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New York, den 22. Juni 1900.
Lieber Freund! In diesen Zeiten wachsender Angst und Sorge denke ich so unablässig an Peking und an alles, was sich dort zutragen mag, daß es mir oft ist, als sei ich selbst dort und ich mich kaum noch erinnere, wo ich mich in Wirklichkeit befinde. Redet mich jemand an, so fahre ich auf, wie aus einem Traume gerissen und muß mich erst wieder besinnen auf die mich umgebende Welt. Stundenlang liege ich nachts wach und sinne nach und suche durch die Gewalt des Willens den Schleier zu lüften, der undurchdringlich zwischen uns liegt. Ich lausche, ob durch das tiefe Schweigen nicht doch eine einzige Stimme dringt, die mir Kunde brächte. Und dann am Morgen das fieberhafte Warten, bis die Zeitungen kommen, der jedesmalige sichere Glauben, heute müssen sie erlösende Nachrichten erhalten – und das jedesmalige Zusammensinken aller Hoffnung, die bittere Enttäuschung – immer das gleiche tiefe Schweigen.
Bilder aus jenen vergangenen Zeiten ziehen unablässig an meinen Augen vorbei, und ich möchte jede kleinste Erinnerung an all die damaligen Ereignisse festhalten, wenn sie auch anderen gleichgültig erscheinen – sind sie doch meine Schätze – das einzige vielleicht, was mir geblieben. Als ob von einem alten verblaßten Gemälde der Staub gewischt würde und man nun die Züge wieder gewahrt, so fällt mir tausend Vergessenes ein. Die Geschichte jener Jahre, in denen wir uns trafen und kannten, rollt sich wieder vor mir auf, und beständig glaube ich zu sehen, wie Sie mich aus den Tiefen der Vergangenheit anschauen.
Beim ersten Anblick mancher Menschen habe ich die dunkle Empfindung gehabt, sie früher schon gekannt zu haben, obschon ich doch genau wußte, daß ich sie in diesem Leben zum erstenmal sah. Wo, wann mochten wir uns wohl getroffen haben? Was war es, das uns früher einmal vereinigt hatte und woran die Erinnerung mich plötzlich leise zu mahnen schien? Niemals habe ich das so sehr empfunden, lieber Freund, als an dem Tage, da ich Sie zum erstenmal sah.
Erinnern Sie sich dessen noch?
Es war bei einem Diner in Peking, im Hause des langjährigen Gesandten von ***, eines der letzten Repräsentanten jener alten politischen Schule, die noch an die unüberwindliche Macht Chinas glaubte und in der Behandlung dieses asiatischen Völkergebildes als ebenbürtigen Großstaates eine Befriedigung der eigenen Diplomateneitelkeit fand.
Ich entsinne mich, daß, als mein Bruder und ich eintraten, die meisten Gäste schon versammelt waren. Der Hausherr erklärte gerade einem neu eingetroffenen Kollegen die verwickelte Frage der Audienzen fremder Gesandten beim Kaiser von China. Er wurde ganz wehmütig über die immer neuen Zugeständnisse, die die Gesandten in der Art ihres Empfanges erlangt hatten, und man merkte ihm an, daß er innerlich ganz auf Seiten der Chinesen stand, denn es gewährte ihm eine unendliche Genugtuung, an einem Hofe akkreditiert zu sein, was man bei Republikanern ja mitunter findet, und er nahm es persönlich übel, wenn man diesen seinen Spezialhof nicht so recht als voll gelten lassen wollte. Als ich ihn einmal unmittelbar nach solch einer Audienz traf, sagte er mir würdevoll: »I have just been in the presence of Royalty.«
Ein Stab junger Dolmetscher umgab den alten Gesandten. Mit ihrer Hilfe richteten die Fremden einige Sätze an einen Minister des Tsungli Yamen, eine lebende Mumie, die sich unter den Geladenen befand und kein Wort einer europäischen Sprache kannte. Auch zwei jüngere Chinesen waren zugegen; sie trugen über langen, seidenen Gewändern weitärmelige Jacken aus zart gefärbtem Damast und auf dem Kopf schwarze Atlas-Käppchen, mit einer großen Perle über der Mitte der Stirn. Offenbar Pekinger Gigerl! Sie wurden mir als Marquis Tschiao fenglo und Bruder vorgestellt, die sehr gut Englisch könnten. Ich redete den einen, der mir der ältere schien, als Marquis an, erhielt aber die Antwort: »my brother he be Marquis, me be plain Esquire.« Im verblüffendsten Pidgin-Englisch erklärten mir dann die Brüder, daß der ältere nur ein adoptierter Sohn des verstorbenen Marquis Tschiao sei. Während sie mir noch die verwickelte Frage von Adoption in China zu erklären suchten, trat unser Wirt an mich heran.
Sie folgten ihm.
Er stellte Sie vor.
Und sobald ich zu Ihnen aufschaute, hatte ich die ganz bestimmte Empfindung, Sie früher schon gekannt zu haben – und ich wußte doch ganz genau, daß ich Sie zum erstenmal erblickte. Es war ein ganz seltsames Gefühl. Mir war, als stände ich an jener Tür, die für uns verschließt, was wir gewesen vor diesen paar kurzen Erdenjahren, für die unser schwaches Gedächtnis gerade mühsam reicht – und mit Anstrengung aller Fähigkeiten des Denkens und Erinnerns suchte ich diese Tür für einen Augenblick spaltenweit zu öffnen.
Bei dem Diner saßen Sie ziemlich weit von mir, wenn ich mich aber etwas vorbog, konnte ich Sie mir schräg gegenüber erblicken. Immer wieder fragte ich mich »Wann? Wo?« Ein paarmal gelang es mir auch in dem Schwirren und Summen der allgemeinen Konversation den Ton Ihrer Stimme zu vernehmen, und der klang mir so wohlbekannt, als hätte ich ihn jahrelang gehört.
Nach Tisch sprachen wir lange zusammen, und mit jedem Augenblick erschienen Sie mir bekannter und vertrauter, und es dünkte mich, als läse ich auch in Ihren Augen ein staunendes Wiedererkennen.
Ich hatte ja seit unserer Ankunft in Peking viel von Ihnen gehört, von Ihren merkwürdigen, abenteuerlichen Reisen in Teilen Chinas, die kaum je von Europäern betreten werden, von Ihren wunderbaren Sammlungen, von Ihren Freundschaften mit den Lamas entlegener Klöster, die nie mit andern Fremden sprechen, Sie aber dank Ihren buddhistischen Studien beinahe als einen der Ihrigen ansahen. Ich war natürlich sehr gespannt gewesen, Sie kennenzulernen, aber was ich empfand, als ich Sie nun wirklich sah, hatte nichts mit dem zu tun, was ich von den Umständen Ihres jetzigen Lebens gehört – die Wurzeln dieses Gefühls des Wiederfindens mußten weit zurückgreifen in graue Fernen längst vergessener Zeiten.
Auf dem Heimweg in dem blauen zweirädrigen Karren, der auf der holprigen Straße wie ein Schiff im Sturme schwankte und den das Maultier oft nur mit äußerster Anstrengung aus den fußtiefen Löchern herausziehen konnte, und später in meinem kleinen schmucklosen Zimmer des Hotel de Pékin – immer wieder fragte ich mich: »Wann? Wo?«
Aber an jenem Abend fand ich keine Antwort.