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42.

New York, 19. Juni 1900.

Die Taku-Forts sind eingenommen.

Das muß doch die Chinesen einschüchtern! Und nun wird doch sicher die Entsatzkolonne, die Admiral Seyrnour führt, bald in Peking anlangen oder vielleicht schon dort sein. Ein paarmal wurde ihre Ankunft schon gemeldet, dann aber widerrufen.

Aber wie ist es denn nur alles möglich? Das fragen wir uns immer wieder. Etwas Traumhaftes hat das Ganze, und man ringt, endlich erwachen und all den nächtlichen Spuk abschütteln zu können. Wenn ich an unsere stillen monotonen Pekinger Jahre zurückdenke, sage ich mir oft, »dies ist ja alles nur ein verrücktes Märchen, an das niemand glauben kann«. Über wie vieles wurde doch in China geklagt! Über Hitze, Staub und Moskitos, Überarbeitung, Ärger durch das eigensinnige Tsungli-Yamen oder über die großen Herren zu Hause, denen China ein Buch mit fünf Siegeln ist und die doch alles besser wissen wollen. Aber daß Gefährdung der persönlichen Sicherheit je zum Gegenstand gerechter Beschwerde gegen das Schicksal und die Chinesen werden könnte, wäre keinem in den Sinn gekommen. Unmöglich wäre es uns allen erschienen, und was wir jetzt hören, klingt kaum glaublich – aber wenn ich dann die Zeitungen mit den groß und fettgedruckten Telegrammen sehe und höre, wie alle Menschen nur von China reden – dann weiß ich, daß das Abenteuerliche, Wildeste und Unwahrscheinlichste in unsern Tagen Wahrheit geworden ist.

Wir haben die Chinesen nur als arme, gedrückte Menschen gekannt! Knechtung, Erpressung und Ungerechtigkeit, wie auch große verheerende Naturkatastrophen schienen sie geduldig zu tragen; vielleicht sahen sie in ihnen nur die verhältnismäßig gleichgültigen Begleiterscheinungen des einen großen Übels, des Lebens. Jahrhundertelang sind sie gezüchtet worden in einem System, dessen Erpressung, Ungerechtigkeit und Betrug so recht auf der ewigen Trägheit und Feigheit der großen Massen beruhen. Jeder hatte dort immer Mächtigere zu versöhnen, umzustimmen, zu erkaufen. Die einzige Erleichterung und Rettung vor der ungeheuren Last war schlaue Überlistung der Bedrücker. Wie so oft in menschlichen Verhältnissen, knechtet dort der Stärkere den Schwächeren und wird dafür von ihm hintergangen. Leicht zu befriedigen schienen mir eigentlich die Chinesen, verlangten nicht mehr, als daß die paar Kupfermünzen, die sie täglich verdienten, ihnen nicht von einem ihrer Peiniger abgerungen würden; daß dies aber oft vorkommen muß, sahen sie alle als alte Weltenregel an, in die man sich philosophisch fügt, wenn man sie nicht listig zu umgehen weiß. Arme, durch Bedrückung schlau und gemein gewordene Menschen, deren Geist viel mehr nach kleinen Schleichwegen, spitzfindigen Verdrehungen und Betrügereien als nach großen Taten zu sinnen schien. Und sie alle sollen mit einemmal zu rasenden Kämpfern geworden sein, die es mit den Herren der Welt aufnehmen wollen ?

Ein Rätsel im rätselreichen China.

Seltsam klingt es uns auch jetzt, in hiesigen Zeitungen zu lesen, daß diese selben so elend und stumpf dahinlebenden Chinesen eigentlich Wesen von erstaunlich nervöser Anlage seien, die von Fanatikern hypnotisiert wurden zu wildem Fremdenhaß und blindem Glauben an eigene Unverwundbarkeit und Siegesgewißheit. Mir aber will es scheinen, daß diese Hypnotiseure vor allem ihre Kraft an den Fremden in Peking ausgeübt haben müssen, sie in wunderbaren Sicherheitswahn wiegend.

Miß Tatiana besucht mich häufig und hält lange Reden, in denen sie alle Ministerien der verschiedensten Länder zur Verantwortung zieht. Silberstein traf bei mir mit ihr zusammen und meinte nachher: »Das ist eine Dame, die einen Band Junius-Briefe schreiben sollte.«

Die beiden verhandelten lange über die chinesischen Ereignisse, und Miß Tatiana kam immer wieder darauf zurück, warum nichts von alledem von den angelsächsischen Staatsmännern, denen sie ihr Leben lang vertraut, vorgesehen worden sei.

Der Journalist meinte: »Ja, die Nachrichten aus China sind freilich so recht geeignet, die Fundamente des Glaubens an vorausschauende Staatsweisheit stark zu erschüttern. Aber es wird überhaupt viel weniger geplant und gelenkt, als man uns im Geschichtsunterricht lehrt. Die größten Ereignisse kommen meist unerwartet. Man hat sich treiben lassen, ohne viel zu fragen, wohin, und steht plötzlich vor überraschenden Tatsachen. Das landläufige Heroentum besteht dann eigentlich nur immer darin, sich mit Geschick aus Schwierigkeiten zu ziehen und es nachträglich so darzustellen, als habe man alles vorausgesehen.«

»Aber«, fragte Miß Tatiana, »hat man denn nicht von Anfang erkannt, daß diese fremden- und fortschrittsfeindliche Partei unseren kommerziellen Interessen notwendigerweise großen Schaden zufügen muß? Warum hat man sie überhaupt je so anwachsen lassen?«

»Um sie erfolgreich zu bekämpfen,« antwortete er, »hätte man sich offen zum Kaiser und zu seinen Reformfreunden bekennen müssen. Es gab vielleicht einen Moment, wo man das gekonnt hätte. Aber dazu hatte niemand den Mut und niemand sah wohl ein, wieviel auf dem Spiele stand. Die Schicksalsstunde für China war der Staatsstreich der Kaiserin-Witwe im September 1898. Daß damals die ganze Welt zuschaute, wie aller Fortschritt vertilgt wurde, nachdem er so lange gepredigt worden war und endlich eine Partei eifriger Bekenner gefunden hatte, und daß man zuließ, daß die finstere Reaktion an seine Stelle trat – das rächt sich heute, denn es rächt sich immer, aus Bequemlichkeit und Angst vor Komplikationen wissentlich das Höhere unterdrücken zu lassen, so schlau es auch im Moment erscheinen mag, Einmischungen zu vermeiden. Wer heute von idealen Gesichtspunkten in der Politik redet, begegnet nur mitleidigem Achselzucken, und doch wäre die Macht, die damals für das ideale Streben der Reformpartei eingetreten wäre, heute wohl die führende in China, und die unvermeidlichen anfänglichen Schwierigkeiten, denen sie begegnet wäre, hätten sicher nicht die Tragweite des Konfliktes angenommen, dessen kleines Vorspiel wir eben erst erleben. Die Vereinigten Staaten hätten diese Rolle übernehmen können, um so mehr, als sie China gegenüber reine Hände haben. Aber um solche Entschlüsse fassen zu können, gehören große, leitende Gedanken – und der Laden, wo Ideen für Staatsmänner und Diplomaten und Bücherstoffe für Autoren verkauft werden, existiert leider noch immer nicht.«


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