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Wandlungen und Wanderungen

Eine Woche lang etwa ging ich nun wieder von einer Fabrik zur andern, Arbeit zu suchen. In der Glasfabrik war mir's zu warm. Bauten aber waren noch wenig im Gange.

Eines Tages besuchten mich Kolar, Kroupa und noch ein mir unbekannter Mann, auch ein Tscheche, namens Nikula, wie er sagte. Er erzählte uns, daß er in Skaska in Sachsen arbeite, wo der Torf abgedeckt und Briketts daraus gepreßt würden. Die Arbeit dort wäre eine dauernde und gut bezahlte; vier Mark täglich wäre das wenigste, was man da verdienen könnte. Das Logis gäb es von der Fabrik auch noch umsonst, und die Kost in der Kantine sei sehr billig. Das schien nicht schlecht! Es lockte. Es dauerte gar nicht lange, und die Reise war beschlossen, für ihren Antritt schon der nächste Tag bestimmt.

Und wirklich, am folgenden Tage nach der Mittagsstunde machten wir uns auf den Weg. Sobald wir das Freie erreicht, zog ich meine Harmonika hervor, und wir schritten lustig nach der Musik und hoffnungsvoll aus, über Berg und Tal nach Pirna zu, von wo es mit der Eisenbahn weiter nach Kamenz gehen sollte. Mein Reisegeld, das ich einstecken hatte, war aus dem ins Leihamt gewanderten Überzieher destilliert, und Kolar seins aus seinem Winterrock, der ihm jetzt auch nichts nutzte, nachdem es so warm war. Wie es bei dem Kroupa mit dem Gelde stand, wußte ich nicht.

Nachdem wir in Pirna auf der Herberge jeder eine Portion Pferdefleisch verzehrt und uns dann ausgeschlafen hatten, ging es weiter. Es war ein schöner, sonniger Sonntagmorgen, als wir nach dem Bahnhofe gingen. Wir waren so froh und atmeten mit Wonne die frische duftende Luft der Sächsischen Schweiz ein. Wir ahnten nicht, wie enttäuscht und niedergeschlagen wir nach acht Tagen wieder hierher zurückkehren würden. Von Kamenz ging es zu Fuß weiter nach Skaska, aber wieder unter Musikklängen und mit Gesängen. Der Weg dorthin war ungefähr drei Stunden lang. Und es mußte öfters eingekehrt werden.

Als wir bereits am halben Wege auch wieder mal Rast machten, um uns durch ein Gläschen Bier zu erfrischen, frug der Gastwirt, wohin wir wollten, und als er es von uns gehört hatte, meinte er: »Na, dort wird nichts zu holen sein!« Aber als er noch weitersprechen wollte, wurde er von einem soeben eingetretenen Gaste unterbrochen. Unser Führer aber drängte, daß wir bezahlten und weitergingen.

Endlich erreichten wir das Ziel unserer Hoffnung, Skaska. Nach dem Marsche »Philipowitsch« rückten wir, der Nikula an der Spitze, in ein links an der Straße stehendes Gasthaus, wo uns einige unserer Landsleute bewillkommten.

Nachdem wir ein Bißchen gespeist und uns erfrischt hatten, wurden wir dem Schachtmeister Schwandera, auch einem Landsmanne, vorgestellt, der uns unsere Papiere abnahm und uns in die Kaserne führte, die von draußen eher einem größeren Ziegenstall ähnelte, niedrig gebaut war und kleine viereckige Fenster hatte; auch die Türlöcher waren ganz schmal und niedrig. Das mochte ja noch gehen. Geradezu erschrocken aber war ich, als wir in das Innere traten. Der Fußboden war mit Ziegeln gepflastert, man sah sie aber vor Dreck nicht. Die Wände zeigten nur noch Spuren, daß sie früher mal geweißt wurden. In der Kammer, in die wir gewiesen wurden, standen zwei Pritschen mit einem Doppellager, eins unten und das andere oben an der Decke. Die Strohsäcke aber und die Decken, die waren nicht nur schmutzig, sondern schwarz! Diese Beherbergung machte auf uns einen ganz niederschmetternden, abschreckenden Eindruck. Sie veranlaßte uns, uns sofort über die Verhältnisse zu erkundigen. Es gelang mir, unter denen, die schon dort arbeiteten, einen Mann herauszufinden, der mir ehrlich alles erzählte.

»Mensch, erst acht Tage bin ich hier, aber mir wachsen schon Hasenhaare,« das waren die ersten Worte, die ich von ihm hörte, als ich ihn auszufragen anfing. Und dann fuhr er weiter. Die Herren von der Torfgrube täten, wenn sie Not hätten, Leuten guten Verdienst versprechen, wenn aber halbwegs ein Stück des Torfes abgedeckt wäre, so sinke der Lohn immer schnell, von Woche zu Woche. Die Kollegen, die schon länger da wären, hätten anfangs über vier Mark den Tag verdient, aber am letzten Lohntag hätte es nur noch zwei Mark achtzig Pfennig gemacht. In dem Zigeunerlager müßte man immer Angst haben, daß man Läuse kriege. Und die Kost in der Kantine wäre auch nichts weniger als gut und billig. »Na, wenn es nicht einmal Polacken hier ausgehalten haben, dann kannst du dir's schon vorstellen,« bemerkte er am Schlusse. Das war ein schöner Trost. Als ich meinen Kollegen erzählt hatte, was ich von dem Manne gehört, sagte Kolar: »Ja, aber anfangen müssen wir, mag es nun sein, wie es will. Zurück können wir nicht.« Und recht hatte er ja.

Als wir am nächsten Tag früh ausrückten, zählte die ganze Partie dreiundzwanzig Mann. Über dem Torfe, auf der Stelle, wo wir abdeckten, lag über zwei Meter hoch lauter sandiges Material, das mit Blechhunden oder Loris in die Löcher, wo der Torf schon heraus war, geschafft wurde. Bei jedem Hunde waren wir zwei Mann. Von der Mannschaft waren zwanzig Tschechen, die übrigen waren Deutschböhmen.

Die Arbeit ging rasend rasch, wie um die Wette.

Die bei den ersten drei Hunden hatten immer am schnellsten vollgeladen und sausten davon, und die hinter ihnen zwangen sich nun, ihnen ebensoschnell nachzukommen. Wir, die Neuen, waren die letzten. Bis zu Mittag taten wir so mit; aber dann hatten wir schon das ganze Spiel durchschaut. Die ersten drei Mann waren die rechte Hand des Schachtmeisters; unter ihnen befand sich auch der Nikula. Gewiß erhielten sie mehr Lohn, damit sie uns »anführten«. Nachmittags schon, als wir Hinteren nicht so verrückt mehr mittun wollten und bei jeder Tour zurückblieben, verteilten sich die ersten drei, einer vorn, einer in die Mitte und der dritte hinter uns. Aber sie bemühten sich umsonst; es ging nicht mehr hinten und auch nicht mehr in der Mitte, weil wir beim Mittagessen allen die Essenz dieser Arbeitspolitik in das Essen gemischt hatten. Das war gar nicht so schwer geworden, denn die Leute hatten es schon längst selbst satt. Das verrückte Antreiben und dazu der immer geringere Lohn hatte sie schon höchst unzufrieden gemacht …

Als wir Donnerstag früh aufstanden, regnete es stark, und nach den dichten Wolken war nicht zu hoffen, daß es den Tag über viel besser werden würde. In solchen von der Natur verschuldeten Feiertagen kommt es vor, daß man aus langer Weile zusammenkriecht, über dies und jenes spricht und kritisiert. So war's auch diesmal. Alles, was mir am Sonntag der Koula erzählte, wurde von allen wiederholt und bestätigt. Jeder hatte große Lust, den Kram hinzuhauen. Und schließlich kam es so weit, daß alle dafür stimmten, am morgigen Tage die Arbeit nicht eher wieder aufzunehmen, bis ein sicherer Lohnsatz festgestellt, die Schlafräume gereinigt, ausgeweißt und unsere Nachtlager, Strohsäcke und Decken durch neue ersetzt waren.

Alle waren damit einverstanden. Nur die drei, die es mit dem Schachtmeister hielten, nahmen an der Beratung nicht teil. Am Nachmittag rieselte es nur noch. Der Schachtmeister holte uns ein-, zweimal und wie er zum drittenmal kam, zeigten seine Gesichtszüge und Stimme, daß er schon erbost war. »Nu, also, was wird, wollt ihr gehen oder nicht? Ich hole euch zum letztenmal!« »Und wenn Sie noch einmal kommen, werden Sie hinausgeschmissen!« rief da der Kolar, und damit war der Krieg bereits erklärt.

Als wir den nächsten Tag früh aufstanden, bemerkten wir erstaunt, daß neun Mann unserer Kolonne, die gestern auch mit geschworen hatten, die Arbeit einzustellen, längst aus ihren Nestern und wieder an die Arbeit in die Grube geflogen waren. »Was nun?« hieß es. Die Mehrzahl war der Meinung, überhaupt nicht erst mit den Herren zu verhandeln und lieber gleich ganz aufzuhören. Und so wurde es auch gemacht.

»Heute gibt's kein Geld, erst morgen abend!« schrie uns der dicke Kassierer mit bombastischer Stimme an, als wir in das Kontor kamen und ausgezahlt zu werden verlangten. Verblüfft drückten wir uns hinaus; keiner wußte in dem Augenblicke, was wir anfangen sollten. Ich und noch einige Kollegen gingen und besichtigten das wendische Dorf. Doch von der Sprache, die die Insassen sprachen, verstanden wir hin und wieder nur ein Wort, aber nicht den Zusammenhang. Dann gingen wir in das Gasthaus, wo wir die übrigen Kollegen antrafen. »Bis morgen abend hier aufs Geld warten, können wir nicht, da verzehren wir mutwillig noch die paar Pfennige, die wir rauskriegen!« hieß es. Dem stimmten alle zu. Und der Gastwirt erzählte, daß es den Polen auch so gegangen wäre, und was für eine Rebellion sie gemacht hätten. Ich riet nun den Kollegen, heute noch energisch das Geld zu verlangen; in Gutem richte man bei dieser Sorte von Leuten nichts aus. Wieder gingen wir nun zum Kassierer hin. Ich wurde vorgeschoben als Sprecher, weil ich am besten Deutsch konnte. Der aber speiste uns gerade wieder so ab, wie das erstemal. »Herr Kassierer, wenn wir bis Mittag das Geld nicht haben, werden wir es uns zu erzwingen suchen,« sagte ich keck und forderte die hinter mir stehenden Kollegen auf, sich nicht zu rühren. »Na, da holt mal den Schachtmeister!« sagte er schließlich. Da begaben wir uns alle hinten nach der Grube, um den Lumpen zu holen. Der aber wollte, als er uns sah, ausreißen; aber wir umzingelten ihn und nahmen ihn wie einen Gefangenen in unsere Mitte.

»Sie gewissenloser Schuft! Sie geben sich dieser Gesellschaft hier als Sklaventreiber her, holen Leute von Böhmen her, versprechen ihnen hohen Lohn, wo Sie wissen, daß alles nur Lüge ist. Sie verdienen, daß sich jeder hier einen Knüppel abschneidet und Sie ordentlich durchhaut,« so schnauzte ich ihn nun an. Und die andern legten jeder noch ihr Scheit dazu. So ging es bis vor ins Kontor. Wir führten ihn wie einen Verbrecher, und er wagte nicht, jemandem etwas zu erwidern. Es war auch sein Glück, denn jeder hatte in diesem Augenblick Mut im Übermaß. Bevor es zwölf war, hatten wir unser Geld. Ich bekam nach Abzug des Kostgeldes noch fünf ganze Mark und ein paar Pfennige heraus.

Die drei Deutschen fuhren nach Kiel auf den Hafenbau, Kolar, Kroupa und ich nach Dresden, die übrigen zurück nach Böhmen. Wir hofften, in Dresden Arbeit zu bekommen. Unsere Hoffnung erfüllte sich aber nicht. Wir suchten den ganzen Samstag Arbeit, fanden aber keine. Dann hofften wir wieder auf den Montag. Die erste Nacht, die wir in Dresden zubrachten, schliefen wir in der Neustadt. Aber dort war's uns zu teuer, deshalb schlug Kolar, der hier schon bekannt war, vor, das Asyl aufzusuchen, wo Nachtmahl und Schlafen unentgeltlich wären. Als wir es fanden, lasen wir auf der Tafel über der Tür: »Einlaß nur von sieben Uhr an!« Es war aber erst fünf. Wir spazierten also noch weiter in den Straßen der Stadt umher und beschauten die Schönheiten und Reichtümer in den verschiedenen Schaufenstern. Schließlich traten wir in ein kleineres Gasthaus ein, um wenigstens ein Glas Bier zu trinken. Als die anwesenden Gäste meine Harmonika erblickten, baten sie, daß ich spielen sollte, was ich auch tat. Es gab dafür zu essen und zu trinken und auch noch einige Groschen Trinkgeld. Ein Dienstmann, Bruder der Gastwirtin, sie waren alle auch Österreicher, riet uns, am Montag früh nach Plauen zu gehen, dort würde mit dem Bau einer Villa begonnen.

Im Asyl gaben wir unsere Papiere ab, zogen die Schuhe aus, fuhren in die vom Asylvater uns hingelangten Strohpantoffel und warteten dann auf der Bank sitzend, was noch kommen sollte. Die Not hatte viele hierher getrieben. Das Warte- und Speisezimmer war voller Menschen. Schließlich rief jemand: »Suppe!«

Alle erhoben sich, liefen den Gang entlang und drängten an den Schalter. Ich mit meinem vollen Magen folgte als letzter. Es gab Mehlsuppe. Gut, daß einer neben mir noch mehr Hunger hatte, als er aus seiner Schüssel alles herausgelöffelt hatte. Er verzehrte meine Portion Suppe und Brot mit. Dann, nach längerer Zeit, hieß es: »Schlafen gehen!« »Gott sei Dank!« denn hier wurde einem alles zur Ewigkeit. Jeder saß still auf der Bank, wie in einer Kirche. Oben im Schlafsaal suchte ich mein Lager Nummer 37. Ich griff und tastete, aber ich griff auf lauter Eisen und Draht. Ich nahm das Leintuch herunter, aber ich fand keinen Strohsack, keine Matratze, nur ein Drahtnetz. Ja, da mußten die armen Tierchen, die einer bei sich hatte, alle durchfallen. Na, ich schlief aber doch gut. Früh gab's wieder die Mehlsuppe. Dann kamen zwei Polizisten und nahmen vier unserer Schlafkollegen mit. Und am Sonntag abend gingen wir, weil ich vom Asyl nichts mehr wissen wollte, auf die Herberge zur Heimat in der Neuen Gasse.

Montag früh zogen wir nach dem Bau in Plauen; aber es standen schon mindestens hundert Mann da, als wir hinkamen, und von denen wurden etwa zehn Mann angenommen. Wir konnten wieder unseres Weges gehen. Nun sahen wir schon, daß uns nichts anderes übrigbleibe, als nach Böhmen zurückzukehren. Doch wollten wir erst noch, nach Kolars Rat, zum österreichischen Konsul und um eine Reiseunterstützung bitten. Und wir warteten auch noch auf dies Nichts bis elf Uhr. »Ja, Freunderl, Sie sind noch nicht lange genug auf der Reise. Da geht's nicht, da kann ich nichts geben,« erwiderte der Herr Konsul auf meine Bitte sehr freundlich. »Aber eine Anweisung an die Volksküche will ich Ihnen noch geben,« fügte er bereitwillig hinzu, nachdem ich ihn noch einmal zu erweichen versucht hatte. Sonst war nichts zu erhalten, und auf die Anweisung verzichteten wir.

In der Mittagsstunde rückten wir dann von Dresden ab. Unsere Barschaft betrug nun zusammen noch dreißig Pfennig. Traurig und beklommen, langsamen Schrittes zogen wir heimwärts. Ja, es schien, als befänden wir uns zwischen zwei Naturkräften: die eine stieß uns ab, die andere zog uns an. Es mochte elf Uhr abends sein, als wir nach Berggießhübel kamen; aber unser Marsch sollte bis nach Hause fortgesetzt werden. In einem Gasthause rechts an der Straße war noch Licht. Kroupa, der nicht mehr weiter gehen wollte, meinte: »Ach, hier hätten sie uns gewiß über Nacht behalten; wenn wir im Stalle schlafen, kostet es nichts.« »Du wirst mich die Sachsen kennen lehren! Nicht einmal im Stalle lassen sie dich umsonst ruhn«, entgegnete Kolar jähzornig.

Beide warfen ihre Bündel auf die Straße und stritten sich laut miteinander, bis sie gleichzeitig in das Gasthaus hineinliefen. Ihre Naturen verrieten, daß sie eben Schuster waren. Wir schliefen wirklich auch im Stalle. Früh aber verlangte der Wirt von jedem fünf Pfennig Schlafgeld. Wir entschuldigten uns mit unserer Armut und blieben es schuldig und marschierten nüchternen Magens weiter.

Erst in Peterswalde, als der Kroupa sein Schuhmacherwerkzeug, das er mithatte, verkaufte, konnten wir uns satt essen. Ein halbes Brot und eine große Schüssel voll Buttermilch von einer Bäuerin, taten uns sehr gut. In der Dämmerung schlichen wir dann nach Hause, weil wir von Bekannten nicht erblickt werden wollten.

Oberhalb der Pockauer Straße in Aussig, unter der Königshöhe, hatten die Herren Industriellen einen bisher menschenleeren und verwilderten Winkel, wo man sich abends im Dunkeln zu gehen fürchtete, zu ihrem Ruheort gewählt. Er wurde planiert, Anlagen und Kanalisation angelegt, und dann schossen die Villen eine nach der andern empor. Jeder Mensch staunte, was für ein Paradies aus dem Dreckloch geworden war.

Auf der linken Seite der Pockauer Straße aber, am Friedhofe, fing nun auch die Stadtgemeinde mit dem Bau eines Armen- und Waisenhauses an. Auch eine evangelische Schule entstand dort. Die Bauten waren dem Baumeister Kehler übertragen. Es war also vorderhand Arbeit genug. Dort fand auch ich nach meiner trüben Rückkehr und zwar beim Bau des Armen- und Waisenhauses, Beschäftigung als Handlanger für neunzig Kreuzer Tagelohn. Das, was mir vor acht Tagen noch nicht getaugt, war nun gut. Doch machte ich diese Arbeit nicht lange, denn ich kam nach einigen Tagen zu einer Akkordpartie, und grub einen zwischen den obengenannten Häusern stehenden Hügel mit ab, der über zwei Meter hoch war, und von dem das Material auf die neuangelegte Friedhofstraße gefahren wurde. Bei dieser Abgrabung verdiente ich, wenigstens in den Sommerwochen, doch noch zehn bis zwölf Gulden. Freilich dehnten wir die Arbeitszeit fast so lange wie in den Ziegeleien aus. Meine Landsleute, mit denen ich schaffte, und die vom Lande angewandert kamen, kannten ja überhaupt noch keine normale, menschliche Arbeitszeit.

Die Luis ging auch wieder mit auf die Arbeit. Sie arbeitete an der Elbe, bei den Kohlenkarrern, und verdiente ganz leidlich, an manchem Tag sogar zwei Gulden, dann freilich auch wieder noch nicht einen, je nachdem die Karrer viel oder wenig zu tun hatten. Auch kamen Tage, wo sie gar nichts verdiente. Ihre Arbeit war schwer, besonders für eine Frau. Für zwei Gulden mußte sie zweiundeinhalb Waggon Kohle in Karren laden. Sie leistete aber die Arbeit doch. Ihre Mutter, die auch wieder bei uns war, versah das Häusliche und die Kinder.

Unser Partei- und Vereinsleben ging dabei seinen Gang weiter. Durch den Verein hatten wir nun doch ständig Zutritt zu den Leuten, und es gelang uns so, immer mehr Anhänger für unsere Idee und Leser für die Arbeiterblätter zu gewinnen. Unser Verein hatte nun schon über ein Jahr seiner Existenz hinter sich und freute sich des Glückes, von der Polizei nicht aufgelöst zu werden. Er wollte nun auch sein erstes Gründungsfest feiern, und mir wurde aufgegeben, die Festrede zu halten.

Es war keine leichte Aufgabe für mich, diese Festrede zurechtzumachen und vorzutragen. Aber ich opferte gerne die freien Abendstunden, die das erforderte. Überzeugung und Liebe zu der großen Idee geboten mir so. Und auch ein bißchen Ehrgeiz erwachte in mir, denn ich strebte nach Anerkennung! So wie die Schnecke von den Sonnenstrahlen aus ihrem Gehäuse getrieben wird, so kroch auch ich unter den Strahlen der werdenden Freiheit aus meiner Nichtigkeit. Und mein Werk gelang. Es war zugleich meine Jungfernrede gewesen.

Als dann die Tage kürzer und die Vereinsversammlungen besser besucht wurden, studierte ich mir wieder und diesmal einen längeren Vortrag ein über Zweck und Nutzen eines Vereines. Die Gehirnmuskeln, die infolge der früheren geringen geistigen Tätigkeit bald verkümmert waren, härteten sich dabei immer mehr ab, und die geistige Kost wurde von dem bisher ans Faulenzen so gewöhnten Gehirn immer leichter verdaut. Auch dieser Vortrag fand allseitigen Beifall. Wie ich dann mit der Luis nach Hause ging, lobte auch sie mir seinen Inhalt, sowie mein ganzes Auftreten. »Ich hätte dir gleich, während du sprachst, einen Kuß geben können!« sagte sie freudig und schmiegte sich an mich.

Das trieb mich zu immer neuen Studien und Vortragsversuchen. »Arbeiter und Bildung«, »Arbeiter und Literatur« und ähnliches wurden meine Lieblingsthemata. Das schlechteste war, daß die tschechische Literatur an solchen Schriften noch so arm war; besonders fehlten größere naturwissenschaftliche und volkswirtschaftliche Werke. Dieser Umstand nötigte mich immer mehr, auch das Deutschlesen zu üben, was freilich anfangs nur sehr mühsam vorwärtsging. Und eine Übersetzung ins Tschechische erforderte mit Hilfe des Wörterbuches manchmal mehrere Abende. Ein Kundiger wäre damit vielleicht in einer Stunde fertig geworden.

Ungefähr fünf Wochen vor Weihnachten endete die Arbeit bei dem Armenhause. Die meisten von uns wurden ganz entlassen und die übrigen auf andere Bauten verteilt. Ich kam zum Glück zum Schleusenbau, wo ich achtzig Kreuzer für den Tag Lohn erhielt, da wir nur von sieben Uhr früh bis fünf Uhr abends arbeiteten. Die letzten paar Tage vor Weihnachten, wo dann auch der Schleusenbau zu Ende war, arbeitete ich dann noch auf dem Bau einer Villa.

Dann aber machte die Natur uns einen bitteren Strich durch die Rechnung. Sie reihte an die Weihnachtsfeiertage einen unfreiwilligen nach dem andern, gleichgültig, ob wir etwas zu schmausen hatten oder nicht. Sie hüllte die Erde in ihr weißes Gewand und ließ sie gefrieren. »Kommt wieder, wenn andere Witterung eintritt!« sagte der Polier Schlesinger, als wir nach dem neuen Jahre wieder bei ihm anfragten. Sehr gut gemeinte Worte! Und doch ist ihr Inhalt für den, dem sie gelten, schrecklich!

Die Luis keine Arbeit. Und ich nun auch nicht!

Wie werden wir leben? Die Miete bezahlen? Was wird mit uns werden? Hunderte solcher sorgenvollen Gedanken wirrten einem da im Kopfe. Mir war so, als ginge ich unter einer sehr schweren Last heim. Und es verging eine Woche nach der andern, immer mühte ich mich vor einer wie der andern Fabrik umsonst ab. Denn ich war nicht der einzige, der Arbeit suchte. Hunderte solcher Unglücklichen wanderten umher so wie ich. Unsere bescheidenen Ersparnisse waren nun erschöpft, und wir machten Schulden beim Kaufmann, Milchhändler und anderen. Schließlich bekam die Luis wieder etwas Arbeit in der Glasfabrik, und so lebten wir von ihrem Verdienst und von dem, was die Schwiegermutter an den zwei Kostleuten verdiente. Ich aber, ich griff schließlich zu einer Beschäftigung, von der mir früher nicht einmal träumte, und von der ich mir nun ein schnelleres und ergiebigeres Fortkommen versprach.

In den Zeitungen standen Inserate, in denen ein leichter und hoher Verdienst versprochen wurde. Ich nahm eine Agentur für Kautschukstempel an. Fünfzig Prozent Verdienst, das zog freilich! Drei Gulden für die erste Musterkollektion brachte ich noch auf. Dann nahm ich auch noch Wandbilder dazu. Bald aber sah ich ein, daß auch dieses Geschäft nicht so leicht sei, als wie es für den Unerfahrenen aussieht. Bald mußte ich mir gestehen, daß ich, der in seinem Leben nur mit Schaufel und Hacke zu tun hatte und von der Geschäftswelt rein nichts verstand, zu solchem Agenten schon gar nichts taugte. Ich verdiente nicht einmal so viel, daß ich mich selbst hätte ernähren können. Auch fehlte mir vor allem die Rücksichtslosigkeit, den Leuten meine Ware als unentbehrlich einzureden. Ich konnte wohl jemand von der Not, und wie ihr abgeholfen werden könnte, erzählen, aber ihm Lüge als Wahrheit einzureden, das brachte ich nicht fertig.

Bisher hatten wir, ich, Luis und ihre Mutter, friedlich gelebt, trotzdem wir uns in allen unseren früheren Wünschen so gründlich getäuscht sahen. Nun aber, wo der Verdienst so niedrig war, dann überhaupt ausblieb und dafür richtige Not in unserem Haushalt einbrach, entstand auch bei uns Unzufriedenheit. Nun kam es öfters zu Zank und Streit unter uns, wobei gewöhnlich mir die Hauptschuld an der Not vorgeworfen wurde. »Wenn du dir eine Arbeit in der Fabrik suchen würdest, wie andere Männer, wo gleich ganzjähriger Verdienst ist, so brauchten wir nicht in dem Kummer zu leben wie jetzt.« Oder es kam gar noch der Vorwurf von beiden Zungen geflogen: »Wenn du in deine sozialistische Dummheit nicht so verbissen wärest, hätten sie dich nie aus der chemischen Fabrik hinausgeschmissen!« Wenn sich dann solche Vorwürfe fast bei jedem Frühstück, Mittag- oder Abendessen wiederholten, wo ich selbst schon die Entbehrungen hart genug fühlte und mir selbst ohnehin nicht gut war, da trieb es mich manchmal in die Wut. Und ich konnte mich nicht mehr beherrschen und vergriff mich an der Luis. Und wenn mich dann das Geheul der Frauen und die Reue über alles hinaus ins Freie getrieben, war mir's oft bitterbös ums Herz.

Als es dann wieder wärmer wurde, und die Maurer mit ihren Kellen herausgekrochen kamen, warf ich nach den so bitteren Erfahrungen mein Agenturgeschäft ganz beiseite, ließ mir meine Lehmhacke schärfen, richtete mir die Schaufel wieder vor, die ich schon niemals mehr zu brauchen gehofft hatte, und griff wieder zu dem Beruf, in dem ich schon als Junge gefrondet. Ich fing wieder beim Baumeister Kehler zu scharwerken an und grub nun mit noch einigen Arbeitskollegen in unserem Aussiger Millionenviertel den Grund für eine neue Villa. Sechs Wochen ungefähr dauerte der Akkord, dann gab's wieder Taglohn, einen Gulden. Kaum aber hatten wir uns ein bißchen erholt, so starb uns ein Knabe. Es war der zweite Knabe und unser drittes Kind. Denn vor ihm hatte die Luis auch einem Mädchen das Leben geschenkt. Und wir lebten immer noch / wie die Bodenbacher die wilde Ehe nennen / auf Probe! Der Junge war zwar noch nicht alt geworden, erst sieben Wochen, aber sein Sterben tat uns doch leid, und wir weinten um ihn. »Es ist besser, daß ihn der liebe Gott wieder zu sich nahm, was hätte er hier auf der Welt? Dort ist er gut aufgehoben,« tröstete uns die Mutter. Und uns / das Herz tat weh bei solchen Gedanken / uns war das in unserer Notlage schließlich gar recht!

Von dem Villabau wurde ich dann auf den Bau einer kleinen chemischen Fabrik nach Türmitz versetzt, wo ich auch in Taglohn etwa fünf Wochen zubrachte, bevor ich rechtzeitig wieder in die Glasfabrik eintrat. Denn solchen Winter wie den letzten wollte ich nicht nochmals durchmachen.

Der Portier Wanek, bei dem ich deshalb schon, währenddem ich noch auf dem Bau arbeitete, um Arbeit bat, ließ mir schließlich durch Luis sagen, daß ich kommen solle. Er stellte mich in der Steinmühle ein, wo wieder Tag und Nacht abwechselnd gearbeitet wurde. Lohn gab es zwar auch dort nicht viel, nur einen Gulden die Schicht, aber ich war doch für den Winter gesichert, und ich blieb auch bis ins Frühjahr bei dieser Arbeit. Und auch meine Luis arbeitete wieder mit mir in dieser Fabrik.

Noch bevor wir in der Glashütte anfingen, mieteten wir eine Wohnung nahe bei ihr, außerhalb der Stadt. Dadurch entzog ich mich zugleich dem Vereins- und Parteileben. Denn ich hatte mir vorgenommen, einmal eine Zeitlang alles beiseite zu schieben, um mich erst wieder materiell erholen zu können. Doch aber gab ich deswegen das geistige Leben nicht auf. Ich las wie immer meine Zeitungen und Bücher. Und es war mir nicht zum Schaden, daß ich nirgends hinging, da ich viel mehr Ruhe und Zeit gewann, um mich allein dem Lesen widmen zu können.

Diesen Winter entschlossen wir uns endlich, auch »vor Gott« unsere Ehe zu schließen. Uns war das freilich egal, ob wir so oder so beisammen lebten. Mir lag aber daran, daß die Kinder doch auch ihren rechtmäßigen Vater hatten, wie ich das auch dem Dechanten Weis sagte, als ich die Trauung bei ihm bestellte. Daß uns wirklich nur daran lag, bewies schon der Verlauf unseres Hochzeitstages. Früh um sechs Uhr waren wir in der Kirche und nach acht Uhr, nach der Frühstückspause, traten wir schon wieder unsere Arbeit an. Es gab also keinen Hochzeitsschmaus und -braus! Es verursachte uns auch keine Ausgaben, da ich die zwei Gulden, die die Trauung kosten sollte, schuldig blieb.

Im Frühjahr wurde ich dann aus der Steinmühle an den Glasofen der ersten Glaswanne als Schürer versetzt, wo ich zwanzig Kreuzer die Schicht mehr Lohn erhielt. Auch mein Bruder Albert, der inzwischen vom Militär nach Hause zurückgekommen war, und dem es in der Zuckerfabrik nicht mehr paßte, schaffte nun bei diesem Ofen mit. Und schließlich arbeitete auch der jüngste Bruder Gottlieb in dieser Fabrik, da ich ihn, als ich die Eltern einmal besuchte, mitgenommen hatte, damit wenigstens er die Glasmacherei lernen könnte, die er bis heute auch noch betreibt.

Auch bei der ersten Glaswanne blieb ich nicht lange. An dem Weißglasofen wurde eine Schürerstelle frei, und der Betriebsleiter Kögler wollte jemand hinhaben, der beide Sprachen, Deutsch und Tschechisch, konnte. Ich meldete mich und kam auch an. Der Lohn dort war zwar nicht höher, als an anderen Öfen, aber die Arbeit bedeutend leichter. Unter den Glasmachern herrschte noch alte Zunftsitte, da ihre Arbeit, die Herstellung von Biergläsern, Krügen, Vasen, eine mehrjährige Lehrzeit erforderte. Zwischen diesen Glasmachern und den Flaschenmachern war etwa derselbe Unterschied wie zwischen einem Kunst- und Bauschlosser. Auch der Betriebsleiter dort verfuhr mit uns Arbeitern menschlicher und anständiger. Er ließ uns manchen Nebenverdienst zukommen, wenn wir, ich und der Schürer Thomas vom Hafenofen nebenan, Nachtschicht hatten.

Am schwersten hatte es mein Schmelzer, namens Tischler. Die Glasmacher an unserem Ofen schafften sechs Schichten zu elf Stunden in der Woche, wenn sie zu arbeiten anfingen, ging der Schmelzer schnell nach Hause schlafen, besorgte danach mit dem Kohlenschieber den Glasofen und regulierte auch noch das Feuer im Ofen, je nachdem, wie es die Glasmacher brauchten. Die Glasmacher arbeiteten 66 Stunden in der Woche, er auf diese Weise 102. Und diese Arbeit verrichtete dieser Mann schon zehn Jahre lang! Aber er ist dabei auch halb verrückt geworden. Am schlechtesten war es mit ihm immer Sonntags, wo seine Schicht mittags anfing und bis Montag früh sechs Uhr dauerte. Da fuchtelte er bald mit dem, bald mit jenem Werkzeug umher, brummte und schimpfte, und wenn er sich dann schließlich einen ordentlichen Schnaps geholt hatte, da sahen wir ihn dann manchmal, wie er in die Werkstatt trat und seinen Hintern gegen das Kontor zeigte. Mit dem Munde machte er aber keinen Lärm, tat auch uns nichts zum Trotz. Ich dagegen freute mich wieder, wenn Schmelzschicht war, da ich da nur den Glasofen zu besorgen hatte und dabei einige Stunden einnicken konnte, wenn er angeschürt und mit Kohlen gefüllt war. Das ermöglichte mir, daß ich mich dann wieder zu Hause dem Lesen mehr widmen konnte.

Und bei dieser Arbeit habe ich denn auch das Deutschlesen und -schreiben gründlich gelernt. Die sinnreichen Titel der Bücher: »Kraft und Stoff«, »Darwinsche Theorie« und andere trieben mich mit aller Gewalt, die Sprache, in der sie geschrieben waren, ganz genau zu lernen. Denn in tschechischer Sprache bekam man ja solche Werke nicht oder doch nur schwerverständliche kurze Auszüge von ihnen. Um alles nun recht gründlich zu lernen, bezog ich von Prag Unterrichtsblätter in der deutschen Sprache, mit denen der Kursus ein Jahr dauern sollte. Eine vierseitige Nummer kostete fünfundzwanzig Kreuzer und erschien monatlich zweimal. Aus diesen Blättern lernte ich viel, besonders im Lesen, im Schreiben brächte ich es dagegen doch nicht auf die ganz gleiche Stufe. Später aber befand ich mich wieder im Wirbel des Partei- und Vereinslebens, der mir bald keine Zeit zum Lernen übrigließ.

Unterdessen hatten wir uns auch wirtschaftlich wieder einigermaßen erholt. Die Schulden waren bezahlt, und das Nötigste an Kleidung, Schuhwerk, Hausrat war wieder nachgeschafft, und so lebten wir wieder in Frieden. Da aber traf uns schon ein neuer Schlag. Die Schwiegermutter erkrankte plötzlich und starb. Das gab wieder neue Sorgen, denn wir mußten die Begräbniskosten tragen. Der Schwager, in dem erst nach dem Tode der Mutter die Kindesliebe erwachte, bezahlte bloß die zwölf unnötigen Gulden, die der Geistliche für den kurzen Weg von der chemischen Fabrik bis zum Friedhof verlangte (es waren ungefähr sieben Minuten); alle übrigen Auslagen mußten aber wir bestreiten. In unserer Mutter verloren wir eine treue Ratgeberin und Schiedsrichterin. Manchmal, wenn es knapp herging und es schien, daß es durchaus nicht mehr weitergehe, schaffte sie Rat und tröstete uns. Oder wenn unsere jungen, hitzigen Naturen zusammenprallten, so versöhnte sie uns. Und ihre große Güte zu mir erlosch in ihr auch in der letzten Stunde noch nicht, trotz aller Mißerfolge meiner früheren Pläne, wenn sie mir daher manchmal ins Gewissen redete, nahm ich es ruhig hin, eben weil ich sie wegen ihrer Güte und reichen Erfahrungen hochschätzte.

Meine Frau mußte nun nach Mutters Tode aus der Arbeit zu Hause bleiben, und so waren wir nur auf meinen Verdienst angewiesen, der im Durchschnitt acht Gulden vierzig Kreuzer wöchentlich betrug. Damit aber nicht die ganze Last der Miete auf uns blieb, entschlossen wir uns, zwei Leute in Logis und Kost zu nehmen. Unsere Wohnung bestand zwar nur aus einer Stube, in der nur zwei Betten stehen konnten, und in der gekocht, gewaschen, gegessen, Gäste empfangen, geschlafen, gelesen, geschrieben und alle übrigen Bedürfnisse verrichtet werden mußten. Aber was blieb uns nun übrig? Wir mußten uns eben einschränken.

Damals war es auch, wo mich der Glasmacher Karban, der an demselben Ofen wie ich schaffte, und den ich seit langem gut kannte, immer mehr uzte: »Na, du hast wohl den Sozialismus ganz und gar an den Nagel gehängt?« Und alle meine Ausreden, daß ich doch auch immer noch die Arbeiterblätter, Broschüren und Bücher läse, half mir dagegen nichts, Ich sollte mich, wie früher, auch aktiv wieder am Partei- und Vereinsleben beteiligen, sonst wäre ich eben kein ganzer Sozialdemokrat. Und ich sah wohl die Wahrheit seiner Meinung ein. Aber ich ließ mich trotzdem noch lange Zeit nicht bewegen, wieder in eine Versammlung mitzugehen. Denn ich hatte mir fest vorgenommen, mich der Sache noch zu enthalten, um lieber erst etwas Ordentliches zu lernen.

Einmal aber, als mir der Karban wieder manches aus der Vereinsversammlung erzählte, was er oft tat, und mich gewöhnlich dabei auch wegen diesem und jenem um Rat frug, stellte er mir auch die Frage, ob ich nicht wenigstens einen Vortrag im Verein Polaban halten möchte. Doch ich überlegte auch das lange, ob ich es tun sollte. Aber er traf mich doch mit seiner Frage am rechten Fleck, wieder regte sich mein Ehrgeiz. Und ich sagte endlich ja. Dann wählte ich das Thema: »Die Ernährungsweise des Volkes«, und schrieb und studierte es mir vorher gut ein.

Die Versammlung, in der ich es dann vorgetragen habe, war gut besucht. Ich hatte meinen Vortrag mehr vom wissenschaftlichen Standpunkte aus bearbeitet, wie viel im Fleisch, Mehl, Reis und andern Nahrungsmitteln an Eiweiß, Fett usw. enthalten ist, und wie es bei denen mit ihrer körperlichen Entwicklung, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit steht, die sich nur von den billigsten Nahrungsmitteln, wie Kartoffeln oder Reis, ernähren müssen. Und selbstverständlich mußte ich zum Schluß auch auf die Ursachen der schlechten Ernährung, besonders in der Arbeiterklasse, hinweisen.

Die Genossen kamen, nachdem ich geendet hatte, auf mich zu und drückten mir erfreut die Hand, denn sie sahen nun, daß ich während meines Ausbleibens nicht geschlafen hatte, wie sie es wohl erst vermutet. Und nun, nachdem ich einmal wieder unter ihnen gewesen, ging ich auch ein zweites Mal, und ging schließlich immer wieder hin, vor allem, um die Bildung der Mitglieder mit fördern zu helfen. Auch dem politischen Leben, das immer noch vom Verein getragen, half ich ein neues Gepräge schaffen. Wir benutzten nun auch den berühmten Paragraphen 2 des österreichischen Versammlungsgesetzes. Mit diesem hatte es folgende Bewandtnis. Als die österreichischen Gesetzgeber, natürlich nur Angehörige der besitzenden Klassen, einst das Versammlungsgesetz fabrizierten, ließen sie darin, wie sie meinten, nur für sich, ein Türchen offen, indem sie in den Paragraphen 2 eine Klausel einschalteten, daß Versammlungen für geladene Gäste den Behörden nicht angezeigt werden müßten und nicht zugänglich seien. Und diese Bestimmung nützte schließlich auch die Arbeiterschaft reichlich aus. Die Behörden verloren dadurch über sie die Kontrolle und konnten so die Entwicklung der Arbeiterbewegung nicht mehr wie früher hemmen.

Meine Frau machte zu dieser meiner neuen Wendung ein böses Gesicht. Sie meinte, ich würde wieder nur für den Verein und für meine Genossen leben und alles andere vergessen. Aber all ihr Bitten und Zürnen, mich lieber wie in der letzten Zeit nur der Familie zu widmen, war erfolglos. Ich konnte nun nicht wieder zurück. Die Interessen unserer gemeinsamen Sache standen mir ja mindestens so hoch, wie alles übrige. Und sollte ich mich wieder Feigling heißen lassen!? Nein!

Das war nun schon im Jahre 1890.

Mir wurde nun wieder eine Funktion nach der andern aufgebürdet, im Vorstande, im Bildungs- und im Vergnügungsausschuß. Dort sollte um die Bildung der Mitglieder, da wieder um Vergnügungen gesorgt werden, damit auch dadurch Geldmittel für uns hereinkämen. Und in den Parteiversammlungen, wie in den Exekutivbesprechungen, die wir immer noch nebenbei im engeren Kreise abhielten, wollte ich auch nicht fehlen. Das alles erforderte mehrere Abende in der Woche, und auch den Sonntag, wenn ich arbeitsfrei war. Neben dem Verlust an freien Stunden kam dazu auch noch der von Geld. Ein Gulden und noch mehr die Woche, verklepperte sich doch dabei. Meine Frau, der das Geld dann zu Hause fehlte, wurde darüber unwillig, machte mir Vorwürfe, daß ich nur die Familie schädige, und auch mich selbst um meine Gesundheit brächte; daß ich das Geld unnützerweise vertäte und halbe Nächte in Gasthäusern säße. Und wieder blieb es manchmal nicht bei Vorwürfen, sondern wir gerieten in regelrechten Zank und Streit. Ich sah wohl ein, daß sie von sich aus recht hatte, aber doch konnte ich nicht anders. Opfer muß es kosten, versicherte ich mir selber. Und als sie mir einmal gar drohte, von mir fortzugehen, und die Kinder schon angezogen dastanden, auch da beharrte ich noch hart und fest auf meinem Standpunkte.

Wie dann noch der Genosse Kulitsch auf den Gedanken/den wir nachher hundertmal bereuten / kam, ebenfalls wie in Teplitz, einen Konsumverein zu gründen, da trat zu den genannten Funktionen auch noch eine neue hinzu, der ich ebenfalls noch einen weiteren Teil meiner freien Zeit opfern mußte. Und wenn ich einen Abend frei war, oder die Nachtschicht vorher hatte, da wollte ich doch auch die Zeitungen und ein Buch lesen, nachdem ich ausgeschlafen hatte, und so blieb mir wieder keine Zeit übrig, mich mit der Familie abzugeben.

Seitdem ich wieder so tätig war, gewannen wir auch in der Glashütte endlich einige Anhänger. Der Karban agitierte eifrig mit. Wo wir nicht mit Worten beikonnten, suchten wir unseren Zweck durch Zeitungen und Broschüren zu erreichen; sie wurden dem und jenem durch die Post geschickt oder wir steckten unsre eignen gelesenen Nummern bald dem, bald jenem in sein an der Wand hängendes Jackett. Kurz und gut, wir verbreiteten unsre Idee, wo immer sich uns die Gelegenheit bot. So hatten wir es doch allmählich allein in der Glasfabrik auf zwei Dutzend Mann gebracht, auf die wir vertrauen konnten.

Nun tauchte in uns der Gedanke auf, einen Fachverein der Glasarbeiter zu gründen. Auf der Königshöhe hielten wir die erste Besprechung unter uns Glashüttenarbeitern ab. Die Ansichten kreuzten sich zuerst sehr; einige von uns waren für die Gründung, andere wieder meinten, daß zuerst ein Fachblatt notwendiger wäre, um erst das Feld zu bereiten. Schließlich wurde der Antrag eines Genossen, erst ein Fachblatt zu gründen, von der Mehrzahl angenommen. Aus einem Fachverein ist aber damals nichts geworden, obwohl ich auch in der Umgegend dafür agitierte.

Unterdessen hatten sich auch die deutschen Genossen aufgerafft und einen Leseverein gegründet« der in kurzer Zeit Hunderte von Mitgliedern zählte. In ihm wurde nun die Aufklärungsarbeit mit größtem Eifer betrieben durch Lese- und Diskussionsabende und an jedem Samstag durch einen wissenschaftlichen Vortrag. Die Zahl der Bücher in der Bibliothek stieg von Woche zu Woche. Die Leseabende waren immer von vier- bis fünfhundert Menschen besucht und alles horchte gespannt den Vorlesungen oder dem Vortrage zu. Überall sah man nun plötzlich große Begeisterung und ein neues jugendliches Bewegen, eine fieberhafte Tätigkeit, die nun schnell dem ganzen Leben unter den Arbeitern Aussigs ein anderes, höheres Gepräge verlieh. Der Geist der Massen loderte empor wie Flammen brennenden Strohes.

Wir Tschechen, die wir jahrelang mit unsern fünfzig bis sechzig Mitgliedern herumgewurstelt, waren nun plötzlich von den deutschen Genossen überholt. Eigentlich war es nur etwas ganz Natürliches, da die Tschechen gegen die Deutschen sich in der Minorität befanden. Ich selbst ließ mir natürlich die Gelegenheit nicht entgehen, Mitglied des Lesevereins zu werden, um aus dem reichen Schatze des Wissens, der sich mir in den Büchern, die zwei Schränke füllten, offenbarte, zu schöpfen.

Ein Gedenktag für mich war auch ein Sonntag, wo unser Verein Polaban von Aussig, und der tschechische Leseverein von Leitmeritz, einen Ausflug nach Salesel machten, um uns dort zu treffen und die Brüderlichkeit zu bezeugen. Unser Schiff von Aussig kam eher an. Begeistert von Bruderliebe, mit jauchzenden Herzen standen wir da am Ufer und warteten, bis das Schiff auch die Leitmeritzer Genossen bringe. Und als sie sich uns schließlich näherten und der Fähnrich die Fahne nach uns schwenkte, da erscholl aus allen Kehlen: » Na Zdar, Bratri!« (Glück auf, Brüder!) Dann folgte ein Empfangslied, und von der Musik begleitet, ging's darauf nach einem nahen Gartenrestaurant, wo wir uns bis abends unterhielten. Währenddem besuchte uns auch eine Frau Krejsa mit zwei Kindern, einem zehnjährigen Jungen und einem achtjährigen Mädchen. Ihr Mann war auch vor Jahren zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden, von denen er nur eine kurze Zeit verbüßte, denn er starb im Gefängnis. Ich nahm da die beiden Kinder und stellte mich mit ihnen auf einen Gartentisch, den Knaben zur Rechten und das Mädchen zur Linken, und sprach und erinnerte die Anwesenden an die einst nur leise keimende und so schwer verfolgte Arbeiterbewegung der früheren Jahre. Wie viele Opfer die Genossen im Kampfe um Recht und Freiheit bringen mußten, und wie sich doch trotz alledem der Sozialismus die Anerkennung erzwinge, wie wir Schritt für Schritt zum Ziele gelangen, wovon auch diese Manifestation ein Zeichen sei. Und dann zeigte ich auf die beiden Rinder und fuhr, selber aufs tiefste bewegt, weiter fort: »Hier meine Lieben, weilen unter uns zwei aufblühende Knospen, deren Vater, Ernährer und Erzieher auch einst in den Reihen des schwer kämpfenden Proletariats stand, der auch, wie so viele andere, wegen seines edlen Bestrebens gefesselt und ins Gefängnis geschleppt wurde, wo er als Märtyrer seinen Geist aufgab und seine arme Familie dem Elend überlassen mußte. Wohlan, so laßt uns heute den armen Verlassenen auch ein Opfer bringen. Es ist unsere heilige Pflicht, also zu tun!«

Da standen vielen Anwesenden Tränen in den Augen, und waren alle tief bewegt. Mir selbst rollten sie über die Wangen. Und da wurden gegen zwanzig Gulden gesammelt. Ach, die Frau hätte wohl jeden Monat so viel gebraucht. Aber es gab nicht alle Tage solch ein Fest.

Dann wurde ich auch einmal von dem Arbeiterbildungsverein in Brüx brieflich befragt, ob ich über »Nationalismus und Internationalismus« vortragen wollte. Wir hatten schon damals in Nordböhmen überall heftig gegen den nationalen Hader zu kämpfen. Ich versprach, es zu tun. Als ich dann aber in die Versammlung kam, saß der Regierungsvertreter da. Das erstemal sollte ich nun vor einem Manne von der Bezirkshauptmannschaft sprechen. Kälte und Wärme fuhr mir den Rücken abwechselnd, wie ein elektrischer Strom, auf und ab, schon wenn ich auf ihn hinblickte. Und erst, als ich doch endlich vorzutragen anfangen mußte! Ich hatte wirklich zu tun, daß ich alles so vorbrachte, wie ich es mir aufgeschrieben und auswendig gelernt hatte. Merkwürdig, denn vor sonstigen Gegnern hatte ich nie Angst gehabt.


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