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Auf dem Abraum in Dux

Als wir zu Hause ankamen, war die Ernte schon ziemlich vorbei. Wir hielten uns deshalb nur etwa drei Tage lang zu Hause auf. Denn, da keine Arbeit zu finden war, beschloß der Vater und Havel, nochmals auswärts Arbeit zu suchen. Wir zogen über Postelberg nach Brüx zu. Den ersten Tag blieben wir hinter Postelberg in einem Gasthof über Nacht. Am zweiten Tage gelangten wir spät abends nach Oberleutensdorf. Es war ein warmer Abend. Rechts von der Straße befand sich, nur ein paar Schritte entfernt, ein Obstgarten und ein Dörrhäuschen. Vater und Havel wollten nicht mehr weiter gehen, sondern im Freien übernachten. Wir legten uns hinter dem Häuschen auf die Wiese; ein jeder wie es ihm am besten paßte.

Unter den Kopf legten wir jeder sein Bündel, zum Zudecken war nichts da. Es war so schön still und ruhig, das Geräusch der Fuhrwerke hörte auf, ein schwaches Lüftchen wehte über uns weg. Man hörte nur noch ein leises Geräusch des Wassers im Bach, der die Wiese entlang floß, und die Grasmücken: srk / srk / srk! Doch das hat uns, wenigstens mich, nicht gestört, es war vielmehr wie zum Einschläfern geschaffen. Ich schlief bald. In der Nacht wachte ich auf, der Havel war auch schon munter und ging hin und her und klagte, daß ihm kalt wäre. Auch mich hatte die Kälte aufgeweckt und schüttelte mich noch. Meinem Vater ging es wohl nicht besser, denn auch er war aufgestanden. »Es ist erst zwei Uhr, was nun?« sagte Havel, zu meinem Vater gewandt.

»Vielleicht können wir in das Häuschen hinein, ich habe ja andere auch hineingehen sehen,« lautete die Antwort.

Der Havel trat in die offene Tür hinein, zündete ein Zündhölzchen an, mit dem er herumleuchtete. Die untere Türe war verschlossen, eine Leiter stand da. Er stieg hinauf auf den Dachboden und leuchtete von neuem. Auf einmal erscholl eine Stimme: »Kruzifix alleluja, hat man nicht einmal hier in der Nacht Ruhe? Welcher Teufel drängt sich herein!?« Da kam er so schnell wie möglich die Leiter wieder herunter, winkte mit der Hand hinaus zur Türe und sagte draußen leise: »Ach, wenigstens acht Mann sind da oben, wie die Heringe zusammengepreßt, und wohl lauter Landstreicher, nein, da ist nichts für uns!« Wir marschierten noch eine Zeitlang auf der Wiese hin und her, hängten dann aber unsere Bündel um und schritten langsam gegen Oberleutensdorf zu; die Sonne ging gerade auf, als wir dort ankamen. Dort begegneten wir einem Mann, der wohl ein Bergmann sein mochte. Den frug der Havel nach dem Weg nach Dux und ließ sich dabei noch in weiteren Diskurs mit ihm ein, namentlich, ob wir dort Arbeit finden könnten, und wie hoch die Löhne wären. Er antwortete, daß wir in Dux zu jeder Zeit auf dem »Abraum« Arbeit bekämen. Die Löhne wären dort ein Gulden zehn Kreuzer; im Akkord könnte man vielleicht noch etwas mehr verdienen. Nun wurde beschlossen, daß, wenn es dort sicher Arbeit gäbe, wir uns nicht erst wo anders um Arbeit umsähen, sondern direkt nach Dux gingen, was denn auch geschah. Je näher wir der Stadt kamen, desto deutlicher sahen wir den Qualm und die Rauchwolken aus den Abraumlöchern und aus den Feueressen der umliegenden Schächte, wie sie sich zusammenzogen, verdichteten und eine trübe Decke über der Stadt bildeten. Ich vernahm, daß auch die Luft hier nicht so rein sei wie bei uns auf dem Lande, daß sie einen fast sauren Geruch hätte.

Unterwegs frugen wir noch den oder jenen über die Verhältnisse auf dem »Abraum«. Lobenswertes bekamen wir aber nirgends zu hören. Einer sagte: »Wenn ihr halbwegs was anderes finden könnt, so fangt lieber dort an zu arbeiten, aber nur nicht auf dem Abraum!« Ein anderer sagte wieder: »Dort in der Totengrube wollt ihr arbeiten, wie ich sehe, paßt ihr nicht hin, denn dort arbeiten meist ganz verkommene Menschen!« Das war ein schlechter Trost. Mein Vater und der Havel sagten sich aber: »Na, wegen drei oder vier Wochen werden wir nicht umkommen, nach Hause gehen können wir auch nicht, mag es nun werden, wie es will.«

Schließlich gelangten wir nach langem Gehen und Herumfragen bis zu der umfangreichen Abraumhalde, die an vielen Stellen brannte. Ihre Kohlengase vergifteten die Luft. Mir kam es vor, als könnte ich plötzlich viel schlechter atmen wie wo anders. Immer so dreißig Schritte auseinander, standen um die Halde herum Holzstangen, auf denen eine Tafel mit einem Totenkopf angebracht war. Als wir frugen, was die Totenköpfe zu bedeuten hätten, hörten wir, daß man nur auf den ausgesteckten Wegen über die Halde gehen dürfe. Wenn jemand wo anders geht, kann es ihm geschehen, daß er einbricht, verbrennt und erstickt, weil die Halde auf vielen Stellen durchgebrannt und hohl ist. Die Totenköpfe auf den Tafeln jagten mir eine große Angst ein, und meine Blicke wollten sich von ihnen gar nicht abwenden. Nach diesen Anzeichen stellte ich mir vor, daß die Arbeit hier gefahrvoll sei. Es dauerte hübsch lange, bevor wir zu der Kantine kamen, wo der Partieführer zu finden sein sollte. Sie stand rechts, nur von Brettern niedrig gebaut. Links stand eine Reihe Baracken, deren Türen meist offen waren, so daß man leicht das Innere besichtigen konnte. Jede hatte Abteilungen, die immer für zwei Mann zum Liegen eingerichtet waren; an der Seite war noch ein Sitzbrett angemacht und oben steckten in der Bretterwand einige Nägel, wohl zum Kleideraufhängen. Hier und da sah man auch etwas Ähnliches wie Kleidungsstücke hängen, konnte es aber nicht gut erkennen, weil alles sehr schmutzig und zerlumpt aussah.

»Siehe, die Wanzen, die an den Wänden dort herumkriechen,« sagte da der Havel zu mir, der sich auch einen Augenblick von meinem Vater getrennt hatte und zu mir hingetreten war, um sich auch die Baracken zu betrachten. »Hier mußt du vorsichtig sein; wenn die Lumpen sehen, daß jemand, der erst herkommt, noch keine Läuse hat, dem blasen sie welche auf die Kleider,« warnte er mich. In und um den Baracken lag der Schmutz haufenweise. Vor jeder Türe sah man Reste von Speisen, Heringsköpfen, Kartoffelschalen, in jedem Winkel halbverfaulte Lumpen, aus denen Uringestank aufstieg, wenn man näher kam. Von den Abraumbrüdern, die in ihren Abteilungen hockten oder in der Kantine aus und ein gingen, hatte keiner ein ordentliches Kleidungsstück auf dem Leibe. Barfuß, die Füße schwarz wie Braunkohle, mit zerrissenem Hemd oder gar ganz ohne Hemd, weil das einzige soeben gewaschen wurde: also sah man sie herumlaufen. Und es war doch Sonntag früh. Diese Kerle sahen noch viel schlechter aus wie die auf der Eisenbahn in Seltsch und Kaznov. Ich trat nun an die Kantinentüre, um mir auch hier das Innere zu betrachten und meine Neugierde zu stillen. Wohl war mir eine solche Kantine nichts Neues mehr, aber hier schien mir das Bild viel gräßlicher als alles, was ich bis jetzt gesehen hatte. Da kam aber auch schon der Partieführer. Mein Vater und der Havel gingen sofort auf ihn zu. Und da eilte ich von der Türe ihnen nach, denn ich wollte Zeuge von dem sein, was da gesprochen wurde. Auch war ich neugierig, was wir eigentlich hier würden machen sollen.

Als wir zu dem Partieführer hingingen, kam auch noch ein Abraumbruder von der andern Seite, mit unsicherem Schritt, demütig den Hut unter den Arm drückend, mit bittender Miene zu ihm und stieß mit zitternder Stimme aus sich heraus: »Ich / bitte, untertänigst, lieber Herr Partieführer / um einen Gulden Blech.« Dabei machte er ein so tiefes Kompliment, daß wir uns wunderten, daß er nicht gleich auf die Knie gefallen war. Der Partieführer, ein noch jüngerer Mann, sah den Bittenden scharf und verächtlich an und entgegnete: »Sie, Wondratschek, ich sage es Ihnen heute noch einmal, daß Sie sich einschränken müssen. Gestern war Auszahlung und Sie sind noch in Rest geblieben, und nun verlangen Sie schon wieder einen Gulden Blech, wo soll das hinführen?« »Aber gnädiger Herr, sind Sie nicht so hartherzig, was soll ich heute essen?« erneute er seine Bitte in noch demütigerer Stellung. »Na, ich will Ihnen den Gulden geben, kaufen Sie sich aber mehr zum Essen, wie Schnaps, hören Sie?« entschied der Partieführer und gab dem Wondratschek, wie er ihn nannte, den Gulden Blech. »He / he / he, gnädiger Herr, das ist doch uns guten Seelen der einzige Lebenstrost. Sie sind doch gut!« sagte der schwarze Kerl, machte noch ein tiefes Kompliment, drehte sich lachend und schnell um, und stürzte in eiligen Sätzen nach der Kantine. Seine Kollegen, die dem Auftritt von weitem zugesehen hatten, brachen in stürmisches Lachen aus; wohl darüber, daß er seine Sache so gut vertreten hatte und nun wie ein Hirsch gesprungen kam. Wir lachten auch, und auch der Partieführer lachte ein wenig.

Wir wurden nun angenommen und an den Figuranten Láska gewiesen, bei dem wir uns Montag früh melden sollten; dort sollten wir alles Weitere erfahren. Nun handelte es sich für uns noch um ein Logis. Als wir uns deshalb in die Stadt wenden wollten, kam drüben über die Abraumhalde ein langer Mann in weißer Hose und rot verbrämter Bluse. An den Füßen hatte er Lederpantoffel und seinen Kopf bedeckte eine Mütze mit einer Rosette. Nach dieser Kleidung hätte man fast vermutet, daß er ein pensionierter Polizist war, kein Arbeiter, der er doch wie wir war. Wie er von der Halde herunterkam, ging ihm schon so ein Abraumbruder entgegen: »Ei, ei, guten Morgen, Herr Wachmann, auch schon ausgeschlafen!« rief er ihm zu und nahm die Stellung eines Militärs ein, salutierte und machte ein sehr höhnisches Gesicht dabei. Der Ankommende tat so, als ginge ihn das nichts an und schritt direkt auf uns zu. »Tschechen, Tschechen?« frug er tschechisch. »Ja!« bekam er von meinem Vater und Havel die Antwort.

»Na, das freut mich,« fuhr er weiter, »daß ich wieder einmal ein paar anständige Menschen hier zu sehen bekomme, mit denen man wenigstens vernünftig sprechen kann!« Er frug uns weiter, wo wir herkämen, ob wir hier auf dem Abraum zu arbeiten gedächten, besprach die Arbeits-, Lebens- und Wohnungsverhältnisse, bis er auch auf die Lebensweise der Abraumaken, wie er sie nannte, kam. Wie verkommen, liederlich und unsittlich sie wären. So etwas hätte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Dann erzählte er noch, daß er in Prag als Polizist angestellt gewesen und wegen eines kleinen Versehens abgesetzt worden war. In Prag wollte er, weil er sich darüber schämte, keine Arbeit annehmen und ging deshalb außerhalb Prags Arbeit suchen, fand aber nichts; erst hier in Dux auf dem Abraum. Seine Frau kam dann mit den nötigsten Möbeln und zwei Kindern nach. Sie hätten gehofft, daß von dem Verdienst etwas übrigblieb, um sich die Wohnung wieder richtig auszustatten. Aber ihre Hoffnung hätte sich nicht erfüllt. Einen Zahltag langte es immer weniger wie den andern; ein Stück nach dem andern mußte verkauft und das gelöste Geld dafür zum Leben zugesetzt werden. »Und nun stehe ich da, wie Sie mich sehen, das was ich anhabe, ist mein Bestes und die Stube ist leer!« sagte er zum Schluß und machte ein sehr trauriges Gesicht. Die Tränen standen ihm in den Augen. In seinem weiteren Erzählen wurde er von dem Manne ohne Hemd unterbrochen, der mit einer Flasche in der Hand von der Kantine herüberkam, ein paar Schritte vor uns stehen blieb und dem ehemaligen Polizisten zurief: »Prost, Herr Wachmann!« Er hob die Flasche in die Höhe und setzte dann zum Trinken an.

Währenddem kamen noch mehr Abraumer heran. »Na, Herr Wachmann!« fuhr der Hemdenlose weiter: »Nicht wahr, in Prag war es besser wie hier, was? Ja, ja, Bettler arretieren ist nicht so schwer, wie hier die Karre ziehen! Ich möchte nur gerne wissen, warum sie dich nicht mehr brauchen konnten. Gewiß hast du dich auch bestechen lassen oder taugte deine Alte nichts für die Vorgesetzten?«

»Bravo, bravo!« riefen die andern und klatschten mit den Händen.

»Na, in Prag da hättest du nicht so frech mit ihm reden dürfen, da hätte er dir deine Brotkäue verflucht herumgedreht,« fügte ein zweiter hinzu.

Und der dritte: »Wegen so einem Lumpen bekam ich zwei Monate aufgebrannt; die habe ich seit der Zeit im Magen.«

So ging das weiter, bis mein Vater einen Schritt zu ihnen vortrat und ihnen zurief: »Laßt doch den Menschen gehen, er tut euch ja nichts!«

»I, du Bauerntölpel, du willst noch so einen Lumpen, wegen dem vielleicht viele Menschen unschuldig eingesperrt wurden, verteidigen. Uns brauchst du nicht zu belehren, dazu bist du zu albern!« schrie der ohne Hemd aus voller Kehle und rückte immer näher zu uns.

»Haue ihm ein paar herunter, dem Dorftappsch!« brüllte ein anderer hinter ihm her.

Jetzt fing es an kritisch zu werden. Aus der Kantine kamen auch noch die übrigen Abraumaken heran, die ja sicher auch nicht höflicher waren und ihren Kollegen wohl zu helfen bereit waren.

Mich erfaßte eine Todesangst und ich war sehr froh, wie der Mann in der Bluse sich umdrehte und zum Fortgehen winkte. Er nahm die Richtung, wo wir hergekommen waren, sonst hätten wir an den Krawallierenden vorbeigehen müssen. Wir waren schon ein hübsches Stück Weges fort, aber hörten immer noch das Geschimpfe der schwarzen, zerlumpten und längst nicht mehr nüchternen Kerle.

Auf dem weiteren Wege, bevor wir noch in die Stadt gekommen waren, beschlossen der Polizist, der Wanek hieß, mit Havel und dem Vater, daß wir bei ihm logieren sollten. Er sagte aber gleich offen, daß wir uns um die Strohsäcke zum Schlafen und um Kost selbst kümmern müßten, und daß er nur eine Vergütung zu der Miete haben wolle, die alle vierzehn Tage vom Lohn abgezogen werden sollte. So geschah es auch. Wir gingen mit, fort durch die Stadt, bis auf eine Straße, von der der Mann sagte, daß sie nach Osseg führe. Auf der gingen wir eine längere Weile. Links an der Straße erschienen uns dann sechs sehr lange, niedrige Häuser. »Dort wohne ich, in der zweiten Reihe!« sagte der Mann und wies mit der Hand hin. Wir kamen bis an die Häuser heran, aber da zeigte sich gleich draußen, vor den Fenstern und Türen, die größte Unordnung; Schmutz lag überall wo man hinschaute. Die ersten Reihen an der Straße waren für die Leute, die auf dem Abraum arbeiteten.

Eine jede Reihe zählte zwölf nicht gar große, viereckige Stuben, mit einem Fenster nach der Haustürenseite zu. Zu je zwei Stuben führte eine Haustüre. Vor einer jeden lagen Haufen von Asche und Ruß, zerschlagene Topfscherben, Kartoffelschalen und anderes bunt herum. Zwischen den Häusern war immer ein ziemlich geräumiger Platz, auf dem allerhand Unkraut wuchs. Die Kinder, die hin und her liefen, waren ebenfalls schmutzig, barfuß und sehr dürftig gekleidet; so auch die Frauen und Männer. Als wir in die Wohnung des ehemaligen Prager Polizisten traten, bot diese ein trauriges Bild der Not und des Elends. Da sah man keinen Stuhl, Tisch oder sonstige Möbel. Ein kleines Fußbänkel stand vor dem Kochofen, links an der Wand ein großer Stein, weiter von ihm mehrere aufgeschichtete Ziegelstücken, auf denen ein altes Stück Brett lag und als Sitzbank diente, dann noch einige Töpfe und Töpfchen / und das war die ganze Einrichtung dieser Wohnung. In der rechten Zimmerecke nach dem Fenster zu, lag ein breiter, aber sehr dünner und schmutziger Strohsack, auf dem bei unserm Eintritt sich ein kleines ungefähr drei Jahre altes Mädchen mit ihrem etwa acht Jahre alten Bruder herumwälzten, der, wie er uns erblickte, aufsprang und uns sehr artig grüßte. Die Frau war mittelgroß, korpulent, mit freundlichem Blick und schwarzem Haar. Kinder und Frau waren sehr einfach, ja dürftig gekleidet. Sie nahm uns aber liebenswürdig auf. Ihr Mann sagte nun: »Hier, Anna, bringe ich ein paar Landsleute, die auch arm sind und denen es nicht besser geht wie uns, ins Logis.« »Gott, mit Freuden, aber sollen sie sich hinlegen, wenn / wenn wir selbst nur das hier haben?« antwortete sie verlegen und zeigte verschämt auf den Strohsack in der Ecke hin.

»Beruhige dich, arme Leute wissen, was Not ist; sie werden sich selbst ein Lager besorgen.« Dabei wandte er sich nach links, zeigte mit der Hand nach der linken Ecke des Zimmers und fuhr weiter: »Wenn Sie also wollen, hier haben Sie Platz genug!«

Der Havel und mein Vater nahmen ihre Bündel von der Achsel, lehnten sie an die Wand und setzten sich darauf, um nach dem langen Gehen auszuruhen. Ich setzte mich auf den Fußboden. Nach einer Weile ließ sich die Frau in einen Diskurs ein, frug, wo wir her kämen und her wären und ob wir auch auf dem Abraum arbeiten wollten. Als wir ihre Fragen beantwortet, fuhr sie sich mit der Hand über ihr Gesicht und meinte mit einem tiefen Seufzer: »Ach Gott! Das ist das letzte hier!« Und dann erzählte sie von ihrer Zeit in Prag. Welche gute Küche sie geführt, die ihr sogar die Vorgesetzten lobten, wenn sie einmal von dem Essen kosteten, das sie ihrem Mann gewöhnlich brachte. Da hätten sie mehrere schöne Kleider zum Wechseln gehabt. Vieles kostete gar nichts, denn die Leute brachten es ihnen bis ins Haus. »Und die schön eingerichtete Wohnung!« bemerkte sie mit lauter Stimme, faltete die Hände und richtete ihren Blick nach der Zimmerdecke zu. Dann fuhr sie in klagendem Ton weiter: »Aber hier? Ach, hier kann man sich nicht einmal richtig satt essen, und alles, was wir noch hatten, mußten wir für ein paar Kreuzer verkaufen. Zum Anziehen haben wir auch nichts mehr, was aus uns noch werden wird, weiß ich nicht. Wohl auch solche verkommene Menschen, wie dort auf dem Abraum sind.« So jammerte sie noch eine lange Weile, bis sie von ihrem Manne unterbrochen wurde. Er hatte sich jetzt erst erinnert, daß er aus der Kantine Brot mitbringen sollte. Weil er aber uns traf, und die Lumpen ihm wieder keine Ruhe gaben, hatte er es dann vergessen. Er meinte, daß es der Adolf, sein Junge, noch holen könnte. Mein Vater sagte ihm darauf, daß er nicht gut täte, wenn er überhaupt solchen Leuten, die ja nichts anderes wie Landstreicher wären, sein Schicksal und seine Vergangenheit erzähle. Denn diese Sorte von Menschen hätten mit Polizisten und Gerichten viel zu tun und wenn sie dann einmal jemanden von daher unter sich bekämen, an dem ließen sie dann ihre Wut aus. Die Kerle wären ja immer unschuldig. Würden sie eingesperrt, so wären nur die Wachleute daran schuld; wenn die nicht wären, würde ihnen nichts geschehen. Dann wandte sich der Vater zu mir und sagte, daß ich gleich mitgehen könnte, um Brot, Salz und für zwanzig Kreuzer Fett mitzubringen und gab mir einen Gulden. Der Adolf stand auch schon mit ausgestreckter Hand vor seinem Vater, der in die Hosentasche langte und mehrere Blechmarken herausbrachte. »Abraumgeld!« sagte er lächelnd zu meinem Vater, gab dem Jungen einige dieser Marken und wir rückten ab. Ich ging mit Adolf bis in die Kantine. Dort ging es eben sehr lustig zu. Der Gesang, den man da hörte, war freilich nur ein heiseres Gebrüll, wie in einer Menagerie. Einige »Brüder« lagen seitwärts der Kantine auf dem Rasen und schliefen; einer von ihnen hatte sich erbrochen und wälzte sich in dem Unrat herum. Wir ließen uns das Brot geben und rückten sofort wieder ab. Denn die Kerle hatten mir schon vormittags gehörige Angst eingetrieben. Auf dem Rückwege kaufte ich in der Stadt das, was ich bringen sollte. Unterwegs erzählte mir der Junge, wie schön es in Prag gewesen wäre, und wie er dort auch zur Schule gegangen wäre. Er sprach auch besser nach der Schrift wie ich. Ich frug ihn, warum sie nicht in Prag geblieben wären, und warum sein Vater die Polizistenstelle aufgegeben. Das wußte er aber nicht und konnte mir deswegen meine Neugierde nicht befriedigen. Und das war doch gerade das, was ich hätte gerne hören wollen. Sein Vater und seine Mutter hatten uns erzählt, daß sie es dorten so gut hatten, hatten aber nichts davon gesagt, warum sie es aufgaben und hierher, wo es schlecht war, kamen. All das wollte mir gar nicht in den Kopf. Und ich bin bis heute darüber im Unklaren geblieben.

Als wir mit unseren Einkäufen nach Hause kamen, frug ich nach dem Havel, der nach längerer Weile nicht zu sehen war. Der Vater gab mir zur Antwort, daß er nach Dux gegangen wäre, um ein paar Reissäcke zu kaufen, damit wir etwas hätten, wo wir uns darauf legen könnten, weiter sagte er, daß, wenn ich gegessen hätte, ich auf das Stoppelfeld gehen sollte, das hinter den Häusern läge, wo er sich schon umgesehen hätte. Stroh hätte er keins gesehen, ich müßte deshalb die Stoppeln herausreißen, die Erde abschütteln und hereinbringen. Nach dem Essen ging ich also auf das Stoppelfeld, rupfte die Stoppeln heraus, schüttelte die Erde ab und warf sie auf einen Haufen. Der Adolf war mitgegangen und half mir bei dieser Arbeit. Es dauerte auch gar nicht lange, so brachten wir so viel zusammen, daß ich glaubte, es werde nun zureichen. Diese Arbeit freute mich aber nicht besonders und den Adolf auch nicht. Unsere Hände waren so zerkratzt und zerstochen, daß sie bluteten. Ich schickte nun den Adolf nach Hause, um auszurichten, was wir mit den Stoppeln machen sollten. Er brachte nach einer Weile einen breiten Sack und teilte mir mit, daß wir sie darin nach Hause bringen sollten. Ich mußte viermal gehen, ehe der Haufen weg war; den Sack leerte ich immer in der linken Ecke des Zimmers aus. Der Havel machte die Stoppeln dann breit, schnitt die Säcke, die er aus der Stadt brachte, auf, deckte sie darüber und das Nachtlager war fertig, wie ich mit dieser Arbeit fertig war, ging ich hinaus, mir die Umgebung zu besichtigen, und nahm den Adolf mit.

Wir wohnten in der zweiten Reihe, Zimmer zwei. Von da gingen wir nach dem Ende des langen Hauses, bogen dann um die Ecke des ersten Hauses und gingen an dessen Fensterseite zurück, wobei ich immer durch das Fenster jedes Zimmers blickte. Aber ich sah in den meisten keine Möbel. Nur in drei Zimmern war etwas davon zu sehen, aber auch nur sehr wenig. Ich frug den Adolf, ob alle Leute hier so arm wären wie seine Eltern. Worauf er mir antwortete, daß er acht Wochen hier wäre und in vielen Wohnungen mit Kindern gespielt, aber nirgends viel, oft gar nichts von Möbeln gesehen hätte, wir gingen dann rechts bei unserer Wohnung vorbei, nach der vierten, fünften und sechsten Reihe zu, die schon ganz nahe an dem niedrigen Gebüsch standen. In diesen drei letzten Reihen bot sich mir ein anderes Bild. Nach den Mützen, die die Männer auf den Köpfen trugen, urteilte ich, daß sie Bergleute waren.

Und alle diese Leute liefen nicht barfuß herum, sahen nicht so schmutzig, zerlumpt und verwildert aus, wie die in den ersten drei Reihen an der Straße. Alle, die da vor ihren Wohnungen auf den Bänken saßen oder herumgingen, ob Männer oder Frauen und auch Kinder, waren anständig gekleidet, sonntagsmäßig. Vor jedem Hause war ein hübsch eingerichtetes Gärtchen mit schönen Blumen. In vielen stand auch eine Gartenlaube. Einige hatten vor ihren Wohnungen keinen Garten, sondern einen kleinen Stall von Brettern, wo sich eine Ziege oder Schwein befand. Fast an allen Fenstern der Wohnungen hingen Gardinen; danach urteilte ich, daß diese Leute auch die nötigen Möbel hatten. Überall war mehr Reinlichkeit zu sehen. Ich frug einen Jungen, der sich uns anschloß und ungefähr so alt wie ich war, wie das käme, daß es in den ersten Häusern so schlecht aussehe, und es hier die Leute so schön hätten. Er konnte mir aber keine andere Auskunft geben wie die, daß diese Häuser einer andern Gesellschaft gehörten, und die ersten drei für die Abraumleute wären. Näheres erfuhr ich nicht.

Es war noch Tag, als wir schon unser neues Nachtlager aufsuchten; und es wurde, bevor wir einschliefen, noch verschiedenes besprochen. Mein Vater frug den Wanek, ob man auch anderswo als in der Kantine kaufen könne, wenn man bares Geld hätte. Aber Wanek sagte, das ginge nicht; da verdiente man gar nichts und würde schließlich entlassen. Auch von den Stangen mit den Totenköpfen um die Halde herum wurde noch geredet. Wanek erzählte, daß, wenn sich die Abraumbrüder abends nach der Arbeit in der Kantine vollgesoffen haben, sie sich in die Baracken verkriechen. Aber dort wird ihnen, weil sie nichts zum Zudecken haben, in der Nacht oft kalt. Dann rennen sie hinauf auf die Halde, suchen die brennenden Stellen, legen sich unweit des Feuers hin und schlafen ein. Ist ihnen von hinten noch kalt, so schieben sie sich immer näher zum Feuer, atmen dann die Kohlengase ein, und früh findet man dann öfter solch einen Kerl tot auf. Was sie sich noch weiter erzählt haben, weiß ich aber nicht; denn ich war bald eingeschlafen. Früh, als wir aufstanden, taten mir sehr die Hüften weh, weil sich die Stoppeln auseinander geschoben hatten und ich auf den Dielen gelegen hatte. Auch der Vater und Havel klagten auf dem Wege zur Arbeitsstätte, daß sie schlecht ausgeruht hätten.

Als wir uns dem Abraum näherten, hörten wir jemanden schimpfen. Als wir an den Rand kamen, stand der Mann da, den mein Vater gestern um Arbeit gefragt, schrie und schimpfte: »Ihr Gesindel, ich werde euch lehren, zu spät in die Arbeit zu kommen. Strafen werde ich euch! Dort kommt noch so ein Tier, langsam wie ein Bär gekrochen.« Wir schlüpften schnell einer nach dem andern über die Stufen in der Lehmwand hinunter in die Tiefe und fragten dort nach dem Figuranten Láska. Den Mann oben aber, der der Partieführer sein sollte, hörte man noch lange schimpfen. Aber niemand gab ihm Antwort und jeder tat so, als wenn er es nicht hörte. Der Láska schrieb, nachdem wir uns ihm vorgestellt hatten, unsere Namen in sein Buch, führte uns zu einer zweiräderigen Karre mit einer Deichsel, an der vorn ein rundes Querholz zum bessern Ziehen angebracht war. Auf der Achse befand sich ein größerer Kasten mit einer ausziehbaren Schütze. Dann brachte er zwei Zugbänder, die Leute da nannten sie Kummet, gab meinem Vater und Havel jedem eins davon, mit dem Bemerken, daß sie ihm dafür haften müßten. Die hängten nun die Kummete an die Haken, die sich vorne neben der Deichsel an den Kasten links und rechts befanden, warfen sie sich über die Achseln, zogen an, ich schob nach und fort ging es mit der vollen Karre auf die »Planie«, die sich dort befand, wo die Kohlen schon herausgefördert waren und wohin es schon ein hübsches Stück Wegs war. Der Weg machte einen Bogen um eine Tiefe herum, in der die abgedeckten Kohlen losgemacht, in Hunde geladen und weiter gefördert wurden. Ich beobachtete, daß die Männer unten mit den Hunden immer in einen Tunnel hineinfuhren. Auf der Planie angekommen, wurde von uns umgelenkt, ich zog die Schütze heraus, die Deichsel wurde losgelassen, die Karre kippte, man zog sie ein bißchen vor, und stellte sie nun geleert wieder aufrecht. Die Schütze wurde dann wieder hereingesteckt und schon ging es zurück in schnellem Schritt. Zurückgekehrt in die »Figur«, stand schon wieder eine andere vollgeladene Karre da, denn das Laden verrichteten wieder andre Männer und Frauen. So wie wir es bei der ersten Karre gemacht hatten, so machten wir es bei der zweiten, dritten, den ganzen Tag über, bis abends sechs Uhr. Von unsrer »Figur« fuhren fünf Partien aus. Hinter den anderen Karren aber haben Frauen und Mädchen geschoben.

Auf unserm Wege fuhren auch noch die Partien aus den Nebenfiguren links und rechts von uns; überall war tiefer Staub, so daß, wenn wir Schieber und Fahrer einen Schritt machten, sich eine Wolke in die Höhe hob; auch von den Rädern der Karren wurden solche Staubwolken aufgewühlt. Und darum sah es auf diesem Wege den ganzen Tag aus, als läge über ihm ein dichter Nebel. Wenn man einen Tag lang in diesem Qualm gearbeitet hatte, da fühlte man es abends auf der Brust brennen, und spuckte den Staub stückweise heraus. In den Füßen aber zuckte es, weil die Haut von dem heißen Staub förmlich verbrannt war. Die Glieder taten alle weh, denn das Fahren ging den ganzen Tag im Trab.

Die Karren sausten hin und her, dabei wurde geflucht, geschimpft und auch mit den Fäusten gedroht. Die vorderen Fahrer fuhren den hinteren zu langsam, diese fingen an, gegen sie los zu brüllen und anzutreiben: »Hei / vorwärts / schneller, ihr faulen Hunde! Na, die Kerle sind faul wie die Schweine, die sollten in unserer Figur sein, denen wollten wir arbeiten lehren!« brüllte einer mit spöttischem Lachen und zog neben seinen Fahrkollegen keuchend die Karre, wobei er sich krampfhaft mit den Beinen stemmte und den Oberkörper über das Querholz der Deichsel mühevoll bog. »Die Kerle werden faul wie die Hunde, wenn die Sonne scheint! Ihr solltet nur bei unserem Figuranten sein, der würde euch schon dort hintreiben, wo ihr hergekommen seid!« schrie ein anderer gegen uns und so ging das fort.

Die mit dem leeren Karren zurückfuhren, wichen dem oder jenem manchmal zu wenig aus, und da gab es gleich wieder Wortwechsel: »Na, du blindes Vieh, siehst du nicht, wo du fährst, soll ich dir deine Blinzer mit der Faust auswischen?« »Das kannst du versuchen, du Rindvieh, aber da bringe dir erst einen Sack für deine Knochen mit. Du hättest am längsten gelebt, wenn du mich anrührst!« Den ganzen Tag hörte man nichts anderes wie Gefluche, gröbste Beleidigungen, gemeinste und ekelhafteste Ausdrücke, nur kein ruhiges und vernünftiges Wort. Dabei schindet sich einer mehr wie der andere, sein Schweiß regnet förmlich von der Stirn, läuft den Körper herunter und durchnäßt Hemd und Hose.

Ich war ja schon an ähnliches gewöhnt, es überraschte mich also nicht zu sehr, was ich da hörte und sah. Aber manches war mir doch zu viel. Denn so tief mitten drin in solchem Getriebe war ich ja doch noch nicht gewesen. Namentlich über geschlechtliche Dinge flogen die ekelhaftesten Ausdrücke hin und her. Die halbnackten, schmutzigen, schwarzen, struppig und versoffen aussehenden Kerle wühlten richtig darinnen herum; je gemeiner und ekelhafter es zuging, desto besser war es, desto mehr gab es ihnen Spaß. Was nur das Gehirn eines jeden ersinnen konnte, das wurde zum besten gegeben während der Arbeit wie während der Pausen. Ich will nur einiges in glätterer Form davon hier zum besten geben: »Anna, war gestern der Kater in der Röhre, / wie vielmal hast du gestern …?« rief einer einem vorbeifahrenden, etwa zwanzigjährigen Mädchen, einer Schieberin, zu. »Na, das mag gestern zugegangen sein in dem Gebüsch, da hätte ich nicht dabei sein sollen, schlecht wäre mir wohl geworden,« rief ein zweiter und die andern lachten. Und ein dritter fügte noch hinzu: »Na, das mag an dem … gelaufen sein, zeige uns dein Hemde!« »Was geht euch das an, ihr Schweine. Ihr dummen Luder, ich kann doch machen, was ich will,« antwortete diese. »Anna, Sonntag gehen wir miteinander, was?« meldete sich wieder einer. Der aber bekam zur Antwort: »Dich könnte ich gebrauchen, du Bam, kannst ja nicht einmal unter die Leute gehen, hast ja nichts Gescheites auf dem Leibe.« Stürmisches Gelächter erscholl: »Bravo, bravo / die hat dir's hineingesagt!« Und so hörte man auf jeder neuen Tour etwas Neues. Nur wenn ein Vorgesetzter kam, trat eine Pause ein, aber danach ging es gleich von neuem los.

In unserer Figur arbeitete auch eine etwa vierzig Jahre alte Frau, sie schob, wie ich, hinten die Karre; die hatte den Mund auf dem rechten Flecke. »Mit der Rosa kommt niemand auf,« hieß es, und es war auch wahr. Sie blieb niemandem die Antwort schuldig und machte alles mit, was zum Lachen war. Als wir wieder einmal nach der Planie mit der Karre fuhren, da fuhr auch die Rosa mit ihrer Partie vor uns her. Mitten des Weges kamen uns zwei echte Abraumbrüder mit leerer Karre entgegengefahren. Der eine hatte eine Schürze aus einem alten Sacke so umgebunden, daß es aussah, als hätte er einen Weiberrock an. Sein Hemde war ganz zerrissen, ein Ärmel fehlte beinahe ganz. Warum er die große Schürze um hatte, wußte ich da noch nicht, habe es aber bald erfahren. Da nun sprang die Rosa von ihrer Karre weg, zu dem mit der Schürze hin, und rief: »Johann, es muß bald Mittag sein, ich möchte Mittag läuten.« Damit schob sie die vordere Schürze schnell auf die Seite und erfaßte ihn bei seinem Glied. »Bim, baum, bim, baum, bim, baum«, rief sie immer dazu. Alles blieb stehen, denn niemand konnte vor Lachen weiterfahren. Hatte der Kerl seine Hosen so zerrissen, daß er dastand, wie er geboren war. Und nun noch das Geläute dazu. Nun wußte ich, warum der die große Schürze trug. Die Rosa wurde für ihr Kunststück von allen Seiten gelobt. »Na, ich kann es gut, was?« sagte sie und drehte sich fragenden Blickes nach allen Seiten hin.

Wenn es Zeit zur Pause war, so gab der Partieführer mit seiner Pfeife das Zeichen zum Aufhören der Arbeit. Jeder ließ dann sofort seine Karre stehen, die Schaufel fallen, stürzte zum Figuranten, um sich Blechmarken geben zu lassen und dann ging es im Laufschritt in die Kantine. So taten wir schließlich auch. Früh um halb neun Uhr, zum Frühstück, ließen wir uns gewöhnlich jeder einen Kaffee und zwei Zöpfchen geben. Er wurde uns in einem tönernen braunen Töpfchen hingelangt, war kalt und schmeckte sehr wenig nach Kaffeebohnen. Für die sieben Kreuzer, die er kostete, war er viel zu teuer, was sollten wir aber machen? Anderswo hingehen konnten wir nicht; es war überall hin viel zu weit. Dann schimpfte der Havel, daß das nur Jauche und kein Kaffee wäre. Neben uns stand oft einer, der seinem Aussehen nach auch erst ein Anfänger war; auch der schimpfte, der Kaffee schmecke miserabel und der Schnaps wäre wie Wasser. Zu Mittag ging es noch lebhafter zu. Da war der Andrang zu dem Fenster, wo Speisen, Bier und Schnaps ausgegeben wurden, besonders groß. Es gab meist Gemüse ohne Fleisch, auf einem größeren, tönernen Teller, und kostete zwanzig Kreuzer, ein Glas Bier dazu neun Kreuzer. Manche ließen sich das warme Mittagessen geben, andere wieder Wurst mit Brot oder Semmel. Manche tranken Bier, andere ließen sich noch ihre Flasche mit Schnaps füllen. Mit richtigem Gelde zahlen sah man niemanden, alle hatten nur Blechmarken. In der Nähe vor dem Fenster standen die intimsten Brüder zu zwei, drei und vier beisammen und sprachen alles mögliche durcheinander; es summste, wie in einem Bienenstock. Die einen prahlten: »Kruzifix, heute haben wir schon viel Hunde gemacht, wenn das so fortgeht, da gibt es eine Auszahlung wie noch nie!« Andere wollten noch mehr geschafft und verdient haben, und brüllte der eine immer mehr wie der andere. »Du dummer Hund, Affengesicht du, willst mehr wie ich schaffen, du mit deinen Beinen, die wie ein paar Spazierstöcke aussehen?« »Gehe weg, du Rindvieh, sonst muß ich dir eine schmieren!« »Na, weißt du,« fing der andere wieder an, »ich habe den Feldzug sechsundsechzig mitgemacht, und da willst du mich erniedrigen? Wär's jemand anders, als du, den würde ich etwas Hartes fühlen lassen.« »Na, na, nicht so aufgebracht sein, verstehst wohl gar keinen Spaß? Lasse das lieber sein und trinke mal. Hier, prost! Wir sind doch die gute Banda!« beruhigte ihn ein anderer, und die Umstehenden lachten. Andere wieder foppten einander wegen ihres gestrigen Rausches. »Grüß dich Gott, Joseph! Na, warst du aber gestern besoffen, wie ein Schwein, daß du gar nicht gehen konntest!« »Und du Schweinskopf warst nicht nüchtern!« hörte man die Antwort. Solche und noch gröbere und gemeinere Titulationen und Ausdrücke flogen hin und her. Der Lärm wurde mitunter so groß, daß man bei dem Ausgabefenster laut schreien mußte, wenn man etwas verlangte. Wir, ich und mein Vater, haben am ersten Mittag jeder eine Leberwurst gegessen, die ich holte, und tranken noch ein Glas Bier dazu. Das Brot brachten wir uns von zu Hause mit. Wir saßen auf der Bank vor der Kantine, von wo aus ich mir dann noch einmal das Innere der Baracken der echten Abraumbrüder betrachtete. Die Sonne brannte an diesem ersten Tage sehr. Da sagte der Vater, wir möchten lieber in die Figur gehen und uns hinter der Lehmwand in den Schatten setzen, bis die Arbeit wieder los ginge.

Die Figur war ungefähr vier bis fünf Meter hoch und bestand aus Lehm und anderem Erdreich. Gleich unter der Sohle war schon die Kohlendecke. Die Kohlenwand konnte wohl ungefähr sieben bis acht Meter hoch sein. Die obere Lehmschicht wurde also von den Kohlen abgedeckt und dafür die Löcher, wo die Kohlen ausgeraubt waren, damit ausgefüllt. Das war unsere Arbeit. Und das hießen die Leute da Abraum oder auch Tagbau.

Hinter uns kamen nach dem Essen auch die andern Arbeiter und Arbeiterinnen, einer nach dem andern an. Das Sticheln und Foppen begann von neuem. Und die schlimmsten Ausdrücke wurden wieder angewendet. Rosa und Anna waren auch schon da. Gelegentlich machte sich einer von den Abraumaken an sie, kitzelte sie, griff ihr da- und dorthin. Sie wich zurück, haute mit den Händen um sich und schrie: »Gehen Sie weg, Sie! Sie dummes Schwein!« Einer aber, den sie immer Franz nannten, drang der Anna spottend nach: »Na / gestern wirst du wohl nicht so schüchtern getan haben. Halte nur, ich will nur sehen, ob nicht was mit dir losgeworden ist.« Je mehr er auf sie drängte, desto mehr schimpfte sie und spie ihm sogar ins Gesicht. Aber er machte sich nicht viel daraus, ging ihr immer nach, machte dabei ein sehr verliebtes Gesicht. »He, he, he! Du meinst das ja nicht so, wie du tust. Nicht wahr, wenn es finster wäre, da würdest du schon ruhig sein?« Sie wich rückwärts immer weiter, bis sie über einen Lehmklumpen stolperte und fiel. Die Gelegenheit benutzte er nun, sprang hin, mit den Händen ihre Arme fassend, legte sich auf sie und fing an, den Beischlaf zu markieren. Sie schrie wieder, spie ihm wieder ins Gesicht, bemühte sich, ihn von sich herunterzuwälzen. Aber es half ihr nichts, er führte sein Kunststück durch. Von allen Seiten, sogar aus den Nachbarfiguren, erscholl nun freudiges Händeklatschen. »Bravo, bravo, Franz, das war ein Meisterstück!« Ich aber schämte mich vor meinem Vater, daß ich so etwas vor ihm mit ansehen mußte, verkroch mich zwischen die großen Lehmstücken und tat, als sehe ich nichts von dem allen.

Dann machte sich noch einer, der Vinzenz hieß, und in diesen Künsten auch nicht zurückbleiben wollte, an eine andere jüngere, die sie Fanny nannten. Die aber war von anderer Art, sprach nicht viel und hatte nicht so ein loses Maul wie die anderen Frauen und Mädchen. Bei der hatte der Vinzenz kein solches Glück, wie sein Kollege bei der Anna. Sie fuhr ihn sehr grob und abschlägig an. »Schauen Sie, daß Sie wegkommen, Sie dummes Luder! Denken Sie, daß ich ein Freimensch bin, die sich von Ihnen herumbalgen läßt? Wenn Sie mir keine Ruhe geben, gehe ich sofort zum Partieführer, verstehen Sie!« Mit dieser kräftigen Abwehr kaufte sie ihm den Mut so ab, daß er die Hände zurückzog und von ihr zurücktrat. Aber die andern lachten ihn aus, daß er ein Feigling wäre. Das machte ihn wütend. »Du verfluchte Blindschleiche, hier willst du die Heilige spielen, aber in der Nacht im Gebüsch bei den Kolonien, da kann jeder mit dir machen, was er will. Wenn es nicht hier wäre, ich gäbe dir ein paar Hiebe auf deine Schnauze, daß dich der Teufel holen tät, du Canaille!« Es war gut, daß da die Pfeife des Partieführers ertönte.

Das war meine erste Mittagspause. Und ich kann sagen, daß ich in den zwei Wochen, die wir hier arbeiteten, den einen wie den anderen Tag nicht viel anderes gesehen und gehört habe, als was ich an diesem ersten Tage erlebte. Und das, was ich hier erzähle, ist nur ein kleiner Bruchteil davon, was ich in Wirklichkeit erlebte. Etwas Vernünftigeres konnte man nur von den neu Eingetretenen hören. Ein jeder von denen war auch sogleich an der Kleidung zu erkennen, ebenso an seinem Benehmen. Deshalb hielten solche Leute hier auch nicht lange aus. Sie wurden von den Abraumbrüdern stets nur Bauerntölpel, Bauernträmpel und dergleichen genannt. Wegen ihrer Zurückgezogenheit und ihrer mäßigen Lebensweise mußten sie sich bei jeder Gelegenheit, die sich den Brüdern bot, von ihnen verhöhnen und verspotten lassen, was sie natürlich nach kurzer Zeit satt kriegten. Das Arbeiten und Leben unter diesem Gesindel war ebenso unerträglich, wie die Behandlung und Löhnung durch die Herrn, wenn diese merkten, daß sie nicht allen Verdienst in der Kantine verzehrten. Bei den meisten blieb es nur bei einer acht- oder vierzehntägigen Anwesenheit. Immer gingen welche fort, andere kamen dafür an. Alle aber wurden eigentlich nur als Aushilfspersonal benutzt, wenn die echten Lumpenproletarier nicht zureichten, die Lieblinge! So ging der Wechsel ewig fort. »Es ist wie ein Taubenschlag!« hörte man von den Leuten sagen.

Die Echten waren das Stammpersonal. Sie plagten und schanden sich wie Tiere und beschimpften jeden, der nicht so mittat. Am liebsten taten sie so, wenn es ein Vorgesetzter sah und hören konnte. Damit dachten sie sich bei dem Herrn einen guten Namen einzulegen. In ihrer Redeweise hieß es »Einkratzen«. Denn so brutal und gemein sie anderen Arbeitern und Arbeiterinnen gegenüber und untereinander waren, so schmeichelhaft und untertänig zeigten sie sich gegen ihre Vorgesetzten und Unternehmer. Beinahe wie die Hunde, auf allen Vieren, krochen sie hin, wenn einer von ihnen erschien, oder wenn sie etwas von ihnen verlangten. »Küsse die Hand, guten Morgen wünsche ich! Bitte untertänigst, gnädiger Herr!« In der Kantine: »Gnädiges Fräulein oder Frau!« anders hörte man sie nicht sprechen; dabei machten sie ein höchst ehrfurchtsvolles Gesicht, wie ein Sklave vor seinem Herrn. Dabei waren sie in der Kantine mit allem zufrieden. Alles schmeckte ihnen, nichts war ihnen zu teuer oder zu wenig. Der ganze Lohn, den sie verdienten, blieb gleich in den Händen des Unternehmers, der Kantinenbesitzer und Partieführer zugleich war. Ja, der Lohn reichte bei vielen noch nicht, sie blieben noch in Schuld und Rest. Auf diese Art bekamen die Unglücklichen nie einen baren Kreuzer in die Hand. Das, was sie sich mit hergebracht hatten, wurde heruntergelumpt, neues konnte nicht gekauft werden, höchstens, wenn es schon gar zu schlimm war, und sie sich mit Mühe von dem Herrn etwas herausbettelten. Schließlich konnten sie ja doch nicht ganz nackt arbeiten und da warf man ihnen dann ein paar Kreuzer hin, damit sie sich ein Hemd oder eine Hose kaufen konnten. Aus diesem Grunde konnten sich die armen Sklaven, wie sie sagten, auch nicht »rühren«, sie mußten bleiben, konnten so zerlumpt, ohne Geld, nicht fort. Ein Gendarm hätte sie beim ersten Begegnen arretiert, als Strolche dem Gericht übergeben. Dennoch bildeten auch sie, trotz ihrer großen Armut, zwei Klassen. Die in den Baracken waren alle noch ledig, ob jung oder alt; und waren mit allem, was sie zum Leben brauchten, auf die Kantine angewiesen. Die Leute, die hinter Dux an der Osseger Straße in der »Kolonie« wohnten, hatten zwar meistens gar keine Möbel oder doch nicht viel, sie waren aber doch verheiratet und führten ein Familienleben. Sie gingen nicht so zerlumpt, wenn auch nur ärmlich angezogen, konnten sich noch selbst etwas zum Essen kochen, und sind so doch ein bißchen besser und billiger weggekommen als die Barackenbewohner.

Als am ersten Tag abends, es war wohl sieben Uhr, die Arbeit aufgehört hatte, gingen wir nach Hause in die Kolonie. Unterwegs holten wir unseren Logisherrn ein; es wurde schon dunkel. Und in der Stadt trafen wir auf dem Marktplatz unverhofft einen Bekannten aus unserem Orte. Es war der Franz Mrhal, der bei seinem Vater die Schuhmacherei gelernt hatte, dann auf die Wanderschaft ging und in Dux Arbeit fand. Nachdem er erfuhr, was wir hier machten, und daß wir bald wieder nach Hause wollten, bat er uns, seinen Eltern einen Gruß auszurichten. Dann gingen wir weiter. Unterwegs kauften wir noch etwas zum Abendessen. Mit dem Wanek ging's nur langsam vorwärts; es war ihm ein Stück Kohle auf den Fuß gefallen. Als wir nach Hause kamen, wuschen wir uns einer nach dem anderen bei der Wasserpumpe, ohne Seife; einer pumpte immer und der andere wusch sich. So ging es, bis alle fertig waren. Unser Logisherr besaß kein Waschbecken. Nachdem gegessen war, legten wir uns lang auf unser Lager, denn wir waren sehr müde, besonders ich. Denn bei dem Karrenschieben mußte ich mich mit Händen und Füßen stemmen, und so tat mir alles, Hände, Beine und der Rücken weh. Auch der Kopf tat mir von der brennenden Sonne weh; auf der Brust brannte es mir wie Feuer, der Hals war wie verstopft, beim Ausspucken kam ganz schwarzer Schleim heraus. An diesem Abend wurde nur das Nötigste gesprochen; Wanek klagte über Schmerzen im Fuße und hatte deshalb auch nicht viel Lust zum Gespräch. Wie aber die Frau und Kinder aufhörten, in der Stube herumzugehen und sich auch niederlegten, da fingen die Grillen an zu konzertieren: »Fiep, fiep, fiep!« Sie steckten unter dem Fußboden, ihre Stimmen tönten aus allen Ecken und Winkeln. Nach einer Weile, als wir das Gefiepe satt hatten, klopfte der eine oder der andere mit der Faust auf die Dielen; es wurde zwar ruhig, aber nach einer Weile ging es wieder los. Es wurde wieder geklopft und so ging das fort, bis wir doch einschliefen. Der Wanek sagte, daß die Grillen mit dem Gras und den Stoppeln, mit denen hier die meisten Strohsäcke gefüllt wären, hereingebracht worden wären. Sie wären in allen Wohnungen. Früh am Morgen, als wir aufstanden, waren die Grillen dann ruhig; erst abends haben sie uns wieder belästigt und so ging das jeden Abend.

Schließlich ging doch die Woche bei der qualvollen Arbeit zu Ende und so kam der Sonntag. Am Vormittag mußte ich Verschiedenes besorgen, Brot, Fett usw. aus der Stadt holen. Nach dem Essen ging ich mit dem Adolf noch einmal um das Gebüsch herum, nach der vierten, fünften und sechsten Reihe der besseren Wohnungen hin. Warum es mich gerade dorthin zog, wußte ich damals nicht recht. Ich wunderte mich nur über den Unterschied, den ich zwischen den Leuten und ihrer Einrichtung in den ersten drei Reihen und hier sah. Meine Besichtigung und Verwunderung dauerte aber nicht lange; sie wurde durch Feuerwehrsignale unterbrochen. Auf der Straße drüben rasselte es schon; die Feuerwehr kam angefahren; wir stürzten nach. Auf der rechten Seite der Straße brannte der Busch. Das Feuer wurde bald gelöscht, die Feuerwehr fuhr wieder ab, und wir gingen nach Hause. In dem Bach, an dem wir vorbei mußten, standen Frauen auf den Steinen, die Röcke bis über die Waden in die Höhe gezogen, und wuschen ihre Wäsche. Gewiß haben sie keine Wanne zu Hause, dachte ich bei mir. Dann gingen wir nach der Stadt. Dort trafen wir ein »Ringelspiel« (Karussell), dessen Besitzer jemanden zum Schieben brauchte. Ich ging und schob bis abends. Die eine Tour mußte ich schieben, die andere durfte ich auf den Pferden reiten. Das war die Belohnung. Verdrossen über meine Müdigkeit vom Schieben, kam ich abends nach Hause. So verbrachte ich diesen Sonntag in Dux.

Den nächsten Tag, Montag früh, gingen wir wieder in unsere Arbeit. Auch da und die folgenden Tage war das Leben auf dem Abraum dasselbe wie in der vorigen Woche. Das Beschimpfen und Beleidigen war wieder an der Tagesordnung. Nicht die geringste Rücksicht auf das Geschlecht und Alter der Mitarbeiter. Auch das Prahlen von der vielgeschafften Arbeit und die Hoffnung auf eine große Auszahlung hörte man stets wieder während den Pausen. Unsere Kost war auch diese Woche nicht anders wie die vorige. Der Reis, die Erbsen, die Kartoffeln mit Schweinsgrieben und anderes, alles ohne Fleisch, war dem Vater für zwanzig Kreuzer zu teuer. Wir kauften uns deshalb früh in der Kantine jeder ein Töpfchen Kaffee, zum zweiten Frühstück für sechs Kreuzer Schnaps oder einen halben Liter Bier gemeinsam und haben dazu das mitgebrachte Brot mit Fett oder ein Stückchen Wurst gegessen. Zu Mittag, Vesper und abends machten wir's ebenso oder ähnlich. So ging das die ganze zweite Woche.

Aber jeden Tag früh, so oft wir zur Arbeit gingen, klagte einer mehr als der andere, daß ihm die Glieder weh täten, weil sich die Stoppeln, auf denen wir lagen, auseinander schoben und wir so auf den bloßen Brettern lagen. Die Grillen belustigten oder ärgerten uns ebenfalls einen Abend wie den andern, solange wir hier logierten.

Am nächsten Samstag sollte die sehr erwartete Lohnzahlung sein. Der Vater und Havel hatten beschlossen, nicht länger hier zu arbeiten, wie bis zur Auszahlung. Ich war froh, als ich das hörte, und konnte den Samstag gar nicht erwarten. Schließlich kam dieser ersehnte Tag. Nach der Arbeit, um sechs Uhr abends, ging es zur Auszahlung in der Kantine. Von allen Seiten strömten die Arbeiter und Arbeiterinnen heran. Durcheinander gemischt, Jungen, Mädchen, Männer und Frauen, drängten sie alle sich aneinander. Da wurden in dem Gedränge wieder Griffe an Mädchen und Frauen gemacht, wurde gestichelt, die üblichen Ausdrücke gewechselt und gelacht. Meine Aufmerksamkeit richtete sich nur auf jene, die während der ganzen Zeit immer so sehr prahlten. Ich stellte mich unweit von dem Fenster auf, an dem ausgezahlt werden sollte. Aber was mir sehr auffällig war, war, daß gerade die, welche am meisten geprahlt hatten, jetzt schon vor der Auszahlung viel ruhiger waren oder gar traurige Gesichter machten. Nun öffnete sich das Fenster, hinter ihm erschienen zwei Herren. Der eine hatte eine Liste in der Hand und las daraus vor: »Jarosch!« »Hier!« rief einer und drängte sich vor. »Zweiundsiebzig Kreuzer.« Dann kam einer mit achtundachtzig Kreuzern. Die Kerle machten, als sie von dem Fenster kamen, ein sehr saures Gesicht. Der dritte, der aufgerufen wurde, war gar mit fünfundvierzig Kreuzern in Rest. Wie er das hörte, duckte er sich ein bißchen nach dem Fenster, machte ein sehr trübseliges Gesicht und fing an zu betteln: »Aber ich bitte untertänigst, gnädiger Herr, sind Sie gut, geben Sie wenigstens sechzig oder siebzig Kreuzer, ich brauche ein Hemd / zu einem getragenen langt es dann!« Der Herr, der auszahlte, machte eine lächelnde Miene, sah dann den so elend Dastehenden, Bettelnden verächtlich an und warf ihm das Geld hin. Der aber strich das Geld mit der einen Hand von dem Fensterbrett in die andere, drehte sich dann schnell um, machte einige Sätze vorwärts und fing an zu jubeln: »Juch, Geld wie für eine Kuh!« rief er seinen Kollegen freudig zu, das Geld hinzeigend. Dann kam wieder einer mit Rest, der sich aber nicht viel daraus machte und fortging, mit den Worten: »Ach, da lasse ich mir Blech geben, ein Schnäpschen muß heute doch getrunken werden.« Dann kamen wieder einige dran, die etwas herauskriegten. Meistens waren es solche, die unten an der Kohlenwand schafften und Akkord hatten.

Ich ging nun meinen Vater suchen, den ich im Speiseraum fand. Er stand mit Havel am Tisch, wo der Figurant Láska und seine Frau saßen. Hier erfuhr ich, daß die Leute von Obertage durch den Figuranten das Geld erhalten, bei dem sie arbeiten. Einige hatten es schon erhalten.

Ich hätte wohl gar nicht bemerkt, daß die Frau Láska weinte, wenn nicht ein Mann neben uns auf sie hingewiesen und gesagt hätte: »Seht, wie sie wieder heult.« Als der Vater seinen und meinen Lohn erhalten hatte, gingen wir zur Kantine hinaus. Dann fragte ich ihn, wie viel Lohn wir bekommen hätten: »Ich einen Gulden zehn Kreuzer für den Tag und du sechzig Kreuzer,« antwortete er mir nur halblaut. Als Havel uns mit seinem Gelde nachgekommen war, machte er auch ein unzufriedenes Gesicht. Und da fragte er den neben uns stehenden Mann, warum die Frau des Figuranten geweint habe. »Ach, die Sau! Die denkt, sie wird noch verhungern. Jedesmal, wenn Auszahlung ist, weint sie, weil es ihr um das Geld leid tut. Sie möchte alles lieber selbst behalten. Das ist nichts Neues bei der.« Damit ging er dann von uns fort. Wir gingen dann nach Hause. Hinter uns kam gleich auch der Wanek. Wie er in die Stube hereintrat, machte er einen tiefen Seufzer: »Ach, ist das ein Elend! Drei Gulden und ein paar Kreuzer. Was sollen wir damit anfangen? Das soll vierzehn Tage reichen,« und setzte sich auf das Brett auf den Ziegeln bei der Wand, hielt die Hände in den Schoß und sah traurig vor sich hin. Seine Frau, die bei dem Ofen stand, drehte sich um und schaute ihn stumm an, ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile lenkte er seine Blicke zu meinem Vater hin und sagte fragend: »Na, Sie gehen morgen fort?« Der Vater nickte und er fuhr weiter: »Das ist euer Glück; zu holen ist hier nichts, man hat von Woche zu Woche nur immer weniger. O, könnte ich es auch so tun!« Dann fuhr er fort und meinte, die Herren auf dem Abraum, von den Figuranten an, wären wie eine Räuberbande. Die Frau aber nahm das Geld von ihrem Manne, setzte sich auf den Schemel am Ofen und weinte bitterlich. Mir tat die Frau sehr leid. Denn ich verstand ihr Leid; ich hatte schon genug Erfahrung damit zu Hause erworben, wie meiner Mutter und auch mir zumute war, wenn kein oder wenig Geld da war, und wir nichts zu essen hatten. Da weinte meine Mutter auch viele Male.

Den nächsten Tag früh stand die Sonne schon hoch, als wir aufstanden. Die Frau kochte diesmal auch für uns den Kaffee. Nach dem Frühstück ging der Vater und Havel in die Stadt, noch etwas zu besorgen; auch mußten sie wohl noch ihre Arbeitsbücher von dem Abraum abholen. Und ich räumte währenddessen die Stoppeln aus der Stube wieder auf das Feld und übergab die zerschnittenen Säcke der Frau, weil mein Vater sagte, daß wir sie nicht mitschleppen wollten. Noch ehe es Mittag war, standen wir reisefertig da und nahmen nun von den Waneksleuten Abschied. Aber es war ein schweres Verabschieden. Die Frau brach in lautes Weinen aus, bis ich selbst mit weinte. »Gott, wie glücklich würde ich sein, wenn wir auch so wie ihr aus diesem Jammertal gehen könnten. Heilige Jungfrau Maria, was wird noch aus uns werden? Ihr seid erlöst, aber wir / ach, wir Unglücklichen! Gott lenke uns auch in ein besseres Schicksal!« so jammerte sie, weinte laut und schlug dabei immer ihre Hände zusammen. Das kleine Mädchen, das die Bedeutung von alledem nicht verstand, sah ihre Mutter ängstlich an, hängte sich an ihre Röcke und weinte auch. Auch ihr Mann, der ganz nahe zu uns getreten war, sah sehr niedergeschlagen und traurig aus. Adolf aber schaute dem allen von der Seite stumm zu; er war sehr rot im Gesicht geworden, und wie er mich so traurig ansah, wurde ich gewahr, daß auch ihm die Tränen in den Augen standen. Nachdem der Vater und Havel jedem der Kinder noch ein paar Kreuzer gegeben, reichten wir jedem einzelnen die Hand und traten zu der Tür hinaus. Die Frau begleitete uns, immer noch weinend, bis vor die Haustüre und schüttelte uns dort noch einmal unsere Hände. Ihr Mann und Adolf aber gingen gar mit bis nach Dux; dort erst sind wir auseinander gegangen.

Wir schritten durch die Bahnhofstraße, an der Zuckerfabrik vorbei, gegen Brüx zu. Ich aber trug mir viele und neue Lebenserfahrungen von Dux mit nach Hause. Als ich einmal, ungefähr nach zwanzig Jahren, wieder nach Dux kam, erinnerte ich mich wieder an das alles, was ich hier erlebt hatte und suchte auch nach der Stelle des Abraumes, wo wir geschwitzt hatten. Aber ich fand nichts mehr als durchgebrannte Halde.

Jenen Sonntag aber sind wir über Brüx noch bis nach Saaz gegangen. Abends um halb zehn Uhr langten wir dort an. Dort war es meinen Leuten zum Übernachten zu teuer und es hieß: »Wir gehen noch bis nach Holletitz.« Wie wir aber da ankamen, hieß es wieder: »Na, wir haben ja nicht mehr weit bis nach Hause, noch vier Stunden, wir gehen langsam fort.« Ich erschrak, wie ich das hörte. Jetzt in der Nacht durch den Wald, von dem ich so viel Schreckliches hörte! Ach, wenn sie doch lieber übernachten wollten! Aber es ging weiter.

Als wir dann am Rand des Waldes hinter Holletitz anlangten, setzten wir uns auf den Rasen hin. Da schlug es auf dem Kirchturm elf Uhr. Der Vater und Havel schliefen bald. Nur ich konnte nicht einschlafen. Wenn ein Blatt vom Baum herunterfiel oder sich sonst etwas rührte, spitzte ich die Ohren, lauschte, ob nicht schon ein Räuber über uns käme; denn überall wo ich nur hinsah, ahnte ich solche. Dann ging es weiter. Aber mitten im Walde ruhten wir wieder aus. Dann aber nicht mehr bis am Ende. Ich habe jene Nacht kein Auge zugemacht, immer plagte mich die Angst und die Furcht. Nach der letzten Rast ging es gegen den Ort Kounov zu. Es wurde schon grau. Links an der Straße, unweit vom Walde, stand eine Kapelle, vor ihr ein Schiebbock, aus dem Innern hörte man eine weinende Stimme. Was sollte das bedeuten? Aber meine Führer eilten schnell vorüber.


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