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In der Ziegelei und Zuckerfabrik

Während ich immer noch die Bewohner der umliegenden Dörfer mit meiner »Kunst« belustigte oder auch belästigte, arbeitete der Vater wieder in der Ziegelei. Eines Abends, als er von der Arbeit nach Hause kam, kündigte er mir an, daß ich am andern Tage früh mitgehen müsse, um wieder Ziegel wegzutragen. Darüber freute ich mich mehr als ich traurig war, denn ich wurde dadurch wenigstens von der Bettelei und dem Spielen mit der Harmonika befreit. Auch fühlte ich mich jetzt um vieles kräftiger, als im Jahre vorher, trotz der vielen Strapazen, die ich diesen Winter hatte durchmachen müssen, denn auf meinen Betteltouren konnte ich mich wenigstens satt essen, etwas, was mir zu Hause sehr selten passiert war. Und dann bekam ich auch noch extra manches Gute, vom Mittagtisch Übriggebliebene, wie wir es zu Hause nicht hatten. Ich legte also meine Ziehharmonika in den Kleiderschrank, suchte mir einen Sack, machte mir eine Schürze daraus und war nun für den nächsten Tag gerüstet.

Ich hatte es denn auch in diesem Jahre wirklich etwas leichter. Das Mädchen, das im vorigen Jahre die Ziegel gemacht hatte, war im Winter an den Folgen ihrer Überanstrengung erkrankt und starb. Mein Vater mußte deshalb den Lehm und auch die Ziegel selbst machen. Allein konnte er aber natürlich nicht so viel fertigstellen wie einst die beiden zusammen und ich brauchte also auch nicht so zu laufen und zu tragen. Feierabend gab's aber deswegen auch nicht früher wie einst. Denn wenn der Lehm aufgearbeitet war, so mußte frischer von der Lehmwand losgehackt und eingewässert werden. Das Loch, in dem letzteres geschah, wurde Sumpf genannt und war von der Lehmgrube etwa fünfzig Schritte entfernt. Ich mußte dann dem Vater immer helfen, den Lehm in die Karre laden. Erst wenn wir mit dieser letzten Arbeit fertig waren, konnten wir nach Hause gehen. Dann war es aber schon recht dunkel geworden.

Früh, wenn ich zur Arbeit ging, mußte ich für den Vater den Kaffee und ein Stück trockenes Brot zum Frühstück mitnehmen, denn er pflegte noch viel früher aufzustehen und mit der Arbeit zu beginnen. Wenn ich in die Ziegelei kam, was immer so gegen sechs Uhr geschah, hatte er schon einen großen Haufen Lehm fertig und zum Ziegelmachen vorbereitet. Die Mittagspause dauerte auch nicht länger als eben das Essen dauerte. Das Mittagessen brachte uns die Mutter oder der Bruder. Fleisch gab's die ganze Woche nicht. Nur Sonntags, wenn wir mal ein Kaninchen schlachten konnten, hatten wir welches, und da kam auf keinen von uns viel.

Einmal, als wir wieder gegen Abend den Lehm in das Sumpfloch karrten, hörte mein Vater plötzlich mit dem Schaufeln auf und setzte sich auf die Karre. Er zitterte am ganzen Körper und stöhnte: »Ach Gott, ich kann nicht weiter.«

Ich war mächtig erschrocken, lief aber sofort nach dem Ziegelmeister. Dieser kam auch sofort und gab dem Vater Schnaps zu trinken. Er erholte sich denn auch nach einiger Zeit und befahl mir, für ihn einen Liter Bier zu holen. Es geschah, und dann ging die Arbeit weiter.

Dieser Ziegelmeister war ein gelernter Uhrmacher. Er war von sehr starkem Körperbau und ein Deutscher. Tschechisch konnte er nur sehr wenig sprechen. Im vorigen Jahre hatte er noch sehr wenig Schnaps getrunken. Und früher soll er, wie mir mein Vater erzählte, überhaupt keinen getrunken haben. Jetzt aber mußte ich ihm morgens und nachmittags einen viertel Liter Korn mit Rum holen. Meinen Vater hörte ich oft sagen, daß der alte Seemann dem Meister das Schnapstrinken gelernt hätte. Der Seemann arbeitete auch in der Ziegelei. Er fuhr die trockenen Ziegel in den Brennofen, die dann der Meister hineinsetzte, war der Ofen voll, dann half er dem Meister beim Brennen, waren sie auch damit fertig, so machte der Meister Dachziegel und der Seemann den Lehm dazu. Der Seemann selbst war kein übermäßiger, aber ein regelmäßiger Trinker, täglich am Morgen für fünf Kreuzer und außerdem noch ein Fläschchen voll, das er sich von zu Hause mitbrachte. Er ließ den Meister immer mittrinken, bis schließlich der Meister anfing, sich selbst welchen zu kaufen. Der aber blieb nicht bei dem bescheidenen Quantum wie der alte Seemann, sondern trank immer mehr. Früher war er weiß und rot im Gesicht und sah recht gesund aus. Jetzt war sein Gesicht rot und blau, er taumelte hin und her und blieb nicht selten auf dem Dachziegelboden oder im Brennhaus liegen. Der alte Seemann pflegte dann lachend zu sagen: »Der hat wieder einmal genug.«

Mein Vater trank keinen Schnaps. Als wir einige Wochen in der Ziegelei gearbeitet hatten, erlaubten mir meine Eltern, meine alte Harmonika gegen eine neue einzutauschen und zahlten zur alten noch etwas auf. Die neue Harmonika spielte denn auch viel schöner als die alte, ließ sich aber auch viel schwerer ziehen, weil ihr Blasebalg noch neu und stramm war. Mir taten infolgedessen, nachdem ich einige Stücke gespielt hatte, der Rücken und die Hände weh.

Im Frühjahr ließ mein Vater die große Stube herrichten und wir zogen aus der kleinen aus. In der großen Stube gab es aber auch keinen Fußboden von Brettern. Dieser bestand ebenfalls aus festgestampftem Lehm, der vorher angefeuchtet wurde. In der kleinen Kammer wohnte der Dominik mit seiner Mutter. Und in die Stube, in der wir erst wohnten, zogen Leute ein, die auch arm waren. Sie hatten vier Kinder und einen Leierkasten und hießen Ferda.

Einmal, es war in der Mitte des Sommers, sagte die Frau Ferda zu mir, sie ginge am nächsten Sonntag nach Tschernitz, einem Nachbarort, spielen. Es wäre da ein Fest und ich solle mit ihr gehen. Dazu hatte ich nach meiner wöchentlichen Plackerei keine große Lust. Aber die Mutter redete mir auch zu, ich solle doch mitgehen, ich bekäme dort, weil es festlich herginge, auch gut zu essen, besser als sie es mir zu brause geben könne. Daß die Mutter damit recht hatte, wußte ich recht gut. Und so sagte ich denn auch schließlich zu, mitzugehn. Als der Sonntag kam, machte ich mich frühzeitig mit der Frau Ferda auf den Weg. Und, so wie es an jedem Feste zu sein pflegt, war es auch hier. Die Leute sind an solchen Tagen immer besserer Laune als sonst und man bekommt infolgedessen auch mehr. Ich bekam gut zu essen, Fleisch, und zwar recht viel, Klöße, Kuchen, Geld und auch Bier zu trinken. Natürlich mußte ich aber dafür auch mehr wie sonst musizieren. Mit meiner schwergehenden Harmonika war das durchaus kein Vergnügen. Müde, als hätte ich den ganzen Tag Holz gehackt und gesägt, kamen wir am Abend nach Hause. Es war schon recht dunkel als wir ankamen. Ich brachte meinen Korb voll Kuchen und außerdem noch achtzig Kreuzer an Geld mit heim.

Am andern Morgen ging's wieder in die Ziegelei. Aber diesmal fiel mir die Arbeit recht schwer. Kopf und Rücken schmerzten heftig, die Beine wurden matt. Zwei Tage schleppte ich mich so mühsam arbeitend fort, bis ich am dritten Tage liegen blieb. Ich bekam Fieber, aß nichts und wurde so matt, daß ich mich im Bett nicht selbst aufrichten konnte, um mir etwas herbeizureichen. Der Bruder reichte mir dann hin, was ich verlangte. Das heißt, wenn er eben da war oder wollte. Die Mutter war in der Arbeit, der Vater auch, und wenn sie nach Hause kamen, war es schon recht spät, und sie hatten dann weder Zeit noch Lust, sich viel um mich zu kümmern. Es war also wieder genau so, wie bei meiner ersten Krankheit. Auch die Frau Walter kam wieder, nachdem sie von meiner Krankheit erfahren hatte, auf ihren Stock gestützt, zu mir gehumpelt. Sie brachte mir wieder Kräuter, Milch, Bauernbrot, Pflaumen und anderes. So lag ich acht Wochen lang im Bett. Aber nachdem ich endlich aufstehen konnte, ging ich doch noch vier Wochen lang herum, ohne arbeiten zu können, bis das Rübenernten anfing. Während meiner Krankheit wurde die Arbeit in der Ziegelei eingestellt, weil genug Ziegel vorrätig waren. Mein Vater mußte sich nach andrer Arbeit umsehen und ging mit der Mutter nach Horosedlitz, Hopfen pflücken. Inzwischen begann der Betrieb in der Rakonitzer Zuckerfabrik und mein Vater begann wieder dort zu arbeiten, während ich mit der Mutter nach dem Koleschowitzer Rittergut zur Rübenernte zog. In diese Zeit fallen auch die meisten Kirchweihfeste der umliegenden Dörfer. Und da bewog mich die Mutter von neuem, mit der Harmonika auszugehen und die guten Tage nicht ungenützt vorüber zu lassen.

Als ich eines Tages in dem Dorfe Chrastan spielte, kam ich zu einem Bauer. Es war, wie die schwarze Tafel an der Vorderseite seines Hauses verkündete, der Vorsteher dieses Ortes. Nachdem ich einige Stücke gespielt hatte, kam der Bauer heraus und reichte mir ein Stück Kuchen hin mit den Worten: »willst du bei mir dienen?« Ich bejahte dies. »Ich brauche nämlich einen Jungen zum Kühehüten und da könntest du bei mir antreten,« meinte der Bauer. Ich willigte ein und erzählte es, als ich zu Hause ankam, der Mutter. Die wollte aber von der Sache nichts wissen. Mir hingegen war wieder alles lieber als das Bettelmusikantentum und mir graute schon vor dem kommenden Winter, der mir wohl dieselben Leiden bringen würde wie der vergangene. Ich beschloß deshalb, auch gegen den Willen der Mutter, am nächsten Tage den Dienst bei dem Bauer anzutreten. Am andern Tag wartete ich auf eine passende Gelegenheit, um aus dem Haus zu kommen. Diese bot sich denn auch bald, denn die Mutter ging irgendwohin, Wäsche waschen. Ohne mir erst meine Sachen mitzunehmen, machte ich mich auf den Weg, um meinen Dienst anzutreten. Gegen Mittag kam ich bei dem Bauer an. Er empfing mich freundlich und hieß mich am Tische Platz nehmen. Es wurde bald gegessen. Nach einer Weile brachte die Bäuerin das Essen. Hefenklöße mit Milch und gebräunter Butter. Das schmeckte ausgezeichnet und man konnte essen, so viel man wollte.

»Wie heißt du denn?« frug mich der Bauer.

»Wenzel,« gab ich mit vollen Backen zur Antwort.

»Nun, Wenzel, nimm dir nur so viel du willst und iß dich richtig satt. Zu schämen brauchst du dich nicht.«

Wir aßen alle, die Knechte und Mägde, der Bauer mit Frau und Kindern, alle an einem Tisch und aus einer Schüssel. Nach dem Essen meinte der Bauer zu mir, heute brauche ich noch keine Kühe zu hüten. Das machten diesmal seine Jungen. Ich sollte aber dort unter dem Schuppen Holz klein hacken. Ich tat es und machte mir dabei hoffnungsvolle Pläne für die Zukunft. Ich war so froh, das Betteln los zu sein, und dann hatte ich es hier viel besser als daheim. Aber meine Freude dauerte nicht lang. Während des Nachmittags kam der Bauer und frug mich, ob ich auch pflügen könne. Ich verneinte dies und ohne etwas zu sagen, ging er wieder fort. Nach einiger Zeit kam er wieder, brachte ein großes Stück Brot, gab mir noch ein Zehnkreuzerstück und sagte, ich könne wieder nach Hause gehen. Ich erschrak, aber es half nichts, ich mußte nach Hause. Meine Pläne und Freude waren zerstört. So trat ich betrübt meinen Heimweg an. Zu einem Bauer kam ich seitdem nicht wieder »dienen«.

Der nahende Winter und das mit diesem zusammenhängende, mir so sehr peinliche Betteln und Harmonikaspielen beunruhigten mich immer mehr. Ich sann hin und her, wie ich am besten mich von diesem unangenehmen Handwerk befreien könnte. In unserem Nachbarhause wohnte einer meiner Schulkollegen. Er war um zwei Jahre älter als ich, und ging nach Koleschowitz in die Zuckerfabrik. Er hieß Franz Brettschneider. Diesen frug ich, ob ich vielleicht in der Fabrik, in der er sei, auch Arbeit bekommen könnte. Er sagte mir, daß zu der Arbeit, die er verrichten müsse, ich noch viel zu schwach wäre. In anderen Abteilungen aber, wo die Arbeit nicht so anstrengend sei, könnte ich vielleicht ankommen. Ich verabredete mit ihm, ihn am nächsten Morgen, wenn er zur Arbeit ginge, zu erwarten und dann mit ihm in die Fabrik zu gehen, um nach Arbeit zu fragen. Die Mutter wußte von meinem Entschluß nichts und sollte auch nichts erfahren, denn ich befürchtete, daß sie mit meinem plan nicht einverstanden sein könnte. Als ich schon im Bett lag und noch einmal darüber nachdachte, sah ich ein, daß sich die Sache doch nicht so leicht ohne Mitwissen der Mutter durchführen lassen werde, wenigstens wenn ich mit Franz gehen wollte. Denn dann mußte ich morgens um 5 Uhr schon marschfertig sein, was sicher der Mutter verdächtig vorgekommen wäre. Ich ging also nicht mit Franz, sondern wartete einen günstigen Augenblick ab, nahm ein Stück Brot mit und schlich mich vorsichtig aus dem Hause. Es mochte etwa sechs Uhr gewesen sein. Im Laufschritt ging's nun nach Koleschowitz. In der Zuckerfabrik suchte ich Franz auf. Er arbeitete im »Spodium« bei den Zylindern. Er führte mich sofort zum Adjunkten, der die Leute einstellt. Wir gingen dabei durch das Maschinenhaus und die Schaumpressenabteilung in das Rübenmagazin.

»Dort, das ist der Herr Adjunkt,« sagte der Franz und wies mit der Hand auf einen Herrn im grauen Anzug, der nicht weit von uns stand. Nun fing mir aber mein Mut an zu sinken. Aber ich bezwang mich, ging zu ihm heran und sprach ihn wegen Arbeit an. Wie ich das herausbrachte, wußte ich selbst nicht. Er sah mich an, von oben bis herunter, lächelte und sagte: »Nun, komm!« Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt nach der Fabrik. Ich hinter ihm her. Dann ging's über eine Treppe, durch den Reibsaal, dann wieder eine Treppe hinauf zu den Rübenschnitzelpressen. Hier angekommen, zeigte er mir, wie ich die großen wagerechten Zahnräder, die die Wellen der Pressen drehen, rein halten solle, damit kein Zahn ausbricht. Dann ging er mit mir noch eine Treppe höher zum Elevator, der die Schnitzel aus einem Kanal nach oben beförderte, und zeigte mir, wie ich die Schnitzel mit der Schaufel in die Presse stopfen solle. Nachdem er mir alles erklärt hatte, ging er fort und ließ mich bei den Pressen.

Diese Arbeit war nun leichter, als die in der Ziegelei. Schwerer wurde sie nur dann, wenn viel Schnitzel auf einmal kamen und die Pressen sie nicht bewältigen konnten. Da mußte ich in einem fort stopfen, der Haufen über den Pressen wurde dann immer größer und größer, die Schnitzel rollten auf die Zahnräder herab, und ich wußte nicht, was ich zuerst tun sollte, ob stopfen oder Räder putzen. Wie oft habe ich, wenn ich die Hände so voll Arbeit hatte, geweint! Zu Hause aber sagte ich nichts davon.

Die nächste Woche hatte ich Nachtschicht. Sonntags wurde die Wechselschicht gemacht; sie währte achtzehn Stunden. Sie begann Sonntags mittag um zwölf Uhr und dauerte bis Montag morgen um sechs Uhr. Unsere Ablöser, die vordem Nachtschicht hatten, begannen ihre Wechselschicht Sonnabend abends sechs Uhr bis Sonntag mittag, und fingen dann am Montag früh die Tagschicht an. Nachtschicht ist stets schlechter als Tagschicht. Zumal in einer solchen Fabrik, wo die Maschinen stampfen, die Räder sausen, Treibriemen klatschten; das klingt so wirr und dumpf durch die feuchtwarme, dicke und süße Luft und man schläft dabei sehr leicht ein. Wurde man aber von den Beamten schlafend angetroffen, dann setzte es eine Menge Grobheiten, auch Geldstrafen oder gar Entlassung.

Doch waren die Beamten in ihrer Art verschieden. Der eine, der Zuckermeister, hatte von zwölf Uhr mittags bis zwölf Uhr nachts Dienst; er war sehr strenge und recht grob, während der andre, der nach ihm Dienst hatte, besser war. Wenn der jemand schlafend antraf, so hielt er ihm ein kleines Fläschchen unter die Nase, und sofort sprang der Schläfer auf, als hätte ihn jemand gestochen. Der Beamte lachte dann und wünschte dem Betreffenden einen »guten Morgen« oder »guten Abend«, je nach der Tageszeit. Ich bekam auch einmal sein Fläschchen zu riechen.

Der Lohn, den ich für meine Arbeit bekam, waren fünfunddreißig Kreuzer täglich. In der langen Woche, die siebeneinhalb Schichten zählte, erhielt ich zwei Gulden und zweiundsechzig Kreuzer; in der kurzen Woche, die nur sechseinhalb Schichten hatte, betrug mein Wochenlohn zwei Gulden, siebenundzwanzig Kreuzer.

Gleich während der zweiten Nachtschicht passierte mir ein Unglück, das mir das Leben hätte kosten können. Ich war eben zur Arbeit gekommen, zog mir die Kleider aus und hängte sie an den Nagel, den ich oben in einen Balken geschlagen hatte. Auf diesem und dem nächsten Balken hinter den Pressen lag die Transmission mit ihren Treibrädern, auf denen die Treibriemen liefen. Ich befand mich neben einem dieser Riemen. Auf einmal ein Ruck / und schon flog ich über die Transmission und wurde an die Mauer geschleudert. Zum Glück fiel ich auf einen breiten Balken, auf dem ich liegen blieb.

Sehr leicht hätte es aber geschehen können, daß ich in die erste Presse fiel, die oben offen und nur von den großen Zahnscheiben halb verdeckt wurde. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe ich mich von meinem Schreck erholte und unter der Welle hervor nach meinem Arbeitsplatz kriechen konnte. Mir war als wären alle meine Glieder gebrochen; überall spürte ich Schmerzen. Gut war noch, daß die Pressen halb leer gingen, denn ich konnte wegen der Schmerzen lange Zeit die Holzschaufel nicht handhaben.

Bei Treibriemen und Rädern waren in der ganzen Fabrik keine Schutzvorrichtungen angebracht. So kam es, daß, während ich mich neben dem offnen Treibriemen auskleidete, meine Sackschürze von dem durch das drehende Rad erzeugten Luftzug hin und her geweht wurde, bis sie von ihm erfaßt wurde und ich auf diese Weise durch die Luft fuhr, und an der Mauer niederfiel. Daß mir so etwas widerfahren konnte, rechnete ich freilich damals meiner Unvorsichtigkeit und meiner Ungeschicklichkeit zu und sagte keinem Menschen etwas davon.

Mit meiner Stellung in der Fabrik war ich viel zufriedener, als wenn ich hätte spielen gehen müssen, wie im verflossenen Winter. Und daß ich keine so gute Kost hatte, wie ich sie unter den Landleuten haben konnte, daraus machte ich mir nicht viel. Ich steckte doch im Warmen und war nicht dem Unwetter ausgesetzt. Und dann hatte ich eine Beschäftigung, mit der ich mich eher sehen lassen konnte und brauchte mich nicht einen Bettelmusikanten schelten zu lassen.

In einer Hinsicht hatte ich es sogar besser als alle die andern, die mit mir in der Fabrik arbeiteten. Mein Ablöser, der um etwa ein Jahr älter war als ich, wohnte in Schanov, außer ihm noch viele andere. Sie hatten bei gutem Weg und Wetter über anderthalb Stunden des Morgens zur Arbeit und des Abends nach Hause zu gehen. Sie taten mir leid, wenn ich daran dachte, daß sie erst um acht Uhr abends nach Hause kamen und morgens schon wieder um halb vier Uhr aus den Federn mußten. Und das für einen Lohn von 35, 40 bis höchstens 55 Kreuzer. Da hatte ich es doch entschieden besser. Ich brauchte nur eine halbe Stunde für meinen Heimweg und war dann zu Hause. Meiner Mutter war es freilich nicht recht, daß ich so eigenmächtig mich in die Fabrik verdingt hatte. Sie nannte es eine Dummheit. Als ich am ersten Abend von der Arbeit nach Hause kam, machte sie zwar nicht viel her, sondern warf mir nur vor, daß ich ihr von meinem Vorhaben nichts gesagt hätte; wozu wäre sie denn die Mutter. Später, als sie einsah, daß mein Spielen doch mehr eingetragen hatte als meine jetzige Arbeit, riet sie mir eindringlich von der »ungesunden Bude« ab. Aber ich blieb standhaft und ließ mich nicht zum Bettelngehen bewegen. Als aber kurz vor Weihnachten der Betrieb wegen der kommenden Feiertage und großen Reinigens eingestellt wurde, blieb mir doch nichts übrig, als meine Harmonika wieder umzuhängen, solange bis es in der Fabrik wieder los ging.

In der Abteilung, in der ich arbeitete, waren außer mir noch zwei Jungen beschäftigt. Einer bei der Rübenschneidmaschine, der andere beim Kalkbottich. Jeder von uns mußte den Fußboden seiner Arbeitsstelle kehren und wenn es nötig war, auch scheuern. Die Bürste und den Scheuerlappen, den man dazu brauchte, mußte man sich aus dem Magazin, das sich über dem Rübenmagazin gleich neben dem Laboratorium befand, holen. Die Sachen wurden immer von dem Beamten, der eben Dienst hatte, ausgegeben und mußten an diesen wieder abgeführt werden. Bei mir war nun auch das Scheuern wieder einmal nötig und so gab ich denn acht, bis der Adjunkt nach dem Laboratorium ging, um mir von ihm Bürste und Lappen geben zu lassen. Den Dienst hatte eben jener mit dem Riechfläschchen. Endlich sah ich ihn vorüberkommen, konnte ihm aber nicht sofort nachgehen, da ich erst die Zahnräder reinigen mußte, damit nichts passiere. Als ich dies besorgt hatte, lief ich nach dem Laboratorium. Aber hier war der Beamte nicht mehr. Ich vermutete ihn im Magazin und lenkte meine Schritte dorthin. Die Tür war nicht zugeschlossen wie sonst, sondern nur angelehnt. Ich öffnete sie und trat ein. Aber das Bild, das sich mir hier bot, hatte ich nicht vermutet! Ich hatte den Beamten mit der schönen Marie von Nouzov in einer sehr verfänglichen Situation überrascht. Der Adjunkt sprang auf, und schrie vor Wut ganz rot im Gesicht: »Was willst du? Marsch hinaus, du Saujunge!« Schneller als herein bin ich hinausgekommen. Ohne nach links oder rechts zu sehen, rannte ich durch den Reibsaal, die Treppe hinauf zu meinem Arbeitsplatze. Dort angekommen, setzte ich mich auf den unteren Balken der Transmission und barg mein Gesicht in den Händen; das Blut stieg mir zu Kopf, mir war, als müßte ich ersticken. Ich schämte mich vor mir selbst. Und dann sagte ich mir, daß sich der Beamte an mir rächen und mich bei der geringsten Gelegenheit entlassen werde. Aus dem Scheuern wurde am Vormittag nichts; ich verschob es auf den Nachmittag bis der andere Beamte Dienst hatte. Aber auch die andere Arbeit freute mich nicht mehr, und ich fürchtete mich vor der nächsten Begegnung mit dem Adjunkten. Ich hatte nun große Angst vor ihm. Und dann sah ich immer noch im Geiste, wie die schöne Marie auf dem Haufen leerer Säcke lag, halb entblößt, und wie sie rasch aufsprang, als ich erschien. Also die! Sie wohnte in Nouzov und mußte durch unser Dorf gehen, wenn sie nach Hause oder zur Arbeit ging. Wenn ihr unterwegs oder in der Fabrik die Erwachsenen ein zweideutiges Wort sagten, so tat sie sehr verschämt und unschuldsvoll. Sie wurde deshalb von den Burschen die Heilige genannt. Und diese »Heilige« hatte sich im Magazin mit dem Adjunkt vergangen.

Mir wurde nun auf einmal klar, warum die Beamten sich so ausnahmsweise freundlich benehmen konnten. Wir, die männlichen Arbeiter, wurden bei weitem nicht so zuvorkommend behandelt wie die Mädchen. Ich begriff nun, warum die Beamten die Mädchen im Vorübergehen anlachten, kitzelten, kniffen, und ich erinnerte mich auch einmal, als ich Trinkwasser holen ging, wie einer von den Herren die große, dicke Pepi von Schanov in der Ecke hinter dem Robertusapparate streichelte und in die Wangen kniff. Und ein anderer das Mädchen, das das Essen für die Beamten aus dem Wirtshaus brachte, mit du anredete. Mir tat es in der Seele weh, daß es gerade Marie war, die ich im Magazin antraf. Sie war sonst so still, gar nicht so ausgelassen wie die andern. Auch hörte man nicht solche rohe und zweideutige Reden und Ausdrücke von ihr, wie man sie sonst von den jungen Arbeiterinnen zu hören bekam. Sie zog sich von allem zurück und ließ sich lieber von den anderen eine Heilige spotten. Und doch war sie es nicht! Sonst plauderte sie immer gern mit mir, wenn wir uns auf dem Wege zur Fabrik oder nach Hause begegneten. Seit jenem Tage aber wich sie mir aus, so oft sie an mir vorbeigehen sollte, und wenn sie mir in der Fabrik oder auf dem Heimwege nicht ausweichen konnte, so sprach sie nicht mehr mit mir, sondern senkte den Blick zur Erde, um mir nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Sie schämte sich. Mir aber tat sie leid. Als ich später einmal nach langer Zeit dem Franz Brettschneider erzählte, was ich gesehen und ihn bat, es nicht weiter zu sagen, da gab er mir gelassen zur Antwort: »Ach, so etwas ist nichts Neues. Und weißt du, warum das so eine macht? Sie kann dann in der Fabrik machen, was sie will, wird von den Herren nicht sekkiert, beschimpft, bestraft und steht sich gut. Solche Mädchen bekommen auch mehr Lohn als die andern, die so etwas nicht mitmachen. Schließlich geben ihnen die Herren auch noch schönes Geld. Woher hätte denn so manche ihre schönen Kleider?« Darauf sagte ich nichts; daran hatte ich nie gedacht.

In der zweiten Hälfte des Februars nahte die Kampagne ihrem Ende. Eines Morgens, wir hatten eben Nachtschicht, da hieß es: Die Rüben werden noch bis zur nächsten Nacht reichen. Die Burschen und Mädchen, die wußten, daß ich Harmonika spielen konnte, redeten mir zu, diese zur nächsten Schicht mitzubringen. Sie wollten das Ende der Zuckerkampagne festlich mit Musik und Tanz abschließen. Ich tat es denn auch und etwa eine Stunde vor dem Schluß wurde ich von allen aufgefordert, zu spielen. Ich begann und bald drehten sich alle nach meinen Klängen. Die Schlosser, die Diffuseurenten, die aus der Saturation, kurz alles tanzte im Reibsaale. Der Adjunkt lachte dazu und ein Mädchen holte sich ihn sogar zum Tanz. Und als dieser wirklich mittanzte, da ging der Jubel und der Lärm erst recht los. Ich aber mußte wieder spielen und konnte nicht an dem Vergnügen teilnehmen.

Als dann der letzte Schienenwagen voll Rübenschnitzel von der Schneidemaschine geholt wurde, bekränzten ihn die Arbeiter mit Reisern. Dann wurde er langsam zum Diffuseur geschoben. Arbeiter und Mädchen sangen dabei. Ich ging mit meiner Harmonika hinterdrein und begleitete den Gesang mit meiner Musik. Als dann der Wagen ausgeleert war, begann das Tanzen von neuem und dauerte bis Mitternacht. Dann kam der andere Beamte. Ich saß immer noch auf der Treppe und spielte, während die übrigen tanzten. Da kam jener quer über den Saal, schritt durch die Tanzenden hindurch zu mir und riß mir meine Harmonika aus den Händen. Dann verschwand er mit ihr im Laboratorium. Und das alles ohne ein Wort zu sagen. Wir waren über die unerwartete Wendung ganz verblüfft, sahen traurig und enttäuscht dem Beamten nach. Mit dem Vergnügen war es nun vorbei. Ein jeder verkroch sich in irgendeinen Winkel, um die übrigen Stunden zu verschlafen, und am Morgen, wenn es Tag geworden, nach Hause zu gehen. Nur ich schlief nicht, sondern saß hinter dem Saturationskessel und dachte darüber nach, was jener wohl mit meiner Harmonika anfangen wolle. Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein, als ich ihn aus dem Laboratorium meinen Namen rufen hörte. Ich lief hin; er gab mir mein Instrument wieder zurück und verlangte, ich solle ihm ein Stück vorspielen. Ich wollte es auch recht gern tun. Aber wie? Zwei Tasten waren abgebrochen und ohne diese ging es nicht. Er besah sich den Schaden, den er angerichtet hatte, und sagte: »Na, das ist nicht schlimm. Die kannst du dir morgen wieder ankleben.« währenddem gab er mir einen Zwanziger. Ich legte mich dann auch hin und schlief bis zum Morgen. Am zweitnächsten Tag sollten wir uns den letzten Lohn, den wir noch zu bekommen hatten, holen. Einer nach dem andern kam an, um sich seine paar Kreuzer geben zu lassen und jeder frug da den andern: »Was machst du nun?« oder »Was wollen wir nun anfangen?« und jeder erhielt als Antwort nur ein Achselzucken. Das war ein trauriger Tag. Denn in der ganzen Umgebung gab es keinen Schlag Arbeit mehr zu tun. »Wovon sollen wir jetzt leben?« hörte ich von denen, die verheiratet waren, mit sorgenvollen Gesichtern fragen. »Es war nicht viel, was man hier verdiente, aber es war doch besser als gar nichts,« klagte ein anderer. Und so ging es fort, bis endlich der Kassierer kam, und das Auszahlen begann. Auf allen Gesichtern war Kummer und Sorge zu lesen. Sie alle fürchteten die unsichere, verdienstlose Zeit. Ich hatte zwar keine Sorge und Angst, daß ich etwa nichts zu tun oder zu essen haben würde. Ich wußte ganz bestimmt, daß ich wieder mit der Ziehharmonika von Haus zu Haus und von Dorf zu Dorf ziehen mußte, um mir mein Brot zu verdienen. Da ich aber zu diesem Bettelhandwerk noch immer keine Lust hatte, so wäre es mir ebenfalls recht lieb gewesen, wenn die Arbeit in der Fabrik noch länger gedauert hätte.

Und so wie ich vorausgesehen, kam es. Denn in der Rakonitzer Zuckerfabrik, in der mein Vater arbeitete, war auch alles zu Ende. Der Vater kam also heim und war nun auch arbeitslos. Doch hielt er sich nicht lange zu Hause auf. Bald ging er mit noch mehreren Männern fort, nach Sachsen, um dort Arbeit zu suchen. Als er ging, sagte er zur Mutter, daß er, falls er für mich Verwendung finden sollte, schreiben würde. Ich könnte dann mit jemandem, der auch nach Sachsen ginge, mitreisen. Ich aber nahm wieder meine Harmonika und verdiente mit ihr soviel wie wir alle zum Leben brauchten. So mußte ich die Stelle des Vaters als Ernährer der Familie vertreten. Ich machte zwar keine lange Touren mehr, mußte aber einen Tag wie den andern spielen gehen. Dabei tröstete mich immer ein Gedanke: ich hatte Aussicht, dieses Geschäft bald wieder los zu werden, sobald der Vater Arbeit für mich finden würde. Aber schon hatte der Vater zwei Briefe geschickt; jedoch noch kein Geld, und auch keine Erwähnung, ob ich nachkommen sollte. So begann meine Hoffnung allmählich zu sinken.


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