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Bay View, 19. August 1900.
Gleich nachdem die erste sichere Nachricht kam, habe ich Ihnen telegraphiert und Sie gebeten, mir sofort Nachricht zu geben, denn ich muß es von Ihnen selbst hören, daß Sie gerettet sind, muß mein eigenes Telegramm von Ihnen in der Hand halten können, ein Wort des Glücks, für mich allein bestimmt, in dem großen Jubelklang, der durch die Welt tönt.
Nun warte ich – o, wie ich warte! – auf die erste Kunde, die von Ihnen wieder zu mir dringen wird, nach der langen, langen Zeit.
Dieser Brief soll erst abgesandt werden, wenn ich Ihr Telegramm habe – denn ich werde ihn ja gar nicht mehr nach Peking zu schicken brauchen. Sicher reisen Sie doch gleich von dort ab. Was soll Sie denn auch hindern, wenn ich Sie rufe – und ich rufe Sie, liebster Freund, rufe Sie mit solcher Sehnsucht, daß Sie es fühlen und hören müssen, wo Sie auch sind und durch die dicksten chinesischen Mauern hindurch!
20. August 1900.
Ich bin so ungeduldig. Kann das Warten auf Ihr Telegramm kaum mehr ertragen. Dann beruhigt mich mein Bruder und erklärt mir immer wieder, daß jetzt Telegramme viel langsamer als sonst nach Peking gehen. Ich sehe es ja auch ein, daß es gar nicht anders sein kann, und sicher warten viele Menschen jetzt gerade so wie ich auf ein paar liebe Worte und müssen sich auch gedulden, wie ich – und dann denk ich doch immer wieder, dies eine einzige kleine Telegramm könnte doch recht schnell durchgelassen werden, denn es trägt so viel Glück in sich, daß es den Vorrang vor allem andern auf der Welt verdient!
21. August 1900.
Heute, liebster Freund, fühle ich, daß ich ganz sicher von Ihnen Nachricht bekommen muß, und dann soll der Brief gleich abgehen. Er soll Ihnen sagen ...
Zuerst waren mir die Worte ein leerer Schall. Sie bedeuten gar nichts. Erst ganz langsam hab' ich sie verstanden. Die See draußen rauscht weiter, und die Wellen schlagen gegen den Strand – ganz so wie vorhin in der blaßfernen Zeit, da ich die Worte noch nicht vernommen. Er wird das Rauschen nie mehr hören. Bedeutet es das, wenn sie sagen, daß er tot ist? Und der Brief an ihn liegt begonnen vor mir ... Er wird ihn nie mehr lesen. Ist es das, was sie damit meinen, daß er tot sei? Heißt es, daß nichts von mir ihn je noch erreichen kann ? Daß die ganze Welt für ihn nicht mehr ist, daß ich für ihn nicht mehr bin, weil er selbst nicht mehr ist? Heißt es das?
Ich höre nur immer dieselben Worte – er ist nicht mehr. Zuerst verstand ich's nicht – nun ist es alles, was ich noch weiß. Die Worte füllen die Welt – alles andere ist versunken.
Hätte ich ihn doch nur ein einziges Mal noch sehen können! War ich doch wenigstens zu allerletzt bei ihm gewesen! Daß er da allein sein, allein sterben mußte! Seine Verlassenheit ermaß ich an der eigenen Vereinsamung, seinen Jammer an meinem Jammer.
Jahrelang hat er mich umgeben mit Zartheit und Fürsorge, hat mich geliebt – wie sehr, weiß ich erst jetzt – ich durfte damals ja gar nicht dran denken – mußte vorbeigehen – wo er mir sein ganzes lieben gab.
Ach, gäb es doch nur eine Stunde, von der ich mir jetzt sagen könnte, die habe ich ihm ganz geschenkt, deren hat er sich mit den allerletzten Gedanken sicherlich noch erinnert!
Hätte ich doch selbst den Trost solch einer einzigen Erinnerung!
Aber nichts durfte ich ihm sein. Nicht einmal in seiner letzten Stunde konnte ich bei ihm sein. Allein mußte er sterben.
Hätte ich ihm doch nur ein einziges Mal noch sagen können: »Nicht wahr, Du hast es doch immer gewußt, wie sehr ich Dich geliebt?«
Ach, daß ich doch bei ihm unter der Erde ruhte! –
Ich sehe immer nur ein endloses Trümmerfeld – wie öde der Weg, der nirgends hinführt – das war mein Leben.
Wie Erinnerungen unzähliger Existenzen steigt es in mir auf. In ihnen allen war er, war ich. Wir wissen es nur nicht mehr. In ihnen allen haben wir uns gesucht, ich fühl' es dunkel. Aber fanden wir uns je dauernd? Oder war es immer nur wie staunendes Erkennen und rasches Auseinandermüssen?
Müde bin ich, müde wie von unzähligen Existenzen. Möchte tief schlafen. Aber traumlos, von nichts mehr wissen.
Ach, daß zwischen dem Gehendürfen und Wiederkehrenmüssen doch eine lange Zeit tiefer Ruhe läge!
Wie langsam doch die Stunden schleichen in den langen, qualvollen Nächten. Das fortwährende Grübeln, ob es nicht zu verhindern gewesen wäre, wenn ich dortgeblieben wäre.
Jetzt weiß ich, warum wir fort sollten: ich sollte gerettet werden, denn ihm ahnte wohl schon damals vieles.
Aber was sollen Welt und Leben ohne Dich? Und wenn Du es tausendmal nicht willst – Du ziehst mich Dir doch nach. Unsichtbare, unzerreißbare Fäden ketten uns aneinander seit Uranfangszeiten. Und ich folge Dir, weiß schon oft kaum, ob ich noch hier bin. Das ist der einzige Trost.
Seitdem ich von Dir getrennt bin, lebe ich ja nur scheinbar hier, eigentlich ganz woanders. Bei Dir. In jener Stadt, wo wir während Deines Lebens zusammen waren und in noch ferneren weiteren Landen. Überall, wo Du hier auf Erden geweilt, haben Dich meine Gedanken begleitet, auf allen Reisen waren sie mit Dir – ich habe durch die Sehnsucht so ganz bei Dir gelebt, daß ich Orte kenne, in denen ich nie gewesen. Endlose Ebenen habe ich mit Dir durchzogen, wilde Felsenpässe habe ich neben Dir überschritten, steile Berge sind wir zusammen emporgeklommen, im Dunkel sagenhafter Tempel habe ich mit Dir gestanden, mit Dir uraltem Weisheitsspruch gelauscht. – Das war mein eigentliches Leben, dort bei Dir war stets mein wahres Ich.
Nun bist Du noch viel weiter fortgezogen zu allerfernsten Stätten. Aber auch dahin folg' ich Dir. Ich muß Dir durch alle Zeiten schon so gefolgt sein, seit es Leben und Willen gab. Und geht Dein Weg durch die Weltenräume, zu anderen Erden, Monden und Sonnen, durch tiefe Nacht und weißglühende Helle – ich folge Dir – ich kann nicht anders!
Mich dünkt, als lag' ich hier seit vielen Wochen. Und es sollen doch nur wenige Tage sein. Raum und Zeit verschwimmen für mich. Die Minuten enthalten so endloses Leid, so verzehrende Sehnsucht, daß ich sie mühsam wie Ewigkeiten durchlebe. Vergangenes scheint so nahe, daß ich mit der Hand danach greife ... aber die Hand selbst verschwimmt ... das Fußende des Bettes schiebt sich in unendliche Weiten ... ich sehe den eigenen Leib nicht mehr ... er ist zur ganzen Welt geworden ... und schmerzt ... schmerzt vom ganzen Weltenweh.
Ich kann die Feder kaum halten ... alles verwirrt sich ... und alles schmerzt ... immer ärger. Kälte ... Finsternis. Ich kämpfe gegen das Dunkel ... das Grauen. Ich will, will, will – bei klarem Bewußtsein sterben. Keine Angst – keine Verzerrungen ... der Abgrund ... das Entsetzen! ... aber doch ... Freude! ... Freude! ... zu Dir.
Warum haben sie mich noch einmal geweckt? Warum die Qual noch verlängert? Ist es denn noch nicht genug? Ich schlief schon ... hielt Deine Hand ... es schien ... vollbracht ... und nun? ... ich finde Dich nicht mehr ... wo ... wo war es doch? ... warten ... immer wieder warten ... und dann? .. . nichts? ...