten, einem Pfund Butter, früh und mittags Kaffee, zum zweiten Frühstück einen halben Liter Bier oder um sechs Pfennige Schnaps, ebenso zum Vesper. Abends gab's Wassersuppen. Schlafgeld zahlten wir keins. Das Schlimmste hatten wir beim Schlafen zu leiden. Im Frühjahr waren noch die Nächte zu kalt, die Pferdedecken wärmten gar wenig. Trotzdem wir auf sie noch zwei Bund Stroh aufbreiteten und erst dann darunter krochen, schüttelte uns manchmal, daß wir mit den Zähnen klapperten, wenn wir früh aufstanden. Sehr oft, wenn uns auf dem Dachboden recht fror oder es schon vor dem Schlafengehen kalt war, nahmen wir unsere Decken, schleppten Stroh in den Ziegelofen oder ins Schürhaus und schlugen unser Lager dort auf. Der Wind blies den Staub von den Wänden herunter, und wenn wir früh aufstanden, waren Kleider, Gesicht und Hände entweder ganz rot oder ganz schwarz. Und so mag es wohl auch in der Kehle und Lunge ausgesehen haben. Im Sommer wieder, da plagten uns auf dem Dachboden die Flöhe, von denen wohl Hunderttausende oben waren. Mir machte das ja nicht allzuviel. Denn ich war so müde, daß ich trotzdem immer gut schlief.

In die größte Verlegenheit brachte es meinen Vater, daß ich hier beinahe hätte in die Schule gehen müssen. Der Ziegeleibesitzer Reichelt und auch der Meister hielten sich darüber auf, daß ich noch schulpflichtig war, und doch nicht mehr zur Schule ging. Denn darüber konnten sich die Leute hier gar nicht recht beruhigen, daß so etwas überhaupt möglich war. Der Herr Reichelt kam einigemal zum Vater und setzte sich jedesmal mit ihm wegen der Schule auseinander. Aber wenn ich in die Schule mußte, so bedeutete das für uns einen großen Verlust am Verdienst. Und deshalb bemühte sich der Vater, den Herrn zu bewegen, die Sache ruhen zu lassen. Was mich betraf, ich hätte mir ja gerade nichts daraus gemacht, wenn ich hätte gehen müssen. Wollte ich mich doch selbst in die Fortbildungsschule melden, aber auch das gab's beim Vater nicht.

Von hier schrieben wir jeden zweiten Sonntag nach Hause. Jedesmal nach dem Essen diktierte mir der Vater, was ich schreiben sollte, langsam ein Wort nach dem andern. Ich schrieb zwar gerne, aber das lange Überlegen war mir immer peinlich. Geld schickte der Vater in zwei Wochen nie mehr wie sechs Gulden. Da konnte die Mutter schreiben und betteln wie sie wollte, und ich ihm zureden, daß es doch für fünf Personen zu wenig sei; mehr gab es nicht und damit gut. »Die Mutter soll sich auch kümmern,« war jedesmal seine Antwort.

Um Kameraden hatte ich hier auch keine Not, trotzdem ich ein Fremder war. Durch mein Harmonikaspielen erwarb ich mir viele. Sonntags, wenn es schön war, machten wir jedesmal wo anders hin einen Spaziergang, und ich spielte dabei. Auch erzählte ich ihnen bei solcher Gelegenheit meine Lebenserfahrungen, was ich schon alles gemacht und gesehen hatte, und was für unterschiedliche Menschen es auf der Welt gibt. Sie hörten mir immer neugierig und gespannt zu. Denn sie wußten von allen solchen Sachen noch nichts, trotzdem mancher älter als ich war. Die meisten waren noch nicht weiter gekommen, wie bis Freiberg und kannten keine anderen Menschen, wie die aus ihrer Umgebung. Mit diesen mir fremden Jungen unterhielt ich mich viel besser, wie mit meinen Schulkollegen zu Hause. Im Herbst, als ich sagte, daß ich wieder fortging, drückte mir jeder herzlich die Hand, wünschte mir alles Gute und auch ein baldiges Wiedersehen.

Von den Arbeitern in dieser Ziegelei war niemand bemerkenswerter wie der eine Wütner. Montags hat er niemals gearbeitet, trank seinen Schnaps und Bier und ging dann in den Fluß fischen; davon war er ein großer Liebhaber. Die Kleider, die er in der Woche anhatte, die trug er auch Sonntags. Er war beinahe so gestellt, wie die Abraumbrüder in Dux. Er war ja auch nicht weit von dorten her, von Komotau. Dienstags fing er an zu arbeiten und hat dann die ganze Woche wie ein Vieh geschuftet. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er Tag und Nacht gearbeitet. Im Essen hat er dabei so gespart, daß er sich anstatt Butter nur Wurstfett aufs Brot kaufte. Samstag zu Mittag aber war bei ihm mit der Arbeit Schluß. Wenn er da seinen Lohn ausgezahlt bekommen, trieb er die Arbeitskollegen zusammen, führte sie nach Weißenborn in ein Gasthaus und zahlte für sie Trinken, Essen und Rauchen, bis sein Geld weg war. Sonntags hatte er gewöhnlich keinen Pfennig mehr. Für seine Dummheit wurde er von seinen Kollegen hinterm Rücken ausgelacht. Meinen Vater haben sie auch ein paarmal zu der Sauferei holen wollen, aber er ging nie mit; er gab immer zur Antwort, daß der Wütner sein Geld behalten solle; er kaufe sich selbst, was er brauche. Den Wütner hatten auch viele Arbeiter lieber wie meinen Vater. Solange er Geld hatte, da ließen sie ihn hoch leben, deklamierten und sangen ihm lustige Lieder vor. In der Woche dann, wenn er nur Brot mit Wurstfett aß, lachten sie und foppten ihn. Da aber tat er dann immer so, als ginge ihn das gar nichts an und machte es das nächste Mal doch wieder so. Montags sah man überhaupt wenig in der Ziegelei arbeiten, fast alles machte »blau«; sogar der Meister ging mit fischen und krebsen. Nur bei uns, den böhmischen Wenzeln, klapperten die Formen auch Montags immer. Ich hätte ja auch manchmal lieber nichts gemacht; aber ich wußte, daß mich der Vater dann sehr schief anschauen würde, und da klapperte ich eben, wenn auch ungerne, mit meiner Ziegelform weiter.

Eines Tages kam eine Frau mit einem kleinen Handwagen in die Ziegelei angefahren, in dem sie ein sehr ärmlich gekleidetes Kind sitzen hatte. Das war gerade zur Vesperpause. Auch sie selbst war sehr arm gekleidet. Ein rotkariertes Kopftuch, schwarzes, stark abgenütztes Jackett, grauer Rock und ein paar Lederpantoffel war alles, was man an ihr sah. In dem Gelände, wo der Meister wohnte, war hinten die Frühstücksstube; vorne war die Stube des Meisters. Als wir da alle um den großen Tisch saßen und unser Brot verzehrten, hörte man vorne nach dem Gustav Wütner fragen. Wütner, der mir gegenüber saß, sprang auf und lief hinaus; er mußte die Stimme erkannt haben, und schon hörte man im Vorhause seine Stimme: »Emilie, was bringt dich denn hierher / was ist dir eingefallen?« »Du schickst mir kein Geld zum Leben, und da ist mir eingefallen, hierher zu gehen und zu sehen, was du eigentlich machst, du gleichgültiger Mensch. Wegen dir könnte ich mit den Kindern verhungern. Na warte, mit dir will ich schon zusammen rechnen!« hörte man die Antwort und es wurde still. Mich aber trieb die Neugierde, zu sehen, was eigentlich los war. Ich schnitt mir schnell noch ein Stück Brot ab und lief hinaus auf den Hof, wo die Frau war. Ihre Aussprache klang sehr rein deutsch. Das war mir gleich auffällig, denn so sprachen die Arbeiterfrauen nicht; ich nahm deshalb an, daß sie gebildet sein mußte. Und nachher hörte ich auch, daß sie eine Lehrerstochter, und der Wütner vor der Verheiratung Kontorangestellter war. Mehr konnte ich nicht erfahren. Die arme Frau machte den weiten Weg, weil ihr der Mann kein Geld schickte, von Komotau bis hier her, und zog den Wagen mit dem Kinde hinter sich. Ihr Mann konnte sie hier in keine bessere Behausung, wie er sie eben hatte, einführen. In das Schürhaus, wo auch sie sich auf das Stroh in den Kohlenstaub hinlegen mußte, mit ihrem Kinde. Von nun an war es bei dem Wütner und auch bei den anderen mit dem Zechen, Fischen und Krebsen alle. In einigen Wochen aber waren die beiden mit ihrem Kinde verschwunden, gewiß nach Komotau zurück. Die besten Kollegen machten sich dann oft über die gutherzige Freigebigkeit Wütners noch lustig. Wir aber blieben so lange da, bis die Arbeit in den Zuckerfabriken bei uns losgehen sollte. Auf dem Rückwege brauchte ich nicht, wie im Frühjahr, mit der Harmonika spielen zu gehen, da konnten wir von barem Gelde leben. Deshalb dauerte unsere Rückreise auch nicht länger wie zwei Tage.

Als wir am zweiten Tage hinter Holletitz waren, schritt uns ein junger Mann nach und blieb immer so zwanzig Schritte von uns entfernt. Er sah sehr verdächtig aus. Barfuß, kurze Hosen, ein schwaches Jackett, ein schwarzer, weicher, schon abgenützter Hut war seine Kleidung. Im Munde hielt er eine halblange Tabakpfeife. Endlich kam der Fremde bis zu uns heran und fing an, mit uns zu reden. Er frug, wo wir noch hinwollten, ob wir auch aus der Fremde kämen. So kamen wir miteinander ins Gespräch.

Und da fing er an, von seiner gegenwärtigen traurigen Lage zu erzählen: »Nicht wahr? So, wie ich hier stehe, scheine ich Ihnen wohl sehr verdächtig? Aber fürchten Sie nichts, ich bin kein schlechter Mensch. Ich sehe jetzt zwar wie ein Haderlump aus, aber daß mir einmal so etwas vorkommen würde, hätte ich nicht geglaubt. Im Frühjahr, wie die Arbeit auf den Feldern bei uns zu Ende war und ich nichts zu tun hatte, entschloß ich mich, in die Fremde zu gehen. Mein Vater stattete mich aus wie einen ordentlichen Menschen. Wie ich fortging, hatte ich außer dem Wochenanzug noch einen für Sonntags, ein Paar Schuhe und auch hohe Stiefel, doppelte Wäsche, eine Taschenuhr mit Silberkette und zwei Hüte. So ging ich fort. Aber ich konnte keine Arbeit finden, und mein Geld ging zu Ende. Nach langem Suchen kam ich auch nach Dux. Und dort bekam ich Arbeit auf dem Abraum. Schon bei der ersten Auszahlung blieb mir kein Geld übrig, denn in der Kantine war alles zu teuer. So versetzte ich den Überzieher und hoffte, daß die zweite Auszahlung besser werde, hatte mich aber getäuscht. Dann kam die Uhr daran, und so ging das fort, bis mir nichts blieb, wie das, was Sie an mir hier sehen. Wäre ich noch länger dort geblieben, hätte ich auch noch das letzte heruntergerissen, und mich dann wie die andern in Säcke einhüllen müssen. Ich hätte dann erst recht nicht mehr fort gekonnt. Das überlegte ich mir noch und machte, daß ich von dort fort kam. Nun muß ich sehen, daß ich in der Nacht nach Hause komme; bei Tage muß ich mich schämen.«

Uns erzählte der Mann damit nichts Neues; wir glaubten ihm das alles sehr gerne, daß er es durch seine Unerfahrenheit in Dux auf dem Abraum so weit gebracht hatte. Nun erfuhr er auch von uns, daß auch wir im vorigen Jahre das Leben dort durchgemacht hätten und es also kannten. Über diesen Mann und sein Erlebnis auf dem Abraum in Dux dachte ich lange nach. Wie viele Menschen mögen da nicht zu Lumpen geworden sein! Wie viele Menschen, die dort ihr Glück suchten, sind da wohl schon todunglücklich geworden? Die »Herren« aber reich von deren Unglück.


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